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1 Gewalt der Archive2 Thomas Weitin ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Literatur im europäischen Kontext ...

Gewalt der Archive

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Thomas Weitin ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Literatur im europäischen Kontext an der Universität Konstanz. Burkhardt Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literaturwissenschaft/Kultur und Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Thomas Weitin, Burkhardt Wolf (Hg.)

Gewalt der Archive Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung

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Gefördert mit Mitteln der DFG und mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration. Umschlagabbildung: Piles of documents are seen at the former National Police Bomb Disposal Unit headquarters in Guatemala City on March 25, 2009. The References Service on Human Rights Violations with some 12 million documents from the archives of the dissolved National Police (PN) containing information on abuses committed during Guatemala’s civil war (1960-1996). © EITAN ABRAMOVICH/AFP/Getty Images

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2012 Konstanz University Press, Konstanz (Konstanz University Press ist ein Imprint der Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) www.fink.de | www.k-up.de Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-86253-024-3

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Inhalt

Einleitung Gewalt der Archive Zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung Thomas Weitin und Burkhardt Wolf

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I. ARCHIVE DES RAUMS Neapel Archivkunst und Antiarchiv Sergio Corrado

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Das Archiv als Rüstkammer Die spirituelle Gewalt des archivum ecclesiae Remensis Christian Jaser Schiffbruch mit Bergung Archive und Archäologien nautischer Kultur Burkhardt Wolf

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Archive und Geschichten des »Deutschen Ostens« Zur narrativen Organisation von Archiven durch die Literatur Niels Werber

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II. POLITIKEN DES ARCHIVS Sensible Daten Das Universalarchiv der Sterne und die frühneuzeitlichen Horoskopsammlungen Orazio Morandis, Johannes Keplers und Placido Titis 115 Sabine Kalff Das Revolutionsarchiv von 1789 und das Problem der Geschichtsschreibung 141 Gernot Kamecke

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Inhalt

Zeugnis, Archiv, Gewalt Die ungarische Staatssicherheit und Péter Esterházys Verbesserte Ausgabe Csongor Lőrincz Vom Archiv erzählen Protestliteratur in der »Kontrollgesellschaft« Martin Jörg Schäfer

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III. ARCHIVE DES MENSCHEN Der Fall der Folter – ein Diskurs aus Akten Eine Räubergeschichte aus der Frühen Neuzeit als Medium historischer Gewaltdarstellung 211 Thomas Weitin Die Archivfunktion in der Psychiatrie (Kraepelin, Jaspers) Armin Schäfer Der Messieianismus und sein Preis Daniel Tyradellis Das Archiv der Genesis Henning Teschke

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IV. OPERATIONEN DES ARCHIVS Attentäter im Archiv Von den Archiven des Desasters zum Desaster des Archivs Knut Ebeling

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Kommentare als Archiv Relektüren der Genesis von Lucas Cranach und Martin Luther Beate Fricke

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Das Archiv des Gesellschaftsvertrags Zur Aktualisierung einer Rechtsfigur von Hobbes’ Leviathan bis zu Kleists Michael Kohlhaas 345 Sigrid G. Köhler

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Inhalt

Linkspeicher Google Zum Verhältnis von PageRank und Archäologie des Wissens Ulrike Bergermann

Über die Autorinnen und Autoren Abbildungsnachweise Namenregister Sachregister

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Einleitung Gewalt der Archive Zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung Thomas Weitin und Burkhardt Wolf

Archive sind keine neutralen Speicher. Nehmen sie Daten oder Schriftstücke auf, dann um eines Wissens willen, das – sei es bereits heute, sei es erst in ferner Zukunft – als politisch, rechtlich oder historiographisch relevant gelten kann. Mit der Archivierung, d. h. mit der Auswahl bestimmter Material- und Datenbestände, mit deren Sammlung und Ordnung, wird etliches allererst zugänglich gemacht und alsdann verfügbar gehalten. Im selben Zuge wird jedoch aussortiert. Und auch das, was aufgenommen wurde, bleibt weitgehend unter Verschluss. Archive haben deshalb auf der Ebene der Selektion, der Klassifikation und Disposition eine ebenso konservatorische wie generative Funktion, denen je eine spezifische Gewaltsamkeit eigen ist. Obschon sie zunächst nichts weiter als eine Infrastruktur darzustellen scheinen, der Massen an Urkunden und Dokumenten, Daten und Akten übergeben werden, ist ihre Institutionalisierung ein wissenspolitischer Akt: Schon mit der allerersten Auswahl dessen, was ins Archiv kommt und was nicht, ist eine Entscheidung darüber gefallen, was als nutzlos oder unwichtig verworfen werden und was welcher Sphäre des Wissens zugehören soll. Entschieden wird nicht nur darüber, welche Aspekte des status quo der Zukunft Aufschluss über deren Vergangenheit bieten werden. Verfügt man im Archiv über die ›Ordnung der Dinge‹, so betrifft dies im Falle ›kurrenter‹ Archive auch die Gegenwart. Gerade von Staats wegen eingerichtete Archive sind deshalb zugangsbeschränkt: Sie bergen Arkana und politische Betriebsgeheimnisse. Die Einfriedung der Verwaltungspraxis sichert der Staatsgewalt einen verborgenen Funktionsraum. An Archiven wird daher deutlich, wie ›strukturelle Gewalt‹ funktioniert. Dass Archive gewaltsame Interventionen von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite auf vielfältige Art und Weise dokumentieren und dass sie, wenn Geschichte tatsächlich ›gemacht‹ und nicht nur verwaltet oder geschrieben wird, ihrerseits immer wieder zur Zielscheibe handfester Gewalt werden, dass Archive im Falle einer Machtkrise oder eines Machtwechsels gestürmt oder vernichtet, aufgelöst oder reorganisiert werden – dies allein weist auf ihre enge Allianz mit der Staatsgewalt, der potestas, hin. Im Archiv ist das Wissen immer schon ermächtigt und artikuliert sich Macht als Wissen. Jene Operationen, die den Aufbau und Betrieb von Archiven besorgen, sind deshalb ›diskursive Praktiken‹ im strikten Sinn. Für die Forschung und die demokratische, auf Transparenz bedachte ›Öffentlichkeit‹ wird ihre fundamentale Gewalt über Menschen und

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Gesellschaften freilich zumeist erst dann erkennbar, wenn Archive ihren Machtcharakter eingebüßt haben und ihrerseits historisch geworden sind. Archive und archivarische Operationen bilden eine wesentliche Grundlage des ›kulturellen Gedächtnisses‹. Komplexere Kultursysteme – mit ihren ökonomischen, rechtlichen, politischen oder auch wissenschaftlichen Domänen – wären undenkbar, weil einfach nicht funktionstüchtig ohne eine derartige Infrastruktur der Wissensspeicherung.1 Es gibt mithin nicht nur eine Kulturgeschichte des Archivs und eine kulturgeschichtliche Forschung, die sich gewisser Archivbestände bedient. Es sind die Archive, die die abendländische Kulturgeschichte erst ermöglicht haben. Exakt hierauf richteten etliche Gründungstexte der Kulturwissenschaft (etwa Nietzsches Genealogie der Moral oder Freuds verschiedene Schriften zur ›archivarischen‹ Struktur des Unbewussten) ihr Augenmerk. Und hierauf konnten wiederum jüngere Archivtheorien (wie Michel Foucaults Archéologie du savoir oder Jacques Derridas Mal d’archive) aufbauen. Für die Kulturwissenschaft hat sich die Theorie des Archivs als ebenso unabdingbar wie produktiv erwiesen. Vor dem Horizont einer Geschichte des Wissens, die die Herausbildung von Regierungsweisen, Handlungskompetenzen und wissenschaftlichen Theoriebildungen auf dem Niveau noch informeller und verstreuter Kenntnisse verfolgt, zeichnet sich umso deutlicher die Interventionskraft von Archiven ab. Was wir die ›Gewalt der Archive‹ nennen, das bringt sich in staatlichen Angelegenheiten diesseits der politischen Bühne zur Geltung, das liegt in juristischen Dingen vor aller rechtlichen Beurteilung, in historischer Hinsicht vor aller Geschichts-Erzählung und in der wissenschaftlichen Sphäre vor aller Begriffs- und Systembildung. Eine Kulturgeschichte archivarischer Wissensspeicherung sollte vor diesem Hintergrund erstens deren materielle, institutionelle und technische Möglichkeitsbedingungen in Rechnung stellen, Archive also medienwissenschaftlich beschreiben.2 Sie sollte zweitens die diskursiven Normen und Gesetze herauspräparieren, die mit der Auswahl, Anordnung und Absicherung gewisser Wissenskorpora einhergehen, und Archive im Sinne Michel Foucaults ›archäologisch‹, als »das allgemeine System der Formation und Transformation von Aussagen«3 begreifen. Sowohl der ›harte‹, an materiell, institutionell und medial fassbaren Archiven orientierte Zugriff als auch der ›weiche‹, diskursanalytisch, textuell4 oder dekonstruktiv5 ausgerichtete Ansatz sollten – drittens – der Maxime durchgängiger Historisierung folgen: Wer nämlich von Archiven handelt, der muss gleichermaßen ihre historische Bedingtheit und ihre historische Wirkmächtigkeit in Betracht ziehen. 1

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Vgl. hierzu etwa Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 35 ff., S. 239 und S. 246. Vgl. hierzu Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 51992, S. 188. Vgl. hierzu Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. Vgl. hierzu Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997.

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Einleitung

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Die historische ›Wirkmächtigkeit‹ jener diskursiven Praktiken, die mit dem Archiv einhergehen, ist auch als eine spezifische Form der ›Wissenspoetik‹ zu begreifen: als eine Darstellungslehre und Hervorbringungskunst, die sich, sobald sie auf Archive rekurriert und deren Bestände bearbeitet, der Repräsentationsverfahren unterschiedlicher Künste bedient. Das Repertoire reicht von Bildmedien und anderen darstellenden Künsten bis hin zu diversen Schreib- und Erzählweisen. Umgekehrt ist den Künsten in bestimmten Zusammenhängen abzumerken, wie die Archivpoetik verfährt. Insofern die Einrichtung, der Betrieb und die Nutzung von Archiven immer auch mit Darstellungsproblemen konfrontiert sind, vermag gerade eine kunst- und literaturwissenschaftliche Perspektive jene Verquickung von Aktenführung und Macht, von Wissensformation und Speichertechnologie zu erhellen, mit der sich die Gewalt der Archive zur Geltung bringt. Und mehr noch: Auch die unterschiedlichen Theorien des Archivs bedienen sich oftmals gewisser Darstellungs- und Erzählmuster, deren argumentative Triftigkeit zu hinterfragen ist. Auf den ersten Blick eingängige Thesen wie diejenige, mit dem globalen Übergang von der ›Disziplinargesellschaft‹ zur ›Kontrollgesellschaft‹ – und einer entsprechenden Transformation ›struktureller Gewalt‹ – sei die archivtechnologische Umstellung vom Paradigma des Speicherns auf das der Übertragung verknüpft, erfordern eine eingehende medien- und diskursanalytische Überprüfung. Die Beiträge dieses Bandes beleuchten die ›Gewalt der Archive‹ aus vier unterschiedlichen Perspektiven. In der ersten Sektion »Archive des Raums« widmen sie sich der spatialen, topographischen und topologischen Dimension, jenem Schauplatz der Gewalt also, der mit der Einrichtung und dem Betrieb von Archiven eröffnet wird: den Zugangsbeschränkungen, Hegungen und Barrieren, die den archivarischen Operationsraum umgrenzen; den Sonderfällen, in denen Räume oder Orte auch ohne institutionelle Barrieren als Archive gelten können; und dem Anwendungsbereich archivarischer Gewalt, der von der Bildung kultureller Distinktionen bis zur extensiven Kolonisation geographischer Räume reichen kann. Neapel, seit der Wiederentdeckung des verschütteten Pompeji und Herculaneum Freud und Derrida zufolge der genius loci archäologischer Tiefenforschung schlechthin, porträtiert Sergio Corrado in seinem Eröffnungsbeitrag als ein Beobachtungslabor zahlloser, sich überkreuzender und widersprechender Archivpraktiken: Nicht nur, dass sich hier eine singuläre kulturhistorische Erbschaft mit dem alltäglichen Stadtbetrieb, ein schutzwürdiger ›Archivraum‹ mit einem chaotischen Lebensraum überlagert und vermengt. So stolz die Neapolitaner auf ihre Vergangenheit auch sein mögen, so rücksichtslos profanieren sie deren urbane Überreste. Als paradoxe ›Archivmetropole‹ stößt Neapel allerorten auf seine eigenen Hinterlassenschaften und arbeitet – mit nicht selten krimineller Energie – an der Entropie seines eigenen Bestands. Diese Stadt führt mithin vor Augen, was Derrida als mal d’archive bezeichnet hat: sich vollends dem Archiv zu verschreiben und damit als Lebensform ein regelrechtes ›Archiv-Übel‹ zu kultivieren.

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Thomas Weitin und Burkhardt Wolf

Wie die ›Archive‹ des Hochmittelalters, nämlich die ›Rüstkammern‹ mitteleuropäischer Klöster und Bischofskirchen, trotz oder auch wegen der noch kaum schriftgestützten Verwaltungspraktiken dieser Epoche zu einem Medium ›spiritueller Gewalt‹ werden konnten, beschreibt Christian Jaser. Als Kampfmittel der militia Christi deklariert, sollten die genealogisch angelegten und zumeist über Heiligenlegenden institutionalisierten Archive besonders den Landbesitz und die Territorialgewalt der Geistlichkeit verteidigen. Um sie zu legitimieren, wurden derlei Besitzund Herrschaftstitel mittels Urkunden oder Reliquien an eine mythische hagiographische Vergangenheit geknüpft. Reichten jedoch selbst geographisch codierte ›Stacheldraht-Wunder‹ nicht hin, um die Dominanz über Land und Leute durchzusetzen, so wurde die jenseitige Gewalt des ›Angst-Raums‹ Hölle angedroht. Nachdruck wurde der archivarisch festgelegten Raum-Ordnung also zu guter Letzt durch Poenformeln und Exkommunikationsrituale, durch ›geistliche Gewalt‹, verliehen. Inwiefern das Meer, obschon es jeden nomos, jede ›Einheit von Ortung und Ordnung‹ (Carl Schmitt) unterläuft und deshalb stets als Abgrund unwiderruflichen Vergessens galt, zum archivarischen Paradigma werden konnte, zeigt Burkhardt Wolf. Nach 1800 brachen sich eine geologische Auffassung und ein Kulturbegriff Bahn, die in den Bodenschichten auch der Tiefsee zunächst erdgeschichtliche Zeugnisse, später ein regelrechtes Archiv versunkener Kultur vermuten ließen. Seitdem dieses völkerrechtlich regulierte ›Bodenarchiv‹ für die moderne Tiefseeforschung zugänglich geworden ist, entdeckt die Unterwasserarchäologie nicht nur materielle Fundstücke. Durch die Rückkopplung von submariner Grabungstätigkeit mit fortlaufender Archivrecherche und -führung birgt sie – unter dem Titel der ›Kultur‹ – in Gestalt von Schiffswracks exemplarische Bestandsstücke des ›gemeinsamen Erbes der Menschheit‹. Und wovon dieses ›Bodenarchiv‹ stets zeugt, ist die elementare Gewalt des Untergangs, des Meeres und der Zeit, die Gewalt der Plünderer und die strukturelle Gewalt des kommerziellen Seeverkehrs. Niels Werber rekonstruiert in seinem Beitrag den direkten Weg, der von den geopolitischen Vorstellungen und Narrativen des 19. Jahrhunderts hin zur nationalsozialistischen ›Raumplanung‹ in den eroberten Ostgebieten führte. Einerseits speiste sich der ›Generalplan Ost‹ aus umfänglichen Archivrecherchen, die eine im Raum sedimentierte ›Kulturarbeit‹ deutscher Siedlungstätigkeit belegen, zugleich aber die Ostgebiete als tabula rasa konzipieren sollten: In diesem ›Raum ohne Volk‹ schien alles machbar. Andererseits rekurrierten derlei kulturpolitische Entwürfe unablässig auf die Topoi, Typologien und Erzählmuster des deutschen Ostromans. Unter diesen Vorzeichen wurde die Literatur samt ihren ästhetischen Evidenzen zu einem archivarischen Steuerungsprogramm, das die Bearbeitung zahlloser archivtauglicher Fundstücke und die ›Kultivierung‹ jenes Bodenarchivs anleitete, als das man die Ostgebiete deklariert hatte. Es waren literarische und geopolitische ArchivPhantasmen, die zur Vertreibung und Vernichtung von Millionen führten. Die zweite Sektion »Politiken des Archivs« bearbeitet die Frage, inwiefern Archive politisches Handeln auszurichten und zu steuern sowie nachträglich zu

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Einleitung

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deuten und zu legitimieren vermögen. Thema ist hier also die Sinnform archivarischer Gewalt, die gegenwärtige und zukünftige Ereignisse prägt. Es geht um die Institutionalisierung des Archivwesens nach revolutionären und nationalpolitischen Maßgaben, die retroaktiven Folgen einer Öffnung staatspolizeilicher Archive und die diskurspolitischen Möglichkeiten von Protest im Zeitalter der ›Kontrollgesellschaft‹. In ihrem Beitrag zum politischen Gebrauch frühneuzeitlicher Horoskopsammlungen handelt Sabine Kalff von eigentümlichen Universalarchiven: Die Gestirnskonstellationen zu studieren heißt für die um 1600 führenden Astronomen und Astrologen zunächst, das ›Archiv der Natur‹ zu durchstöbern; zugleich erhofft man sich damit aber, Aufschluss über künftige Ereignisse zu gewinnen. In den Sternen war immer schon beschlossen, was die Zukunft an gewaltsamen Brüchen birgt – selbst wenn diese medizinisch konzipierte Krisenlehre erst durch nachträgliche Konstruktionsarbeit Evidenz erhält. Astronomisches und astrologisches Wissen ist Herrschaftswissen, und mehr noch: Es ist ein Konjekturalwissen, das auf den Datenbestand frühneuzeitlicher ›Statistik‹ rekurriert und auf das Feld des Politischen eine probabilistische Perspektive zu eröffnen scheint. Wie prekär die Konsultation von ›Archiven‹ und deren Zirkulation in Gelehrtenkreisen auf die Obrigkeiten wirken musste, offenbart der Prozess gegen Orazio Morandi oder auch Placido Titis Untersuchung zur neapolitanischen Revolte unter der Führung Tommaso Masaniellos. Und wie weitreichend dieses Paradigma politischer Analyse und Beratung war, zeigt seine Fernwirkung bis hinein in die Französische Revolution. Mit eben diesem Ereignis verbindet Gernot Kamecke in seinem Beitrag die Geburt des neuzeitlichen Archivwesens: Die Erfindung dessen, was wir bis heute als Institution und Praxis des Archivs mitsamt seinen Korpora, Gliederungen und Regeln kennen, geht zurück auf Beschlüsse der revolutionären Nationalversammlung. Diese bestellte den ersten genuinen Archivar und erließ erstmals verbindliche Maßgaben zur Zentralisierung, hom*ogenisierung und Hierarchisierung der landesweit verstreuten Sammlungsbestände. Im Verfahren des ›triage‹ wurde nun zwischen ›nützlichen‹ und ›nutzlosen‹ Papieren und unter Letzteren zwischen vernichtungswürdigen Dokumenten und solchen ›von historischem Interesse‹ unterschieden – ein Selektionscode, der erst die Entstehung eines einheitlichen ›Nationalarchivs‹ und einer wirklichen ›Nationalgeschichte‹ ermöglichte. Aus dieser seither normalen Verwaltungsprozedur rührt der bis heute zumindest latente Machtkampf zwischen neuzeitlichen Archivaren und Historikern her; und aus ihm wird verständlich, was seither Geschichtsschreibung heißt: durch Konjektur und Imagination jene Lücken zu füllen, die die Gewalt der Archive – im Namen von Nation und Staat – in der Ordnung der Dinge hinterlassen hat. Dieser Bezug zwischen staatsbeauftragter Aktenführung einerseits und historisch perspektiviertem Schreiben andererseits wird noch komplexer, sobald es sich um Geheimarchive wie die der modernen Staatspolizei handelt. Csongor Lrincz untersucht anhand von Péter Esterházys autobiographischem Roman Harmonia

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Caelestis und dessen revidierter Fassung Verbesserte Ausgabe jene eigentümliche Temporal- und Fiktionalitätsstruktur, die die Öffnung von vormals klassifizierten Archiven mit sich bringen kann: Esterházy war in der Originalfassung seines Familien- und Geschichtsromans noch davon ausgegangen, womöglich von der ungarischen Geheimpolizei bespitzelt worden zu sein. Nachdem er Akteneinsicht erhalten hatte, wurde offenbar, dass die Stasi auch im Namen seines eigenen Vaters tätig gewesen und dadurch gleichsam die eigentliche Hauptfigur, ja unwillkürlich der Autor seines Romans geworden war. Unentscheidbar wird nun, was ein originaler Text, was authentisches Schreiben, was Autorschaft und eine genuin literarische Poetik sein könnte. Wenn Esterházys Buch nicht nur die – handfeste und poetologische – Gewalt der Archive dokumentieren, sondern persönliches Zeugnis ablegen soll, dann kann das nur durch die Scham geschehen, die den Abstand zwischen Erst- und Zweitfassung markiert. Politische Strategien des Schreibens, die mit den Archivoperationen im Übergang von der ›Disziplinar-‹ zur ›Kontrollgesellschaft‹ konfrontiert sind, untersucht der Beitrag von Martin Jörg Schäfer. Sollte unsere Gesellschaft tatsächlich, wie es gerade medienwissenschaftliche Großerzählungen nahelegen, mit dem Wechsel von der tayloristischen Arbeitswelt in die Epoche flexibler Dienstleistung vom alten Verfahren der Speicherarchive auf das neue System der laufend aktualisierten Übertragungsarchive umgestellt haben, so erfordert dies neuartige Formen politischen Widerstands. Die aktuelle Protestliteratur zeigt sich deshalb aufmerksam für sämtliche Formen von Übertragungsstörung; sie beobachtet die ubiquitären Überwachungsapparaturen, deren Daten aus Sicherheitsgründen in ungewissem Ausmaß gespeichert werden; und sie zeigt sich skeptisch gegenüber den Theorie-Narrativen und ihrer emphatischen These, im Zeitalter universeller Übertragung angelangt zu sein. Gerade daran, dass das Speichern machtrelevanter Wissensbestände übersehen oder unterschlagen wird, zeigt sich der erhöhte Sublimierungsgrad dessen, was früher noch als ›Gewalt der Archive‹ kenntlich war. Die dritte Sektion »Archive des Menschen« beobachtet, inwiefern sich die – sei es fallgeschichtliche, sei es statistische – Konstitution und laufende Revision eines Wissens vom Menschen archivarischen Praktiken verdankt. Wenn sich der Begriff der Gewalt primär auf den Menschen, seine Repräsentation und seinen Handlungsraum bezieht und erst in einem zweiten Schritt auf der Ebene von Codes, Strukturen und Medien anzusetzen ist,6 dann findet hier die Rede von der ›Gewalt der Archive‹ ihren eigentlichen Ort. Freilich steht und fällt diese Rede mit der vorausgesetzten lebensweltlichen Matrix – ein Kurzschluss zwischen Kulturwissenschaft und Anthropologie, der zu einer grundsätzlichen Kritik der Archivtheorie nötigt. 6

Vgl. hierzu Daniel Tyradellis und Burkhardt Wolf, »Hinter den Kulissen der Gewalt. Vom Bild zu Codes und Materialitäten«, in: dies. (Hg.), Die Szene der Gewalt: Bilder, Codes und Materialitäten, Frankfurt am Main 2007, S. 13–31, hier S. 15.

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Einleitung

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Die wissenschaftshistorisch aufschlussreiche Gattung der Fallgeschichte ist eine literarische Form, die unmittelbar aus dem Archiv entstanden ist und ihren Anspruch auf Authentizität im Rekurs auf diesen Ursprung untermauert. Der Beitrag von Thomas Weitin zeigt im Vergleich der verschiedenen Quellen und Bearbeitungsstufen der barocken Räubergeschichte Nickel List und seine Gesellen, in der die Folter als Beweismittel aktenmäßig aufgezeichnet und zugleich kritisch diskutiert wird, wie das Archiv selbst dabei als Gewaltinstanz wirkt. Der ›aktenmäßige Bericht‹, der bis ins 19. Jahrhundert zum festen Bestandteil des schriftlichen Inquisitionsprozesses gehörte und historisch den erzählerischen Kern des Strafrechts verkörpert, bringt einzelne Schriftstücke in einen narrativen Zusammenhang, durch den wir überhaupt erst von ›Fällen‹ sprechen können. Die Gewalt des Archivs zielt freilich nicht nur nach außen auf eine an populären Kriminalgeschichten interessierte Öffentlichkeit. In dem diskutierten Fall wirkt der Erzähler aus dem Archiv, ein Gefängnispfarrer, aktiv bei der Folter mit und sorgt für eine geistliche Drohkulisse, die die physische Gewalt imaginär verstärkt, um Geständnisse zu erpressen. Der Fall der Folter erweist sich als ein Gewaltkomplex, innerhalb dessen das Verhältnis physischer und psychischer Anteile historisch so variiert, dass die Gewalt mit dem Verbot körperlicher Tortur keineswegs verschwindet. Armin Schäfer untersucht in seinem medizinhistorischen Beitrag zur Archivfunktion in der Psychiatrie, wie Fallgeschichten im 19. Jahrhundert angesichts des Siegeszuges statistischer Verfahren unter Druck geraten. Zwar erscheint den Ärzten die Krankheitsgeschichte des einzelnen Patienten nach wie vor als Singularität, die der individuellen Aufzeichnung und Erzählung bedarf. Ihre Bedeutung erhalten die Fallgeschichten nunmehr jedoch erst im Vergleich mit einem statistisch erzeugten Wissen, dessen Archivoperationen normalisierend wirken und also ausschlaggebend dafür sind, was als gesund gilt und was dem sich systematisch ausdifferenzierenden Bereich der Krankheiten zugerechnet werden kann. Effektivere Methoden der Rekursion auf archivierte Daten, wie sie Emil Kraepelins Zählkarten in Ergänzung zu den herkömmlichen Krankenakten technisch möglich machten, waren für die distinkte Formierung neuer Krankheitsbilder entscheidend, was sich exemplarisch an der Entwicklung der später als Schizophrenie bezeichneten Diagnose der »dementia praecox« nach Kraepelin zeigen lässt. Weil jedoch die Aufzählung und Zurechnung von Fällen allein Krankheiten weder ätiologisch definieren noch verstehbar werden lassen kann, bleibt die Archivfunktion der modernen Psychiatrie auf die hermeneutische Hilfe eines »archivalischen Erzählens« (Karl Jaspers) angewiesen. Auch der Beitrag von Daniel Tyradellis widmet sich der wissenschaftlichen Konjunktur bestimmter psychischer Krankheitsbilder, wobei mit der Figur des ›Messies‹ ein Drang zum Aufbewahren und eine Dingbesessenheit in den Fokus geraten, die die Archivfaszination in den Kulturwissenschaften und die fast gleichzeitig einsetzenden Versuche, Wissenschaftsgeschichte in bewusster Abkehr vom erkenntnisleitenden Subjekt als Geschichte der ›epistemischen Dinge‹ neu zu defi-

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nieren, in ungewohnter diskursiver Nachbarschaft erscheinen lassen. Wenn zeitgenössische Diagnosen pathologischer Subjektivität einen Zusammenhang herstellen zwischen Dingverfallenheit und sozialer Bindungsstörung, können diese Befunde nicht einfach losgelöst von den Prioritäten verstanden werden, die die wissenschaftlichen Denkkollektive der Gegenwart im Verhältnis zu ihren Gegenständen entwickeln und stilbildend werden lassen. Im Beitrag von Henning Teschke nimmt die Kritik der Archivtheorie die Form einer Relektüre des in der Geschichte von Säkularisierung und Entideologisierung Unerledigten an. Wenn die religiösen und gesellschaftspolitischen Heilsversprechen der westlichen Welt keine Geltungskraft mehr besitzen, dürfen die Humanities sich nicht darauf beschränken, Archivarbeit im Sinne des Sammelns heilloser Bruchstücke der Vergangenheit zu leisten. Vielmehr gilt es, die Frage des Archivs und seiner Gewalt wieder zum Anfang, zur arché, zurückzutragen und dort, wo Geschichte sich kulturell als noch nicht menschgemacht einprägte, einen deutungsoffenen Zukunftsbezug für die Wissenschaft zurückzugewinnen. In diesem Sinn eröffnet die alttestamentliche Genesis als Archiv elementarer Prozesse der Menschwerdung eine archäologische Perspektive, die die Möglichkeitsbedingung der Archivierung selbst vorstellt: die Intervention einer schöpferischen Gewalt, die mit der Gegebenheit des Seienden zugleich dessen Regelhaftigkeit festsetzt. Zum Mythos der Arche Noah wiederum gehört die Verschiffbarkeit eines »Gattungsarchivs«, das neben der theologischen auch eine wirkungsmächtige kulturanthropologische Bedeutung entfalten konnte, die im Zeichen von Natur- und Völkerrecht den Kulturkontakt der Europäer mit der Neuen Welt legitimatorisch einzuholen half. In der letzten Sektion werden jene »Operationen des Archivs« untersucht, die man als unterschiedliche Modalitäten archivarischer Gewalt bezeichnen kann: die Öffnung und Schließung von Archiven sowie die Manipulation und Zerstörung, die Rekonfiguration, Transformation und Distribution ihrer Bestände. Das alles sind Operationen, die den Sinn und die Reichweite des Politischen und der Autorität, den unvordenklichen Ursprung sowie die theologische, juristische oder auch ökonomische Legitimation von Gemeinschaft, Gemeinwesen und Gemeinsinn unmittelbar betreffen. Während das jüdische Archiv der mosaischen Gesetze im Zuge der spätantiken Kommentartechnik und durch die Gewalt christlicher Exegese auf den verbindlichen Ursprung der Liebe Gottes hin umgestellt wurde, haben die Athener, wie der Beitrag von Knut Ebeling zeigt, das erste ›politische Archiv‹ geschaffen: jene gebannte Zone von Schreibpraktiken, die religiösen und rechtlichen Leitvorstellungen wie der der Schuld immer schon zugrunde liegen. In unmittelbarer Nähe zum Rathaus (Bouleuterion) lag das Zentralarchiv (Metroon) im Zentrum des politischen Athen: Wurde über neue Gesetze debattiert, konnten auf direktem Weg ältere Gesetzeswerke, die den Hauptteil der Archivbestände bildeten, konsultiert werden. Verwahrt wurden indes neben Gesetzen und Erlassen auch die Namen

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Einleitung

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derjenigen, die von justiziablen Akten betroffen waren, weshalb es, wenngleich darauf die Todesstrafe stand, immer wieder zu Übergriffen auf das Archiv und zu Fälschungen kam. Die Athener mussten erkennen, dass man nicht vor den Göttern, sondern aufgrund dessen, was im Archiv geschrieben steht, schuldig gesprochen wird. Seither gehören archivarische Sorgfalt und Gewalt gegen Archivalien zusammen. Gerade, was verlässlich verwahrt wird, ist der Manipulation ausgesetzt. Je mehr sich Recht, Politik und Gesellschaft auf das Archiv verlassen und je wichtiger der Rekurs auf das, was dort (vermutlich) lagert, in juristischen, politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wird, desto größer wird auch die Gewalt, die sich gegen das Archiv richtet. Von Beate Fricke stammt der zweite Beitrag des Bandes, der sich mit der Bedeutung der arché und den Bildern des Schöpfungsaktes in der Genesis beschäftigt, wobei die Perspektive sich hier auf die hermeneutische Technik des Kommentars als Archivoperation richtet. Wer die Schöpfungsgeschichte kommentiert, der übt Deutungsgewalt aus, indem er konkurrierende Lesarten verdrängt und dazu beiträgt, andere kanonisch werden zu lassen. Auf diese Weise arbeiten alle Kommentatoren an einem intertextuellen Archiv, das die entsprechenden Auseinandersetzungen in sich aufbewahrt, um, wie am Beispiel der Genesis-Vorlesung Martin Luthers deutlich wird, nach Abschluss der Kanonisierung die Geschichte des intellektuellen Kampfes in einem synchronen Text-Archiv verfügbar zu halten.7 Die Kommentierung bereits kanonischer Texte zielt dann vor allem darauf, den »nicht formulierten Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat« (Foucault)8, zu erreichen und als arché, als neu entdeckten Anfang des Archivs, vor Augen zu stellen. Walter Benjamin findet dafür, Hofmannsthal zitierend, die archivkritische Formel: »was nie geschrieben wurde, lesen«.9 Unter der Maßgabe durchgehender Historisierung untersucht dieser Band neben der selektiven auch die generative Gewalt von Archiven und fragt daher nach den Übergängen zwischen den Operationen im Inneren des Archivs und solchen, deren institutionalisierender Effekt darüber hinaus reicht und sich in dem Ausdruck verschafft, was mit Foucault als ›Aussageformation‹ zu denken ist. Der Beitrag von Sigrid Köhler untersucht mit der rechtsbegründenden Institution des Vertrages ein Beispiel, das diesen systematischen Zusammenhang anschaulich werden lässt. Im Recht der Römischen Republik oblag es Priestern, in ihren Gemächern die Spruchformeln für alle legis actiones einschließlich der Vertragsgeschäfte zu verwahren. Diese geheimen Archive waren der autorisierende Ursprungsort, aus

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Diese Sichtweise entspricht dem intertextualitätsorientierten Archivbegriff Moritz Baßlers (siehe oben: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv). Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1999, S. 14. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974–89, Bd. I/3, S. 1238.

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Thomas Weitin und Burkhardt Wolf

dem heraus Verträge nach festen Formeln geschlossen wurden. Auf der Basis der institutionell prägenden Vorgeschichte des Römischen Zivilrechts lässt sich ein neuer Blick auf die das Recht der Gesellschaft begründende Vertragsautorität der Neuzeit werfen: auf den Gesellschaftsvertrag. Es kann nämlich gezeigt werden, dass die kontraktualistischen Gesellschaftstheorien der Aufklärung, je mehr sie sich von der naturrechtlichen Begründung entlasten, ihre Verbindlichkeit gerade aus der Formelhaftigkeit des Vertragsarguments beziehen, das derart, dem römischen Vorbild entsprechend, als rhetorisch-rituelle »Archivfigur« wirkt. Am Ende des Bandes spitzt Ulrike Bergermann in ihrem Beitrag noch einmal das Verhältnis zwischen der Institution Archiv und der kulturwissenschaftlichen Archivtheorie zu: Erfüllt das Internet tatsächlich die avancierten Archivtheorien des Digitalzeitalters? Die frühe Begeisterung für Hypertexte, die als Konvergenz von Technik und Theorie gefeiert wurden (George Landow), hat entsprechende Erwartungen geweckt. Mittlerweile nötigt uns das eigene Internetverhalten zur Revision liebgewonnener Theorien wie der Annahme, wir erlebten den endgültigen Übergang von einer auf Speichern bedachten Mediengesellschaft hin zu einer solchen, in der nur noch das Übertragen zählt. Die waltende Gewalt des ›Internetgiganten‹ Google zwingt uns zu einem differenzierteren Bild. Der PageRank der Suchmaschine verfährt mit seinem undurchsichtigen Algorithmus nach einem gleichwohl dem Wissenschaftsbetrieb wohlbekannten Prinzip: Was oft zitiert wird, gilt als relevant, wird vernetzt und ist leicht auffindbar. Gespeichert bleibt daher gerade das zu Zirkulation und Übertragung Fähige. Aussageformationen bilden sich per Google-Suche spontan, dezentral und nicht dauerhaft. Immer aber stehen dahinter die Server des Konzerns, deren Stromverbrauch – das wurde erst jüngst öffentlich – dem einer deutschen Großstadt entspricht.

Dieses Buch ist hervorgegangen aus mehreren Arbeitstreffen des Netzwerks »Gewalt der Archive«: zunächst, Ende 2007, in Berlin, dann in Wien, Konstanz, Hamburg und schließlich im Herbst 2009 in Neapel. Sein Zustandekommen verdankt sich, neben der engagierten Mitarbeit unserer Hilfskräfte (Ramona Jäger und Mira Frye, Nicole Rettig und Hadas Steinberg), neben der großzügigen Aufnahme durch unsere Gastgeber (das Institut für Wissenschaft und Kunst mit seinem Generalsekretär Thomas Hübel (Wien), das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften unter seinem Direktor Helmut Lethen (Wien), die Universität L’Orientale auf Initiative von Sergio Corrado (Neapel) sowie der Hamburger Kunstverein) und neben den zahlreichen Anregungen der von uns eingeladenen Wissenschaftler und Künstler (Moritz Baßler, Roland Borgards, Harun Farocki, Karin Harrasser, Eva Horn, Dora Imhof, Sabine Kalff, Helene von Oldenburg, Ulrich Johannes Schneider, Benno Wagner, Stefan Willer, Mario Wimmer) auch der großzügigen Finanzierung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Allen Genannten sei hiermit unser herzlicher Dank abgestattet. Noch bevor sie ihren Beitrag fertig stellen

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Einleitung

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konnte, ist Cornelia Vismann, eines der tragenden Mitglieder des Netzwerks und überhaupt eine der führenden Autoritäten kulturwissenschaftlicher Archiv-Forschung, nach schwerer Krankheit verstorben. Ihrem Andenken ist dieser Band gewidmet. Berlin und Konstanz, im September 2011

Die Herausgeber

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I. ARCHIVE DES RAUMS

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Neapel Archivkunst und Antiarchiv Sergio Corrado

I. Archivierung des Territoriums und des Privaten Dass Derrida sein Buch über das Archiv gerade in Neapel zu Ende gebracht hat, ist sicherlich ein Zufall, wie der Autor selbst in seinem »Post-Skriptum« sagt: »Zufällig habe ich diese letzten Worte am Rande des Vesuvs geschrieben, ganz in der Nähe von Pompeji, vor weniger als acht Tagen. Wie jedesmal, wenn ich, seit mehr als zwanzig Jahren, nach Neapel zurückkehre, denke ich an sie«.1 Diese Zeilen hat Derrida vor genau 15 Jahren geschrieben. Mit dem Pronomen »sie« meint er Gradiva, »die Gradiva von Jensen und von Freud«,2 deren Fußspur der Archäologe Hanold, die Hauptfigur von Jensens Novelle, auf dem Ausgrabungsgelände von Pompeji leidenschaftlich sucht. Auch wenn Derrida von »Zufall« spricht, scheint mir Neapel jedoch ein besonders geeigneter Ort, um eine Reflexion über das Archiv anzustellen – allerdings nicht wegen der weltberühmten Ausgrabungsstätten, sondern wegen seines eigenartigen, ambivalenten Verhältnisses zum Archiv. Also nicht wegen Pompeji und Herculaneum, dieser von Asche und Lava zugeschütteten und dadurch erstaunlich gut konservierten »Gedächtnisareale«: Zweifellos liegen die – nicht nur etymologischen – Beziehungen zwischen Archäologie und Archiv auf der Hand (Derrida selbst hat sie thematisiert), aber dies trifft natürlich nicht nur auf Neapel zu. Und auch nicht wegen der vielen anderen, weniger bekannten archäologischen Stätten bei Neapel oder inmitten der Stadt, wo Ruinen und Zeugnisse der Vergangenheit en plain air in die urbane Struktur integriert und zur Schau gestellt, oder aber in monumentalen Gebäuden musealisiert und als touristische Attraktionen verkauft werden. Dies alles hat Neapel mit anderen Kunststädten Italiens gemein, wie auch die Notwendigkeit, die Arbeiten zum U-Bahnbau häufig zu unterbrechen, um die nach und nach ans Licht tretenden Gegenstände (in jüngster Zeit: ein römisches Schiff, ein Tempel, ein Skelett) zu bergen, zu erforschen, zu katalogisieren und sie dann in den zukünftigen Stationen als Exponate auszustellen.

1

2

Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 169 (Original: Mal d’archive. Une impression freudienne, 1995). Ebd.

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Abb. 1: Die U-Bahnstation Salvator Rosa der Linie 1

Hier teilt Neapel sein Schicksal mit Rom (oder mit Athen, dessen U-Bahnnetz für die Olympischen Spiele 2004 ausgebaut wurde): Es wird von der eigenen Geschichte gerade dann eingeholt, wenn es sich neu entwirft; in dem Moment, wo es gilt, das Stadtleben zu beschleunigen, auf die Zukunft hin zu proji*zieren, wird Neapel quasi gezwungen, seine Emsigkeit zu bremsen, sich in den eigenen Leib zu schauen. Unter den Schneidrädern der riesigen Tunnelbohrer tut sich eine andere Zeitdimension auf, ein Raum der Selbstbespiegelung, der Reflexion, und was unter der Erde liegt, will zur Oberfläche befördert, analysiert, evaluiert, etikettiert werden, damit ihm der Status eines archäologischen Fundstückes zuerkannt wird (Abb. 1). Eine ähnlich komplexe Strategie der Musealisierung hat man bei der Ausstattung der schon vor ungefähr zehn Jahren eröffneten U-Bahnstationen der neuen Linie 1 verfolgt, die im Rahmen des Projekts »Le Stazioni dell’arte« als Museumsräume zeitgenössischer Kunst gestaltet wurden. So steigt man, um den Eingang einer der Stationen (Salvator Rosa) zu erreichen, durch eine mit farbigen Totemfiguren aus Plastik und Metall geschmückte Gartenanlage hinab, vorbei an gut erhaltenen und präzis beschilderten Resten einer römischen Villa mit ihrem opus reticulatum, dem typischen wabenförmigen Mauerwerk. In der Station selbst ist, neben

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weiteren zeitgenössischen Kunstwerken, das Modell der kompletten Anlage ausgestellt, während Fotos, Karten und technische Erläuterungen den Verlauf der Bauarbeiten und der Instandsetzung dokumentieren. Jedes installierte Objekt ist mit einem kleinen Schild versehen, auf dem der Name des Künstlers und der Titel des Werks verzeichnet sind; draußen gibt eine Tafel Erklärungen zu den Mauerresten. So geht man durch einen semiotisch gut organisierten Text, einen klar zu lesenden Raum, in dem sich die Stadt selbst darstellt, ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Schichten jedem mobilen Auge preisgibt – ein gut archivierter Teil inmitten des chaotischen Alltags. Diese Portionen von indexikalisiertem Territorium, diese Ästhetisierung und Auratisierung des Lebensraums gehören zu den wichtigsten Strategien, mit denen Neapel seinen Diskurs aufbaut. Ein Diskurs, der – wie jede archivarische Praxis – eine Syntax hypotaktischer Art aufweist, mit der er Zeichen und Materialien hierarchisch organisiert, und das heißt: Namen gibt, Rekonstruktionen anbietet, Verbindungen herstellt, Hypothesen entwirft, Autorschafts- oder Zeitverhältnisse statuiert. Nach einer in gewisser Hinsicht ähnlichen archivarischen Praxis ist auch die neapolitanische Weihnachtskrippe strukturiert, eine der wichtigsten Traditionen der Stadt (Abb. 2). Zu den touristischen Attraktionen Neapels gehört der Krippenmarkt in der Gasse San Gregorio Armeno, wohin der obligate vorweihnachtliche Familienspaziergang führt, um Figuren und Zubehör für die Krippe zu kaufen, die dann zu Hause mit handwerklichem Geschick traditionsgemäß zusammengebaut wird. Zwischen Volkskultur und katholischer Feierlichkeit, hausväterlichem Ritual und Kunstsammlungen zählt die Krippe für Neapel zweifellos zu den identitätsstiftenden Elementen. Dazu trägt ihre Zelebrierung in einem nunmehr klassischen Theaterstück von Eduardo De Filippo (Natale in casa Cupiello, 1931) sowie ihre Kanonisierung als museales Kunstwerk bei (die Krippen des 18. Jhs. im Museum »San Martino«). Aber auch der kommerzielle Marktwert spielt eine Rolle bei der Krippenrhetorik, und zwar in doppelter Hinsicht: Werden die alten, kostbaren Figuren immer wieder aus Privatsammlungen, Kirchen und Museumsschränken gestohlen und von skrupellosen Kunstsammlern aufgekauft, so ersetzen die billigen, meistens in China hergestellten Plastikfiguren in den bescheideneren Familienkrippen immer öfter die teuren Tonfiguren, so dass sich die Klage um die verlorene Ursprünglichkeit »unserer genuinen« künstlerischen Tradition und gegen die fremde, moderne Künstlichkeit erheben kann. Die Krippe hat insofern eine vielschichtige selbstdarstellerische Funktion – die Stadt identifiziert sich mit dieser Miniaturwelt, in der sie die Verklärung ihres eigenen Lebens inszeniert. Die korkene Kulisse der Krippe ahmt die schroffen Felsenformationen nach, die die Stadt- und Umgebungslandschaft prägen, und weist meist eine zum Zuschauer hin offene trichterförmige Struktur auf, in der mehrere Pfade zur untersten Ebene hinführen. Dort ist die Hauptszene dargestellt: das

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Abb. 2: Eine Krippe für das Wohnzimmer

Wunder der Geburt Jesu in der Grotte, bestückt mit dem unvermeidlichen Esel und Rind, mit Maria, Joseph und den Heiligen Drei Königen. Doch nicht diese Szene ist das Spektakulärste an der Krippe, sondern die Nebenfiguren, von denen es in den großen Krippen wimmelt und die (neben Bauern, Hirten, Müllern und

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Jägern) ein sehr realistisches Bild des Alltagslebens in der Altstadt abgeben. Bäcker, Pizzabäcker mit ihrem Ofen, Fisch-, Eier- und Geflügel-, Aal-, Käse-, Obst- und Gemüseverkäufer vor ihren Auslagen, in dem Wirtshaus, vor dem Brunnen, um nur einiges zu erwähnen, was das bunte und stille Spektakel der Krippe ausmacht. Viele von diesen Figuren werden im szenischen Raum frei disponiert, je nach subjektivem Geschmack, doch einigen von ihnen, den Hauptsträngen der Narration, wird auf den verschiedenen Ebenen von einer komplexen Symbolik ein fester Platz zugewiesen. Diese Symbolik basiert auf einem breiten Repertoire von Volkslegenden und magisch-religiösen Glaubenselementen und lässt sich nicht immer einfach entschlüsseln. So bilden sich Ketten von Signifikanten, miteinander verbunden nach einer Sinnkombinatorik, die zum guten Teil nicht mehr decodiert werden kann, auch weil das traditionelle Wissen und die kollektive Vorstellungswelt, in denen die Krippenkunst wurzelt, zunehmend in Vergessenheit gerät. Will man in der neapolitanischen Krippe ein offenes Buch sehen (De Simone),3 so müsste man es als Archivbuch verstehen, und zwar als Stadt- bzw. Familienbuch. Einerseits findet sich in den monumentalen Krippen, die – in den Museen als Kunstschätze, in den Kirchen als Kostbarkeiten ausgestellt – ein abgeschlossenes System darstellen, ein ganzes Stück städtisches Leben archiviert, ein ikonologisches Repertoire von Metiers, Werkzeugen, Gebärden, Stoffen, Trachten, Arbeitsvorgängen, durch die die heilige Weihnachtsgeschichte prunkvoll erzählt wird. Durch die hypotaktisch strukturierte Sprache dieses Stadtbuchs artikuliert sich allerdings der hierarchische Diskurs der hegemonialen Schichten Neapels. Andererseits handelt es sich um ein Familienbuch, das jeden Dezemberanfang aus Schränken und Dachböden hervorgeholt und geöffnet wird, d. h. aufgebaut, Jahr für Jahr ausgebessert und mit neu hinzukommenden Figuren versehen. Jede Familie hat ihre eigene, narrative Strategie, und eine eigene, unverwechselbare Ästhetik zur Archivierung einer mythologischen Vergangenheit: die des »heilen« goldenen Zeitalters der neapolitanischen Kultur, die unter dem Vorwand der Weihnachtsgeschichte hervor3

»Im Grunde war die traditionelle Weihnachtskrippe ein offenes Buch, ein großer Tarock des Lebens, des Todes, des uns umgebenden Universums, ein Buch, das mittels einer codierten Sprache der kollektiven Vorstellungswelt kohärent zu lesen war« (Roberto De Simone, Il presepe popolare napoletano, Torino 1998, S. 39, deutsche Übersetzung S.C.). Aus den Betrachtungen Agambens würde hingegen folgen, dass die Krippe keine archivarische Funktion haben kann. Denn während De Simone verschiedene Varianten der Krippenstruktur, ihre Topographie und Raumsymbolik analysiert sowie die Bedeutung der Raumverhältnisse zwischen den aufgestellten Figuren interpretiert (vgl. ebd., S. 13 f.), stellt für Agamben »jede Figur der Krippe [...] eine Einheit für sich dar, die durch keine plastische oder räumliche Verbindung mit den anderen Figuren vereint wäre, sondern einfach den anderen Figuren augenblickshaft beigesellt ist« (Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Frankfurt am Main 2004, S. 181; Original: Infanzia e storia. Distruzione dell’esperienza e origine della storia, 1978); so sind selbst die monumentalen Krippen, »die am meisten ein kompositorisches Prinzip zu erkennen geben, [...] in ihrem Innersten eine zusammengewürfelte Menge (denn die Möglichkeit zur unendlichen Erweiterung gehört zu ihrem Wesen)« (ebd., S. 182).

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leuchtet. In der guten Stube offenbart dieses Archiv des Privaten dem Blick von Verwandten und Gästen einmal im Jahr den Code des familiären Raums und der Familiensprache; wie die Welt ausgelegt wird, welche sozio-ökonomische Position die Familie einnimmt, welches ihr Bildungsniveau ist, zeigt sich in der anheimelndspärlichen Beleuchtung der Krippengrotte. Und im Januar wird dieses Archivbuch jedesmal wieder geschlossen und zu den anderen privaten Archiven beiseite gelegt.4

II. Neapels Lebensraum: Archivkunst und Opazität der Zeichen Die »Stazioni dell’arte« und die Krippe sind nur zwei Beispiele für die archivarische Praxis, nach der Neapel sein Territorium codiert und sein kulturelles Gedächtnis operationalisiert; ein Gedächtnis, auf das die Stadt sehr stolz ist und das sie oft gegen den eigenen Niedergang ins Feld führt. Gerade in dieser defensiven Haltung, in dieser Kontraposition zeigt sich Neapels ambivalentes Verhältnis zum Archiv, das ich zu Beginn erwähnt habe: Das Archiv (und die Archäologie als sakralisierte Form des Selbstbewusstseins) fungiert als Ordnungsprinzip in einem chaotischen Stadtraum, der sich nicht ökonomisieren lässt (jedenfalls nicht nach fortschrittlichen Kriterien). Antike und Avantgarde ohne Moderne; Ästhetik statt Funktion; Museen, Bibliotheken und philosophische Forschungszentren, aber zugeparkte Gehwege und so gut wie keine Grünflächen – auch das ist Neapel. Während in den kulturellen Archiven (unter ihnen das »Archivio di Stato«, eines der größten der Welt und der wichtigsten für die mittelalterliche Geschichte Europas) Philologen, Historiker, Bibliothekare und all die anderen hochspezialisierten Techniker der Archivierungskunst eine beträchtliche Menge von Daten verarbeiten und speichern, entziehen sich die Zeichen des städtischen Lebensraums einer univoken Lektüre (Abb. 3). 4

Als Repräsentation eines Archivs des Privaten kann ’A casciaforte (Der Tresor, 1928) von Mangione und Valente gelten, ein sehr populäres neapolitanisches Lied, das die biedere, konservativ-kleinbürgerliche Sorge um die wertlosen, unscheinbaren, doch für die eigene private Kleinwelt und das Familiengedächtnis bedeutungsvollen und affektgeladenen Dinge ausdrückt. Es handelt sich um »Reliquien«, die verloren gehen können, wenn man sie nicht in einem Tresor in Sicherheit bringt. In der Erwartung dieses heraufbeschworenen Tresors werden sie mit einer archivarischen Geste aufgezählt, benannt, beschrieben (also katalogisiert): eine Haarsträhne, ein Glückshorn aus Koralle, der Schnabel eines im Jahre 1923 gestorbenen Papageis, ein Kerzenstummel im Kerzenhalter, eine Brille im Etui und desgleichen mehr. Hier zitiere ich die erste Strophe (auf neapolitanisch, deutsche Übersetzung S.C.): »Vaco truvanno ’na casciaforte! / E andivinate pe’ ne fa’ che? / […] / Ce aggi’ ’a mettere tutt’ ’e llettere / che mi ha scritto Rosina mia... / ’nu ritratto (formato visita) / d’ ’a bonanema ’e zi’ Sufia... / ’na màneca ’e sicchio, / ’na cràstula ’e specchio... / ’na curteccia di cacio vecchio / e un fracchesciasso color cachì« (»Ich bin auf der Suche nach einem Tresor! / Und ratet mal wozu? / […] / Da hinein muss ich die ganzen Briefe legen, / die mir meine Rosina geschrieben hat, / ein Porträt (im Visitenkartenformat) / der verstorbenen Tante Sofia, / ein Eimerhenkel, / eine Spiegelscherbe... / eine alte Käserinde / und einen kakifarbenen Frack«).

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Abb. 3: Römische Ruinen und »moderne Architektur« im Zentrum Neapels

Neapel ist eine der am dichtesten bebauten und bevölkerten Städte Europas. Die bis ins Detail definierte Aufteilung dieses urbanen Raumes ist unübersehbar; in der Tat handelt es sich um eine regelrechte Parzellierung, die durch ein hypertrophisches Zeichensystem organisiert wird. Doch ist die Semiotik des Lebensraums in Neapel eine mühsame Wissenschaft, weil ihr Gegenstand opak ist. Erstens verlieren die das öffentliche Leben regulierenden Zeichen im Alltag häufig ihre Eindeutig-

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keit oder werden gar aufgehoben, wenn sie sich mit den Zeichen der verbalen Kommunikation wie auch der Gebärdensprache überlagern. Und zweitens macht sie der rapide materielle Verschleiß schwer lesbar: Zebra- und Parkplatzstreifen entfärben sich, Straßenschilder werden verbogen, Verkehrsampeln fallen aus, die Verkehrsführung ganzer Viertel wird mehrmals umgeändert, was natürlich eine Schilderaufforstung mit sich bringt, elektronisch gesteuerte oder einfache metallene Schranken schließen plötzlich eine Straße, die dem Verkehr jedoch bald wieder preisgegeben wird, während Ton- und Lichtalarme – allzu oft fälschlicherweise – Autodiebstähle signalisieren. Da die Stadt nicht in der Lage ist, diese instabile Zeichenlandschaft zu normalisieren, hat man vor einigen Jahren zu einer alternativen Lösung gegriffen: zur diffusen Überwachung des Territoriums durch Videokameras, die auf Riesenmasten am Straßenrand gehisst werden, und deren Bilder, einmal gespeichert, es (im Falle einer kriminellen oder illegalen Handlung) zu decodieren und zu archivieren gilt. Noch Jahre nach ihrer Installierung sind diese Videokameras jedoch immer noch nicht im Dienst. Speicherprozeduren und semiotischer Kurzschluss, philologische Akribie und Opazität, hermeneutische Auslegung und Unlesbarkeit der Zeichen – darin manifestiert sich Neapels ambivalentes Verhältnis zum Archiv. Seine archivarische Praxis impliziert als eine an sich hegemonische Praxis die Gewalt des Speicherns, Unterordnens und Löschens, eine Gewalt, die in der Vergangenheit gezielt angewandt wurde: Dieselben Archive, auf die sich heute der Stolz des Bildungsbürgertums und der akademischen Schicht gründet, waren einmal ein Werkzeug der Macht (und sie sind es noch heute). Diese Gewalt der Archive kennt Neapel also sehr gut, weil es sie im Zuge seiner Geschichte, die fast ununterbrochen von fremden Herrschern geprägt war, am eigenen Leib erfahren hat. Gewalt ist zudem der explizite Gegenstand einer besonderen Art von Archiven: In den Archiven der Gewalt bewahrt die Staatsanwaltschaft die Dokumente der kriminellen Aktivitäten der Camorra auf. Es wäre jedoch naiv zu denken, nur die Justizbehörden bedienten sich einer solchen archivarischen Praxis, vielmehr ist sie auch für die unternehmerischen Aktivitäten der organisierten Kriminalität unabdingbar – man denke an die Archive der Camorra, die nur mittels einer minutiösen Buchführung ihre Kontrolle über die Ökonomie auch außerhalb Kampaniens ausüben kann.5

5

Zu diesen gehören die mentalen Archive der Camorra, ein für die Kontrolle bestimmter Stadtviertel unersetzliches, auf der Beobachtungskunst der Wachposten basierendes Instrument. An strategisch wichtigen Orten positioniert, registrieren sie alle Vorbeifahrenden. Ihre Arbeit beruht auf der Kenntnis von Namen und Gesichtsszügen, auf dem beachtlichen visuellen Material, das in ihrem Gedächtnis gespeichert ist. So Roberto Saviano: »In der Hochphase des Konflikts durchsuchten die Posten jeden und schauten in jedes Auto. Um die Gesichter einzuordnen [catalogare] und Bewaffnete auszumachen. Zuerst kamen sie mit Mopeds auf einen zu und wollten alles haarklein wissen« (Roberto Saviano, Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra, München 2007, S. 114–115; Original: Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra, 2006).

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Aber Neapel kennt auch eine Gewalt gegen die Archive, eine Gewalt, die die hierarchischen Beziehungen zwischen Daten und Zeichen unterbricht und somit die über- und unterordnende Logik des Diskurses außer Kraft setzt. Ja, man könnte es so formulieren: Das Gesetz des Antiarchivs ist die Parataxe. Dieses Gesetz möchte ich zunächst anhand eines Beispiels aus Roberto Savianos Gomorrha erklären, wo es auf textueller Ebene operiert. Bei der Beschreibung der grenzenlosen Quantität von Waren – vor allem chinesischen Ursprungs –, die in den Hafen Neapels gebracht werden, um die Zollprozeduren umgehen und sie dann illegal auf die Märkte der ganzen Welt verteilen zu können, verwendet Saviano einen parataktischen Stil: »Alles nur Denkbare wird hier durchgeschleust. Durch den Hafen von Neapel. Stoff, Plastikteil, Spielzeug, Hammer, Schuh, Schraubenzieher, Bolzen, Videospiel, Jacke, Hose, Bohrer oder Uhr, es gibt nichts, was nicht den Hafen passiert«.6 Es ist eine Welt des Nebeneinanders: In den Häusern direkt vor dem Hafen hat man alle Zwischenwände abgerissen und sie in unartikulierte, weitflächige Räume zum Ablagern verwandelt; die aus einem gerade hochgehievten Container gefallenen tiefgefrorenen Leichname illegal eingewanderter Chinesen, die Saviano in der schrecklichen Eingangszene seines Buches beschreibt, liegen nebeneinander am Boden zerstreut, zerstückelt, bevor sie eiligst eingesammelt und wieder in den Container geworfen werden, damit sie dann zurück in ihre Heimat transportiert werden können, ohne Spuren zu hinterlassen. »Parataktisch« darf man wohl die Existenzmodalität der nicht registrierten Waren nennen, wenn sich Saviano selbst einer linguistischen Metapher bedient, um ihre doppelte Erscheinungsform auf den Punkt zu bringen: »Die Grammatik der Waren hat eine Syntax für die Papiere, eine andere für den Handel«.7 Dabei spielt die Zeit eine wesentliche Rolle, da alles, wofür keine Steuern bezahlt werden, so schnell wie möglich aus den Containern auszuladen und mittels kleiner, unscheinbarer Lieferwagen zu verteilen ist, damit man es dann billigst irgendwo auf der Welt verkaufen kann. Nur auf diese Weise hinterlassen die Waren keine Spuren auf Papieren, in Statistiken, Datenbanken oder Buchführungen. Ohne Zeit kein Archiv – mit diesem Satz kann man einen weiteren zentralen Aspekt des Archivdiskurses auf den Punkt bringen. Zum Registrieren, Einordnen, Vernetzen, Übertragen, Wiederaufrufen von Daten – kurz gesagt: Für alle archivarische Prozeduren ist Zeit die conditio sine qua non.

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Ebd., S. 12. Ebd., S. 16.

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III. Gewalt gegen die Archive und Rearchivierung Neapels Gewalt gegen die Archive lässt sich an zwei Phänomenen ablesen, bei denen Hypotaxe und Zeit, die oben herausgearbeiteten Bedingungen des Archivs, wesentliche Faktoren sind. Bei dem ersten Phänomen handelt es sich um die Müllkatastrophe, die seit 2007 mit sich wiederholenden akuten Phasen die Stadt plagt und weltweit durch die Medien geht (Abb. 4).8 Ich kann natürlich nicht auf die komplexen Ursachen dieser Krisen (und des noch heute andauernden chronischen Mülldramas) eingehen; hier konzentriere ich mich vielmehr auf die Phänomenologie des Mülls, vor allem des Sperrmülls, der unvermittelt weiter auf die Strasse geworfen wird. Verpackungen, Materialien aller Art, Manufakte, Möbelstücke, Autozubehör, kaputte oder ausgediente Fernsehapparate – das gesamte Entsorgungsgut einer konsumorientierten Gesellschaft endet auf der Strasse, anstatt sortiert, getrennt, gruppiert zu werden nach Kriterien der Kompatibilität, und d. h. primär: anstatt gelesen, aufgelesen, interpretiert und wieder verarbeitet zu werden, nach besonderen ökonomischen, aber auch Sinnprozeduren. Es mag zwar paradox erscheinen, die Mülltrennung (die auf die Operation des Löschens abzielt) mit der Archivierungspraxis (die auf dem Speichern basiert) in Beziehung zu setzen.9 Aber könnte man in der stummen Weigerung der meisten 8

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Im dritten Teil (»Speicher«) von Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (München 42009 [1999]) widmet Aleida Assmann den Beziehungen zwischen Archiv und Müll einige sehr aufschlussreiche Seiten (insbes. S. 383–389). Schon im zweiten Teil schreibt sie vom »Wechsel der Gedächtnismedien von ›sprechenden‹ zu ›stummen‹ Zeugen«, von der »Verlagerung des Interesses [...] auf Spuren«, also auf Zeugnisse, die »nicht zum Dauern bestimmt waren« und so uns etwas von »dem unscheinbaren Alltag« mitteilen sollen: »Hier ist der Weg von Spuren zum Abfall vorgezeichnet« – dem Kulturhistoriker »verwandelt sich [...] Abfall in Information« (ebd., S. 213), Müll in den »verläßlichsten Träger eines inoffiziellen Gedächtnisses« (ebd., S. 215). Vor dem Hintergrund dieses Paradigmenwechsels kann man verstehen, dass Müll in den letzten Jahrzehnten als Thema oder Material in derjenigen Literatur und bildenden Kunst verwendet wird, für die der Gedächtnisdiskurs und somit der Begriff »Archiv« zentral sind. Die Werke jener Künstler, die mit Müll arbeiten, zeigen, »daß der Müll als [...] nicht mehr loszuwerdende Altlast selbst im Begriff ist, die Form der Monumentalität anzunehmen« (ebd., S. 390). Assmann behauptet zwar, dass »[d]as Archiv […] als ein umgekehrtes Spiegelbild zur Mülldeponie betrachtet werden [kann]«, und dass »Archiv und Müllhalde [...] als Embleme und Symptome für das kulturelle Erinnern und Vergessen gelesen werden [können]«; doch sie suggeriert auch folgendes: »Archiv und Müll sind […] nicht nur durch eine bildliche Analogie, sondern auch durch eine gemeinsame Grenze miteinander verbunden, die von Gegenständen in beiden Richtungen überschritten werden kann« (Erinnerungsräume, S. 383). In den Werken jener Künstler, die mit Müll arbeiten (siehe die vorherige Anmerkung 8), zeigt sich, »wie prekär die Grenze ist, die die Kultur zwischen Kunst und Müll, zwischen Archiv und Abfall aufbaut« (Erinnerungsräume, S. 390). Ein weiteres Beispiel für Kontaktpunkte zwischen Archiv und Müll stellt die Tätigkeit des Lumpensammlers dar, der »ordnet und sammelt«, was die Stadt ausstößt, der »die Archive der Ausschweifung« »verwaltet« (ebd., S. 385), wie Baudelaire schreibt (hier zit. von Assmann, die ihrerseits aus Benjamins Passagen-Werk zitiert; interessanterweise lautet der französische Ausdruck im Original: »il [...] catalogue, il [...] collectionne«). Nach Assmann sieht Baudelaire in dieser Figur »explizit die

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Abb. 4: Ein Bild aus der Müllkrise im Juli 2011

Einwohner, sich an die vorgesehenen Entsorgungsregeln zu halten (die Ironie des Schicksals will, dass »Weigerung« auf italienisch »rifiuto« heißt, ein Wort, das auch in der Bedeutung von »Abfall« verwendet wird), könnte man also in dieser Weigerung nicht eine Art Widerstand gegen die einordnende, sortierende, speichernde Tätigkeit – gegen die Arbeit des Archivierens sehen? Das zweite Phänomen: die illegale Bautätigkeit (»abusivismo edilizio«, ein Ausdruck, der nicht zufällig im deutschen Wortschatz keine Entsprechung findet). In Neapel und seinem Umland haben Bauspekulation und illegale Bautätigkeit seit Analogie von Archiv und Müll, [...] ein inverses Gegenbild zum Archivar« (ebd.; als Variante kann der Papiersammler betrachtet werden, der bis in die 80er Jahre mit seinem Dreirad eine typische Erscheinung Neapels war). Dagegen ist Müll nach Bernhard Giesen semiotisch belanglos (»Der Müll und das Heilige«, in: Michael C. Frank, Gabriele Rippl (Hg.), Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann, München 2007, S. 101–110). Im Müll könne man nämlich der »Sinnleere der Natur« begegnen, die Giesen der »erhabenen Natur« entgegenstellt (ebd., S. 102); insofern sei Müll »ein Skandal für die kulturelle Ordnung der Dinge« (ebd.) – kein Informationsträger also, kein »Medium des kulturellen Gedächtnisses«, wie ihn die Herausgeber des eben zitierten Sammelbandes in ihrer Einführung definieren (ebd., S. 23), sondern »sinnlose Stofflichkeit« (ebd., S. 110).

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den 50er Jahren verheerend gewütet, auf eklatante Weise gerade an Orten archäologischen, kunsthistorischen oder naturalistischen Interesses, wie z. B. in den Phlegräischen Feldern. Dort – wie auch im Zentrum Neapels – sind Mauerreste, Grabsteine mit Inschriften und Denkmäler von modernen, meist illegalen, heterogenen Gebäuden und Konstruktionen umlagert, wodurch die Zeichen archivarischer Tätigkeit (Schilder, touristische Informationen, größere oder kleinere Museen und Sammlungen innerhalb eines kulturpädagogisch organisierten Gebiets) sinnentstellt werden. Auch hier, scheint mir, ist derselbe zähe Widerstand am Werk gegen die Absperrung, Abgrenzung, Klassifizierung dieser Räume als besondere Areale, gegen die Konservierung und Speicherung von Fundstücken und Zeichen, also des archäologischen und semiotischen Materials, das dann erforscht, katalogisiert, ausgestellt, medientechnologisch vermittelt werden soll – mit einem Wort: gegen die Archivierung des Territoriums. In beiden Fällen ist die Zeit ein entscheidender Faktor: Den Müll deponiert man so schnell wie möglich und unbeobachtet am Straßenrand, die illegalen Gebäude zieht man in kürzester Zeit hoch. In wenigen Stunden entstehen Stapel heterogenster Warensorten und Stoffe, in wenigen Wochen werden Epochenunterschiede von Jahrtausenden annulliert – Autogaragen in Beton dicht neben Ruinen römischer Thermalbäder. Doch gerade mit der Zeit ruft diese Gewalt gegen die Archive einen paradoxen Effekt hervor: Das entsorgte oder entstellte Archiv rearchiviert sich ständig.10 An den Mülldeponien unter freiem Himmel kann man seit 2007 immer wieder (wie auch in diesem Sommer 2011) wochenlang eine kleine Geschichte der Konsumgewohnheiten der Neapolitaner ablesen.11 Ich zitiere aus den Bildern, die sich mir eingeprägt haben: ausgediente Boiler und Kühlschränke, Anrichten aus den 60er Jahren, die Reifen eines Simcas, unzeitgemäße Formen und Gegenstände, aber auch Reste unserer Mahlzeiten, ganze Stapel einer Sportzeitschrift mit den Fussbaldhelden der 80er, und dann abgenutzte Materialien (so bekommt man in Deutschland z. B. nur schwerlich zu sehen, wie Plastik veralten kann). Es ist, als

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Selbst wenn man den Müll so spektakulär loswird, selbst »beim ekstatischen Sperrmülltreiben« – dem Volker Grassmuck und Christian Unverzagt (Das Müll-System. Eine metarealistische Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1991, S. 17) interessanterweise auf psychologischer Ebene das »Paradigma der Mülltrennung« als Akt der »Selbstbeherrschung« (ebd.) entgegensetzen – befreit man sich nicht davon: »Es gibt [...] keine Ent-Zeichnung der Dinge, keinen Verfall von Information. Die Kippe ist ein Ort der Erkenntnis wie jeder andere auch« (ebd., S. 80). So betreibt Neapel auf eklatante Weise das »Wegkippen« als eine der »Techniken des Vergessens« (ebd., S. 176) – gerade während der Müllkrise hat man jedoch dramatisch feststellen müssen, dass diese antiarchivarische Technik nicht funktioniert. Grassmuck und Unverzagt bedienen sich semiotischer Termini, wenn sie von der »Kryptoanalyse des Mülls« schreiben, durch die man »das Konsumverhalten eines Haushalts« rekonstruieren kann: Spezialisten sind in der Lage, »die signifikanten Müllpartikel von den redundanten zu unterscheiden und schließlich Einzel- und Gesamtaussage zu decodieren« (Das Müll-System, S. 76).

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würde man einen Blick in das überdimensionale Lager eines anthropologischen Museums werfen.12 Es gibt auch Beispiele, wo das verdrängte Archiv aus der Tiefe – der Erde oder des Wassers – wieder auftaucht. Im Hinterland Neapels und in der Provinz Caserta, in stillgelegten Steinbrüchen, auf Gemüsefeldern, neben Wohnhäusern, auf Lagerflächen im Industriegebiet entdeckt man ständig neue illegale Mülldeponien, wo oft hochgiftige Stoffe in Fässern begraben liegen, die mit der Zeit lecken und Erde, Luft, Wasserquellen verschmutzen. Die Entsorgungsprozeduren und Ermittlungsverfahren, die dann in Gang gesetzt werden, zielen darauf ab, die Genealogie dieser toxischen Abfälle zu rekonstruieren: molekulare Struktur der Stoffe, Hersteller, Quantität, Transportwege. Es handelt sich im Grunde um archivarische Prozeduren, die auch zur Anwendung kommen, wenn man im Wasser sucht. Dies geht aus dem folgenden Beispiel deutlich hervor, das allerdings nicht direkt mit Neapel und Kampanien zu tun hat, sondern mit einer anderen Region Süditaliens. Ein sogenannter »pentito«, ein Angehöriger der ’Ndrangheta, der kriminellen Organisation Kalabriens, der jetzt mit der Justiz zusammenarbeitet, hat vor wenigen Monaten angegeben, wo auf offener See vor der tyrrhenischen Küste ein Schiff (ein Wrackschiff) samt seiner illegalen Ladung von toxischen Stoffen gesprengt und versenkt wurde. Das Meer als Mülldeponie für die gesundheitsschädlichen Abfälle der Chemie- oder Schwerindustrie – das Ganze, natürlich, für gutes Schwarzgeld. Die vom Gesetz vorgeschriebenen Entsorgungsprozeduren kämen den Firmen allerdings viel teurer. Und das ist leider kein Einzelfall: Dieser »Entsorgungsspezialist«, der jetzt ausgepackt hat, hat von ungefähr 30 solchen Schiffen im Mittelmeer gesprochen. In den Tagen nach seinem Verhör hat ein U-Boot Bilder von dem Wrack aus nächster Nähe auf12

Dass Müll ein Forschungsgegenstand archäologischen Interesses sein kann, ist sicherlich nichts Neues. Vor fast zwanzig Jahren haben z. B. Rathje und Murphy in ihrer großangelegten Studie Fresh Kills in New York City, die weltweit größte Mülldeponie, als »the largest archaeological site in the world«, als »a treasure trove [...] of artifacts from the most advanced civilization the planet has ever seen« definiert (William Rathje, Cullen Murphy, Rubbish! The Archaeology of Garbage, New York 1992, S. 3) – vergleichbar mit Pompeji und dem Tal der Könige (ebd.), mit der Großen Pyramide von Gizeh, der Sonnenpyramide von Teotihuacán und der Chinesischen Mauer (ebd., S. 4). Die Autoren stellen eine Gleichung her zwischen der zeitlichen Substanz von antiken Denkmälern und der von Müllhalden, was aufgrund ihrer materiellen und kulturellen Verschiedenheit auf dem ersten Blick befremdend wirken kann. Während wir gemeinhin Müll als das vergänglichste unter den menschlichen Produkten verstehen, unterstreichen Rathje und Murphy seine Dauerhaftigkeit, die ihm einen semiotischen Wert verleiht: »garbage seems to have more staying power [than the human beings], and a power to inform across the millennia that complements (and often substitutes for) that of the written word« (ebd., S. 11). So können sie behaupten, dass »Garbage is among humanity’s most prodigious physical legacies to those who have yet to be born« (ebd., S. 4), wobei Archäologie und Müllforschung ähnliche Prozeduren aufweisen: »a landfill excavation is archaeology of the laborious kind« (ebd., S. 28); und umgekehrt: »It is not entirely fanciful to define archaeology as the discipline that tries to understand old garbage« (ebd., S.10).

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genommen, auf der Suche nach sensiblen Daten, wie dem Namen des Schiffs auf den Flanken und eventuellen Beschriftungen auf den Giftstofffässern. Ein dramatisch aktueller, der Müllkatastrophe in Neapel ähnlicher Fall, der – so scheint mir – den paradoxen Effekt der Rearchivierung gut veranschaulicht. Bei der korrekten Entsorgung dieses Sondermülls greift man zu archivarischen Prozeduren, um die Verfahrensmomente der Herstellung, Verfrachtung, Verlagerung bis zur Vernichtung bzw. Endlagerung zu registrieren. All die Stoffe, deren Spur (Zahlen und Namen, Unterschriften und Protokolle) in solchen gesetzwidrigen Fällen hingegen vorsätzlich gelöscht oder gefälscht wurde, muss man im Nachhinein aufspüren und mittels unterseeischer Nachforschungen rearchivieren. Denselben Prozess der Rearchivierung kann man bei der illegalen Bautätigkeit beobachten: Marmor, Ziegel, Stein finden sich oft gepaart mit Beton, Aluminium, Kunststoff – alles nebeneinander, Materialien einer Baugeschichte, die sich schamlos exhibiert. Man hat sich die archivierten, musealisierten Teile der Landschaft angeeignet, refunktionalisiert und reästhetisiert, um sie kontaminierend weiter zu benutzen, so dass ein stets neues Archiv entsteht. Läuft man durch Bacoli, Baia oder Pozzuoli, so kann man sehen, wie die Stadt wuchert und die Räume einengt, die als museale Einrichtungen einer anderen Normierung unterstellt sind, wie die Stadt sie ignoriert, negiert oder aber versucht, sie in Beschlag zu nehmen, zu »normalisieren«, zu entarchivieren. Dabei sind die illegalen Neubauten nunmehr selbst Teile eines Art archäologischen Parks, Exponate eines Open-air-Museums für industrielle Archäologie und Wohnsitten. Übrigens hat Goethe vielleicht als erster dieses Phänomen intuitiv erfasst, und zwar noch vor seiner Reise nach Italien, als er 1772 die berühmte sentimentalische Idylle Der Wanderer13 geschrieben hat, in der der nördliche Wanderer in der Nähe von Cuma, in den Phlegräischen Feldern, einer Bäuerin bei ihrer Hütte begegnet, die mit Marmorstücken, Architraven, Säulen und anderen Ruinen aus einem antiken Tempel zusammengezimmert ist. Der Wanderer, der das allerdings als Renaturalisierung der Kunst und somit klassizistisch als organischen Triumph der metamorphischen Antike feiert, kommt in die Hütte und bestaunt sie als ein lebendiges Archiv, wie man seiner Wortwahl entnehmen kann. In einem für den Boden verwendeten Stein liest er eine Inschrift (»Der Venus«, V. 37), in einem anderen sieht er ein Siegel geprägt (das Siegel des »bildende[n] Geist[es]«, V. 33); aber er findet auch »Spuren ordnender Menschenhand« (V. 27), also die Spuren eines modernen Eingriffs, der das Werk des antiken schöpferischen Geistes weitergeführt hat, da der Vater der Frau »zwischen das Gemäuer her / Die Hütte baute [...] / Aus Ziegeln und des Schuttes Steinen« (V. 118–120). Archäologie und Handwerk, die Kunst eines alten Meisters und die Bricolage-Technik der Wiederverwendung alten Baumaterials, und dazu das Werk der Natur, die hier die Archivistin spielt, indem sie 13

Johann Wolfgang Goethe, Der Wanderer, in: ders., Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, 14 Bde., hg. von Erich Trunz, München 1981, Bd. I, S. 36–42.

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mit Grün bedeckt und einstürzen lässt, Rohstoffe anbietet und die daraus resultierenden neuen Erzeugnisse sich wieder einverleibt, so dass durch ihre zeitregelnde Tätigkeit die verschiedenen Zeugnisse der verschiedenen Epochen reorganisiert, wieder eingeordnet und gespeichert werden.14

IV. Semiotik des Todes Auch im Bereich des Todes zeigt sich Neapels ambivalentes Verhältnis zum Archiv. Dieses Thema ist für Neapel besonders relevant, weil Neapel eine anthropologisch sehr interessante und gut erforschte Todeskultur hat, mit vielen Ritualen und Orten des Todes, deren Sakralität sich zum guten Teil – wie übrigens im ganzen Süditalien – aus vorchristlichen, heidnischen Sitten und Symbolen speist. Desto dramatischer erscheint der Prozess der Verdinglichung und der Entsemiotisierung des Todes, der die Folge krimineller Interessen ist und bemerkenswerte Kontaktpunkte mit der Müllproblematik aufweist. Kann man generell den Tod als die gewissermaßen letzte Figur des Archivs betrachten, indem die Identitäten von toten Menschen endgültig archiviert werden, so wird der Friedhof zum großen Archivbuch einer Gemeinschaft. Grabsteine, Inschriften, Strukturierung des Geländes, Verteilung des Raumes sind Zeichen eines semiotischen Universums, durch die die Lebensdaten einzelner Menschen, die Abstammung ganzer Familien und ein guter Teil der Stadtgeschichte gespeichert werden. Würde man die topographische Erkundung mit den Daten kreuzen, die man aus dem Kataster gewinnen kann (Eigentümer der Grabnischen und der Kapellen, Mietverträge, Immobilienwerte), sowie mit den Vorschriften der Friedhofsverordnung (kurialer, privater bzw. staatlicher Anteil an dem Bestattungs- und Pflegedienst), so könnte man eine überaus informationsreiche Bestandsaufnahme der Markt- und Machtverhältnisse machen, ein nicht nur anthropologisch, sondern auch soziologisch interessantes Portrait der Stadt entwerfen. Zumal der »Cimitero monumentale di Poggioreale«, der große Friedhof Neapels, mit seinen monumentalen Gebäuden und den Privatkapellen der wohlhabenden Familien ein Archiv des sepulkralen Geschmacks und der Trauerdarstellungen ist, übrigens ein 14

Die Szenographie dieser Idylle ist wohl von der in jenen Jahren schon soliden ikonographischen Tradition der Ruinenlandschaft inspiriert, die u. a. das Sujet von vielen Bildern eines für Neapel typischen Malereigenres des 18. und 19. Jahrhunderts liefert: der Gouache. Hier ist darauf hinzuweisen, dass dieselbe Szenographie auch in der neapolitanischen Weihnachtskrippe zu finden ist, wo die Hütte, in der das Jesuskind liegt, oft aus Ruinen besteht (aus Stücken römischen Mauerwerks, mit der unvermeidlichen Säule, abgebrochen oder mit Kapitell, gelegentlich mit einem halben Bogen versehen), um die sich Laubwerk und Äste üppig ranken. Und wie die Urszene der Krippendramaturgie die Geburt Jesu ist, so ist der ideelle Kern von Der Wanderer gerade das Kleinkind, das in der Hütte schläft und dann von der Mutter gestillt wird, als Zeugnis der keimenden, unendlich wieder sprießenden Kraft der Natur.

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gutes Beispiel für den Eklektizismus der Stile, wo sich barockes Prunkimitat mit altägyptischer Todesästhetik und anderen feierlich antikisierenden Baukünsten mischt. Was den Friedhof Neapels einmalig macht, ist seine Porosität.15 Er ist keine Insel der Ruhe, kein abgeschlossener und von der pulsierenden Stadt abgetrennter Ort, sondern so etwas wie ein besonderes Viertel von ihr. Man kann auf seinen Wegen Motorräder, Bettler, sogar illegale Parkwächter finden – Autoalarm anstatt Andacht. Vor allem hat die Kriminalität ihre Hand auf dem Friedhof Neapel und kontrolliert zum guten Teil die verschiedenen Branchen: Blumen- und Devotionalienverkauf, Grabnischenmarkt (wegen Raummangels sind sie eine wertvolle Ware), Bestattungen. In diesem Durcheinander, in dieser Grauzone der Legalität verändern skrupellose Menschen die Ordnung (auch im ganz konkreten, räumlichen Sinn) zu ihrem persönlichen Gewinnn. Es darf nicht wundern, dass die zwei oben erwähnten, die archivarische Praxis bestimmenden Kategorien von Hypotaxe und Zeit gerade beim Friedhof besonders evident am Werk sind. Die Friedhofsverordnung legt fest, dass ein Leichnam mindestens fünf Jahre im Holzsarg unter der Erde liegen muss, bevor er gewaschen und vorschriftsmäßig behandelt wird. Erst danach darf man die Reste in den Grabnischen beisetzen, die meist vertikal übereinander in die marmornen Wände der zahlreichen Grabgebäude eingelassen sind. Selbstverständlich kosten die auf Augenhöhe liegenden Nischen, die man bequem im Stehen erreicht, um Blumen oder Lichter anzubringen, erheblich mehr als die auch um 4 oder 5 Meter höher liegenden, an die man nur mit Hilfe einer Leiter kommt. Nur die vornehmen Familien lassen ihre Toten in den Privatkapellen beisetzen, die kleinen Tempeln ähnlich sind und einen abgetrennten, privilegierten Raum innerhalb der Totengemeinde für sich in Anspruch nehmen. 15

In seinem angeblich zusammen mit Asja Lacis verfassten Prosastück Neapel (erschienen 1925) versucht Benjamin mittels der Kategorie Porosität das Spezifische Neapels zu definieren: »Porosität ist das unerschöpflich neu zu entdeckende Gesetz dieses Lebens« (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt am Main 1972–1991, Bd. IV/1, hg. von Tillman Rexroth, S. 311). Porös ist in Neapel nicht nur die Materie, etwa der Tuffstein, auf dem und aus dem die Stadt gebaut wurde (ebd., S. 309), oder die Eisgetränke, die »blassen aromatischen Säft[e], an denen selbst die Zunge lernt, was es mit der Porosität für eine Bewandtnis hat« (ebd., S. 311), sondern auch: die Architektur; die Cafés, »[w]ahre Laboratorien dieses großen Durchdringungsprozesses«, in denen sich »[d]as Leben [...] nicht setzen [kann], um zu stagnieren« (ebd., S. 316), weil ihre Schwelle durchlässig und der Kundenverkehr unaufhaltsam ist; die private Sphäre, deren Grenze zum »Gemeinschaftsleben« fließend ist (»Ausgeteilt, porös und durchsetzt ist das Privatleben«, ebd., S. 314); die Werktage, die von kleinen Partikeln Feiertage durchdrungen sind, und umgekehrt (ebd., S. 311). In einer Stadt, in der nichts »fertiggemacht und abgeschlossen wird« (ebd., S. 310), kann auch der Friedhof, der Ort des Endgültigen schlechthin, nur porös sein. Zu Benjamins Neapelbild siehe Stefan Bub, »Porosität und Gassengeschlinge. Siegfried Kracauers und Walter Benjamins mediterrane Städtebilder«, in: KulturPoetik 10/1 (2010), S. 48–61.

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Diese Archivierungspraxis wird jedoch unterlaufen, indem die Zeitspanne, die die Leichname unter der Erde verbringen, illegal verkürzt wird. Schon nach wenigen Monaten exhumiert man sie, um ihren Platz den Familienangehörigen neu hinzukommender Leichname zu verkaufen. Kommt es zu einer Nicht-Entsprechung von Referenz und Zeichen, so wirkt diese im Fall des Friedhofs – also wenn Leiche und Namen des Toten einander nicht entsprechen – besonders beunruhigend. Bemerkenswert ist, dass oft die Zeichen selbst verschoben werden: Nachdem man die Erdgräber geleert hat, kann es vorkommen, dass zusammen mit ihnen auch der entsprechende Grabstein illegal verkauft wird, um ihn mit neuen Inschriften zu signieren und weiter zu verwenden. Begreift man das Archiv als eine auf rigoroser Registrierung und Speicherung von Daten basierende Praxis, und demzufolge den Friedhof als das Archiv schlechthin, als einen Ort, wo die Zeichen für die Ewigkeit stabilisiert werden und zur letzten Ruhe kommen, dann belehrt uns der Friedhof Neapels (wie auch die kleineren auf dem Umland) eines anderen. Die Ökonomie der Stadt dringt in den sakralen Raum des Gedächtnisses ein und erhebt ihren Anspruch auf ihn – so müssen die Behörden regelmäßig eingreifen, um illegale Hütten, aber auch ganze Gebäude innerhalb des Friedhofs abzureißen. Anspruch sogar auf die Materialien, die recycelt werden (z. B. indem man das Holz der Särge nach der Exhumierung zum Heizen benutzt oder die schon in Vasen vor den Nischen gesteckten Blumen so schnell wie möglich einsammelt und wieder verkauft), oder auf die parzellierten Räume (in längere Zeit leerstehenden Wandnischen oder monumentalen, von keinen Verwandten mehr besuchten Kapellen findet man gelegentlich »anonyme« Leichname). In solchen (zahlenmäßig begrenzten, aber bedeutenden Fällen) bleibt die endgültige Codierung einer Existenz aus. Die Ökonomie der Lebenden dringt in die Stadt der Toten ein, sie entauratisiert oder löscht gar die Identität eines Menschen, indem sie die Zeit verkürzt (das Warten auf die Skelettwerdung) und die Syntax vom Tode suspendiert (das Verhältnis zwischen Unten und Oben, Beerdigung und Beisetzung in Wandnischen oder Kapellen).

V. Schluss Neapel ist einerseits die Stadt der Museen, der Sammlungen, der Ausgrabungen, der Archive, mit allem, was dazu gehört: Historiker, Archäologen, Techniker und Philologen der Vergangenheit, der Heimatgeschichte, Kunstspezialisten, Forscher der Antike, des Mittelalters, des Barocks; eine Stadt, die – stolz auf die eigene Vergangenheit – den melancholischen Diskurs ihrer einstigen Grandezza mit oft unerträglicher Rhetorik immer wieder neu produziert und sich als ehemalige Hauptstadt selbst zelebriert. Andererseits verübt Neapel Gewalt gegen die eigenen Archive und suspendiert ständig die eigene archivarische Praxis. Es handelt sich um keinen selbstbewussten Befreiungsversuch, keinen subversiven Akt, sondern wohl eher um

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eine Art Unduldsamkeit gegenüber dem Gewicht der Geschichte, gegenüber der hypotaktischen Struktur des eigenen Diskurses, dessen Zeichen von einer unerbittlichen Tendenz zur Stabilisierung geprägt sind. In seinen gesetzwidrigen (oder gar kriminellen) so wie in seinen anarchischen Lebens- und Kommunikationsformen muss Neapel aber jedesmal erfahren, wie jede Praxis sich mit der Zeit rearchivieren lässt, wie die unerhörte, manchmal skandalöse Austauschbarkeit der Zeichen letztendlich ins Archiv mündet – spätestens durch das elektronische Auge der überwachenden Videokameras. Diese Stadt, die sich – um mit Derrida zu sprechen – dem Archiv verschrieben hat, leidet unverkennbar an einem mal d’archive.16

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Hier verstehe ich den französischen Ausdruck im Sinne der Selbstauslegung Derridas, der »von einem mal d’archive, einem Archivübel / einem Verlangen nach dem Archiv« spricht (Dem Archiv verschrieben, S. 158–159). Das Wort »mal« kann nach Derrida nämlich etwas anders als »Übel« oder »Störung«, es kann auch »Leidenschaft« heißen: »Es [= être en mal d’archive] heißt unaufhörlich, unendlich nach dem Archiv suchen müssen, da, wo es sich entzieht. Es heißt, ihm nachlaufen, da, wo [...] etwas darin sich anarchiviert« (ebd., S. 161). Derridas Intuition dieser Widersprüchlichkeit scheint mir besonders fruchtbar, um Neapels gespaltenes Verhältnis zum Archiv darzustellen.

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Das Archiv als Rüstkammer Die spirituelle Gewalt des archivum ecclesiae Remensis Christian Jaser

1. Magpie’s nests – Klöster, Bischofskirchen und ihre »Familien«-Archive »Claustrum sine armario, quasi castrum sine armamentario« – »Ein Kloster ohne Bibliothek ist wie eine Burg ohne Rüstkammer«: Mit diesem alliterativen Wortspiel versuchte der normannische Regularkanoniker Gottfried von St. Barbe-en-Auge um 1170 seinen Briefpartner Petrus Mangot davon zu überzeugen, dass das neugegründete Filialkloster der Zisterzienserabtei Loroux unbedingt mit Büchern ausgestattet werden müsste. Denn die dortige Mönchsgemeinschaft, so der Briefschreiber weiter, könne nur dann zu einer Tag und Nacht gegen geistliche Anfechtungen kämpfenden militia Christi werden, wenn sie entsprechend bewaffnet würde: »Die Bibliothek ist unsere Rüstkammer. Dort holen wir im Kampf gegen unsere Feinde die Urteilssprüche des göttlichen Gesetzes hervor, gleichsam wie scharfe Pfeile. Von dort erhalten wir den Harnisch der Gerechtigkeit, den Helm das Heils, den Schild des Glaubens, schließlich das Schwert des Geistes, nämlich das Wort Gottes«.1 Im Waffenarsenal einer klösterlichen Burg (vestrae munitionis armamentario) dürfe eine Bibliothek nicht fehlen, denn nur sie verspricht höchsten Schutz (summa munitio).2 Tatsächlich erweisen sich in der Rückschau die Klöster und Bischofskirchen des frühmittelalterlichen Westeuropa als Bibliotheksstandorte ersten Ranges, als Inseln der Produktion, Rezeption und Aufbewahrung von Schriftlichkeit, auch wenn die Laienliteralität gerade in karolingischer Zeit (750–900) nicht, wie früher üblich, unterschätzt werden darf.3 Dennoch waren es vor allem kirchliche Akteure und Institutionen, die den Transformationsprozess des Frankenreiches in eine vom schriftlichen Wort abhängige Gesellschaft einleiteten und prägten, die das geschriebene Wort zu einem »fundamental element of Carolingian culture«4 (Rosamond 1

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Geoffroy de Breteuil, Epistola XVIII ad Petrum Mangot, in: Jean-Paul Migne (Hg.), Patrologiae Cursus Completus, Series Latina, Bd. 205, Paris 1855, Sp. 845. Vgl. Raymund Kottje, »Claustra sine armario? Zum Unterschied von Kloster und Stift im Mittelalter«, in: Joachim F. Angerer, Josef Lenzenweger (Hg.), Consuetudines monasticae. Eine Festgabe für Kassius Hallinger aus Anlass seines 70. Geburtstages, Rom 1982, S. 125–144. Geoffroy de Breteuil, Epistola XVIII ad Petrum Mangot, Sp. 845. Dagegen richtet sich zu Recht Rosamond McKitterick, The Carolingians and the written word, Cambridge 1989, insbes. S. 36 f. Ebd., S. 2.

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McKitterick) machten. Im Vergleich zur Antike lassen sich wohl kein allumfassender Niedergang der Schriftkultur, wohl aber einschneidende qualitative Veränderungen festmachen.5 Denn an die Stelle des paganen Literaturbetriebs und der schriftlichen Verwaltungspraxis des Imperiums, der die christlichen Gemeinden der Spätantike eher distanziert gegenübergestanden waren,6 trat im Frühmittelalter eine Schriftkultur, die weitgehend7 auf das jenseitige Leben und seine Vorbereitung im Diesseits ausgerichtet war. Träger dieser christlichen Literalität, die nicht nur die Heilige Schrift, sondern einen ganzen Kanon heiliger Bücher mit exegetischen, moralisch-erbaulichen und liturgischen Funktionen umfasste, waren vornehmlich Klöster und Bischofskirchen, punktuelle »textual communities«8 (Brian Stock), deren Verschriftungsagenda zudem mit Textgenres wie Hagiographien, Mirakelberichten oder speziellen Liturgien einer lokalen Eigenlogik folgte. Denn auch wenn diese kirchlichen Institutionen sich allesamt der Kommunikation mit der transzendenten Macht Gottes widmeten, versuchten sie sich jeweils ein selbständiges Profil zu verschaffen, was mit Interaktion und Konkurrenz verbunden war. Berücksichtigt man ferner, dass sich Abt und Konvent bzw. Bischof und Domkleriker – inklusive der ihnen untergebenen Personengruppen – als familia, als Hausgenossenschaft, verstanden, die sich um den transzendenten Patron, d. h. um den jeweils lokal verehrten und über das Medium der Reliquien auch physisch präsenten Heiligen, scharte,9 dann lässt sich die kirchliche Archivlandschaft des Frühmittel-

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Siehe Hagen Keller, »Vom ›heiligen Buch‹ zur ›Buchführung‹. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter«, in: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), S. 1–31, hier S. 14. Vgl. Hanns Peter Neuheuser, »Rechtssicherung durch Sakralisierung. Die Eintragung von Rechtstexten in liturgische Handschriften«, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 121 (2004), S. 355–405. Keller, »Vom ›heiligen Buch‹ zur ›Buchführung‹«, S. 11, S. 13 und S. 14. McKitterick, The Carolingians and the written word, S. 23, weist allerdings darauf hin, dass in karolingischer Zeit auch die Schriftlichkeit im Bereich des weltlichen Rechts und Verwaltung wieder einen enormen Aufschwung nahm. Allerdings ist die zeitgleiche Konjunktur des religiösen Schriftgutes schon aufgrund der stabileren Überlieferungslage klarer erkennbar. Der mikroskopische Blick auf Einzelkommunitäten anstelle der einen christlichen »Textgemeinde« passt gut zu Stocks enger Definiton von »textual communities« als »microsocieties organized around the common understanding of a script« (Brian Stock, Listening for the Text. On the Uses of the Past, Baltimore, London 1990, S. 23). Vgl. K. Schulz, Art. ›Familia‹, in: Lexikon des Mittelalters, 9 Bde., München 1980–1998, Bd. 4, Sp. 254–256, und Heinrich Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, München 1992, S. 165–169. Zur Reziprozität von geistlicher Gemeinschaft und heiligem Patron vgl. z. B. auch Patrick Geary, »Humiliation of Saints«, in: ders., Living with the Dead in the Middle Ages, Ithaca, London 1994, S. 95–115, hier S. 95.

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alters als Netz von »Familien«-Archiven10 beschreiben. Entsprechend glichen deren Bestände einem Sammelsurium transgenerationell angehäufter Erinnerungsstücke: Neben schriftlichen Dokumenten, d. h. heiligen Büchern, liturgischen Codices, Urkunden usw. befanden sich dort auch Reliquien, Kelche, Ringe, hölzerne Stäbe, Messer und andere symbolische Objekte.11 Kurzum: Aus moderner Sicht haben wir hier bei den frühmittelalterlichen Archiven von Klöstern und Bischofskirchen eher mit einen »magpie’s nest« (M.T. Clanchy) als mit einem Ablagesystem für Dokumente zu tun12 – nicht von ungefähr wurde ein solches Ensemble regelmäßig als »Schatz« apostrophiert, der aus heterogenen Wertgegenständen bestand und bereits durch die Präsenz einer Anhäufung eine essentielle symbolische Funktion erfüllte.13 Infolgedessen ist die moderne kategoriale Unterscheidung zwischen Büchern und Archivalien auf unseren Untersuchungszeitraum, also auf das 9. und 10. Jahrhundert, ebensowenig anzuwenden wie die funktionale Differenzierung zwischen Bibliothek und Archiv, Bibliothekar und Archivar.14 Aufgrund des überschaubaren Umfangs mittelalterlicher Büchersammlungen – einige hundert Bände galten schon als ansehnlich15 – und des geringen Platzbedarfs der gefalteten Pergamenturkunden16 war die Aufbewahrung des gesamten Schriftguts eines Klosters bzw. einer Bischofskirche an einem oder mehreren Ort(en) – meist in der Nähe der Sakristei oder des Scriptoriums – unter der Aufsicht eines einzelnen Bediensteten in der Regel ausreichend.17 Entspre-

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Vgl. zur Heterogenität als Kennzeichen von Familienarchiven auch Moritz Baßler, »Was nicht ins Archiv kommt. Zur Analysierbarkeit kultureller Selektion«, in: Daniel Tyradellis, Burkhardt Wolf (Hg.), Die Szene der Gewalt. Bilder, Codes und Materialitäten, Frankfurt am Main 2007, S. 61–75, hier S. 61–62. Siehe M.T. Clanchy, From Memory to Written Record: England 1066–1307, Oxford, Cambridge (MA) 21993, S. 156. Zur Aufbewahrung von Reliquien vgl. auch Heinrich Fichtenau, »Zum Reliquienwesen im früheren Mittelalter«, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 60 (1952), S. 60–89, hier S. 75. Ebd. Sébastien Barret, La mémoire et l’écrit: l’abbaye de Cluny et ses archives (Xe-XVIIIe siècle), Münster 2004, S. 402. Vgl. dazu auch McKitterick, The Carolingians and the written word, S. 157, die in ihrem Kapitel »Book as Wealth« zeigt, dass Buchbesitz in karolingischer Zeit allgemein als Indiz für Wohlstand und Status galt. Vgl. zu königlichen Bücherschätzen auch Matthias Hardt, Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige, Berlin 2004, insbes. S. 355. Barret, La mémoire et l’écrit, S. 16 und S. 92. Vgl. auch den Artikel ›archivum‹ im Mittellateinischen Wörterbuch, Bd. 1, Berlin 1967, Sp. 900 f., der die terminologische Bandbreite des Begriffs in der mittelalterlichen Überlieferung vorstellt: Im engeren Sinne Archiv(-gebäude, -raum), Archivalienbehältnis, im weiteren Sinne Bibliothek(sraum), Bücherschrank, Schatzkammer, -haus, -kapelle. Albert Derolez, Günter Bernt, Art. ›Bibliothek. A. Allgemein. Europa‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, Sp. 113 f. Heinrich Fichtenau, »Archive der Karolingerzeit«, in: ders., Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2: Urkundenforschung, Stuttgart 1977, S. 115–125, hier S. 118 f. Vgl. die Definition des Bibliothekarsamtes von J. Semmler, Art. ›Bibliothecarius‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, S. 111: »Im Mittelalter Kustode von Büchern, Archivalien und anderen Schätzen einer Gemeinschaft oder einer Behörde«.

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chend breit präsentiert sich das Begriffsspektrum für jenen Ort, an dem sich die aufbewahrungswerten Gegenstände eines Klosters bzw. einer Bischofskirche befanden: tabularium, archi(v)um, scrinium,18 vor allem aber armarium, das sich mit seiner Bedeutungsbandbreite – Schrank, abschließbare Wandnische, Bücherschrank – geradezu zum Synonym für das Archiv oder, wie am Beispiel des eingangs zitierten Wortspiels ersichtlich ist, die Bibliothek eines Klosters bzw. einer Bischofskirche aufschwang.19 Angesichts dieses terminologischen Befundes, der an einen eher geringen Institutionalisierungsgrad, eher an Archiv-Behälter als an Archiv-Architekturen denken lässt, muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass sich die »Familien«-Archive der geistlichen Einrichtungen in ein wie immer geartetes hierarchisches Gefüge von zentralisierten Registraturen und partiellen Lokalüberlieferungen einfügen ließe. Vielmehr folgen die ortsfesten Klöster und Bischofskirchen der Karolingerzeit, die sich weit nachhaltiger als laikale Akteure mit der Produktion und Archivierung von schriftlichen Dokumenten beschäftigten, in ihrem Archivierungshorizont einer ausgemachten pro domo-Logik, denn sie kumulieren in ihren Armarien, Schreinen und Nischen vorrangig Schriftstücke und Gegenstände, die Identität stiften und stabilisieren, die rechtsrelevant sind, die Besitzstände und -ansprüche dokumentieren, die insofern eine Schaltstelle zwischen Innen und Außen, zwischen transzendenter Gründerfigur, aktueller Gemeinschaft und ihrer sozialen Umgebung markieren. Insofern ist die Archivlandschaft des 9./10. Jahrhunderts von einem Neben- und Gegeneinander archivalischer »Rüstkammern« gekennzeichnet, die sich in einem stetigen Wettbewerb um – im Sinne Bourdieus – ökonomisches (Besitz und Landbesitz) und symbolisches (Attraktivität des transzendenten Patrons) Kapital befinden. Dabei bildet das jeweilige kirchliche Archiv ein Konfliktund Interventionsinstrument, das angesichts von fluktuierenden Besitzverhältnissen und langfristig kollidierenden Rechtsansprüchen in einem strikt lokalen Rahmen agiert: gegen konkurrierende Archive anderer geistlicher Institute, aber auch gegen mündlich oder gewohnheitsrechtlich formulierte bzw. auf der via facti realisierte Interessen weltlicher Akteure. Angesichts einer solchen Archivlandschaft, die zentrifugal aufgestellt ist und einer lokalen Eigenlogik folgt, ist das ›Archiv‹ im Gang der folgenden Analyse – versus Foucault – nicht als singuläres Abstraktum,20 sondern 18

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Zum ›tabularium‹: Charles DuFresne DuCange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 8, Niort 1887, S. 9. Zum ›archi(v)um‹: K. Colberg, Art. »Archiv«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Sp. 901, und die Angaben in Anm. 14. Zum ›scrinium‹: G. Wirth, Art. ›Scrinium‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Sp. 1654. Siehe dazu auch allgemein Fichtenau, Archive der Karolingerzeit, S. 115–117. Vgl. Günter Binding, Art. ›Armarium‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Sp. 964. Siehe zur französischen Diskussion um das Archiv als singuläres (»archive«) oder plurales Konzept (»archives«) Barret, La mémoire et l’écrit, S. 17–19, der für seine Analyse des Klosterarchivs von Cluny den pluralen Archivbegriff zugrundelegt, da das Foucaultsche »archive« sich in seinen Augen zu sehr im Abstrakten verliert: »Il [d. h. das singuläre Archiv, Ch.J.] tend en effet à gommer ce que l’objet ›archives‹ a d’intrinséquement pratique et concret, d’accidentel, de multiple, non seule-

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»real existierend«,21 begrenzt, plural, konkurrent und historisch gebunden zu denken. Nur auf diese Weise, nur mit Blick auf archivarische Prozeduren im historischen Kontext lässt sich meines Erachtens die Leitfrage der Untersuchung nach dem spezifischen Gewaltcharakter frühmittelalterlicher Kirchenarchive hinreichend beantworten.

2. Archive im Konflikt: spirituelle Gewalt Was Max Weber zu einem allgemeinen Prinzip erhebt: »Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig ausgerichtet«,22 gilt auch für die frühmittelalterlichen Bischofskirchen und Klöster. Während letztere vor der paradoxen Aufgabe standen, »eine Art von Selbstexklusion aus der Gesellschaft in der Gesellschaft zu vollziehen«,23 waren erstere aufgrund ihres Seelsorge- und Jurisdiktionsauftrags eng mit laikalen Entscheidungsträgern der Kathedralstadt und ihres Umlandes verwoben. Die herausragende politische Bedeutung beider Institutionen lässt sich vor allem auch an ihrem Großgrundbesitz festmachen, der aus einer oftmals jahrhundertelangen Erwerbsgeschichte resultierte und ihnen die entscheidenden Machtmittel der Feudalzeit zuspielte: verschiedenste Kategorien von Land und die darauf lebenden und arbeitenden Menschen, Vasallen und fronabhängige Bauern.24 Aufgrund der schieren Größe ihrer Domänen,25 aber auch aufgrund ihres angreifbaren Streubesitzes und der generell fluktuierenden Besitzverhältnisse des Frühmittelalters26 waren sie beständig mit Entfremdungsversuchen benachbarter laikaler Adeliger, mit durchziehenden Kriegs- und

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ment dans sa transmission, mais aussi dans sa constitution« (S. 19) – dieser Einschätzung ist mit Blick auf die frühmittelalterliche Archivlandschaft ausdrücklich zuzustimmen. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 178. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Nachlaß, Teilbd. 2: Religiöse Gemeinschaften, hg. von Hans G. Kippenberg, Tübingen 2001 (Max Weber, Gesamtausgabe, Bd. 22–2), S. 121. Alois Hahn, Cornelia Bohn, »Partizipative Identität, Selbstexklusion und Mönchtum«, in: Gert Melville, Markus Schürer (Hg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002, S. 7–24, hier S. 13. Vgl. Jérôme Baschet, La Civilisation Féodale. De l’an mil à la colonisation de l’Amérique, Paris 32006, S. 230. Vgl. Dominique Barthélemy, Chevaliers et Miracles. La Violence et le Sacré dans la Société Féodale, Paris 2004, S. 21. Für das 8. Jahrhundert ist errechnet worden, dass rund ein Drittel des kultivierbaren Landes in Frankreich sich im Besitz kirchlicher Institutionen befand. Vgl. dazu Baschet, La Civilisation Féodale, S. 230. Vgl. Fichtenau, Lebensordnungen, S. 455 f. Siehe dazu auch David Herlihy, »Church Property on the European Continent, 700–1200«, in: Speculum. A Journal of Mediaeval Studies 36 (1961), S. 81–105, hier insbes. S. 94 f.

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Beutezügen, mit der Anfechtung von bereits vollzogenen Schenkungstransaktionen, kurz: mit einem ganzen Bündel von lokalen und überlokalen Konfliktkonstellationen konfrontiert. In diesem Rahmen der interaktiven Konfliktaustragung des feudalen Zeitalters, die historisch vor der Ausbildung bürokratischer Herrschaftsverfahren in Staat und Kirche liegt und face-to-face, in engen Beziehungsgeflechten der Nachbar- und Bekanntschaft, in einem überschaubaren Forum der öffentlichen Meinung und der Ehrökonomie stattfindet,27 stand den kirchlichen Institutionen eine ganze Palette von Ordnungsmechanismen zur Verfügung, mit denen sie die Realität der feudalen Macht- und Sozialbeziehungen zu steuern versuchten: Militärische Gewalt – Äbte und insbesondere Bischöfe verfügten in der Regel über eine militia und das lokale Lehnsaufgebot –,28 der Schutz durch höhere Autoritäten – Kaiser, König, Papst, hohe weltliche Amtsträger –, vor allem aber eine spezifische Gewaltform, die als »faide sacrale«29 (Dominique Barthélemy) komplementär zur Fehde mit Waffengewalt zu begreifen und direkt im Archiv verortet ist: spirituelle Gewalt. Was ist unter diesem Dachbegriff zu verstehen? Zunächst einmal handelt es sich hierbei um eine arbiträre Gewalt, die direkt aus der Kernkompetenz der geistlichen Institutionen – die Kommunikation mit der transzendenten Macht – abgeleitet ist. Dem Selbstverständnis der kirchlichen Akteure nach ist diese Gewalt eine von der höchsten denkbaren Instanz – Gott selbst – legitimierte potestas, die auf biblischen Füßen steht (Mt. 16, 19): »Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein«. Auf der Grundlage dieser Binde- und Lösegewalt30 entfaltet sich die spirituelle Gewalt entlang der heilsökonomischen Binarität des Christentums zwischen Erlösung und Verdammnis und agiert mit dem vollen Negativpotential einer Religion, die sich noch nicht – wie gegenwärtig – esoterisch verpackt auf Gnadenangebote reduziert, die eben auch das »Binden« (ligare) im Angstraum der Verdammnis und der Hölle 27

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Siehe Barthélemy, Chevaliers et Miracles, S. 96, S. 226 und S. 261. Zur Neuinterpretation frühmittelalterlicher Konfliktstrategien gegenüber der älteren Rede von einer feudalen Anarchie siehe Patrick Geary, »Living with Conflicts in Stateless France: A Typology of Conflict Management Mechanisms, 1050–1200«, in: ders., Living with the Dead in the Middle Ages, S. 125–160, hier S. 125–130. Vgl. Jacques Boussard, »Les Évêques en Neustrie avant la Réforme Grégorienne (950–1050 environ)«, in: Journal des Savants (Janvier–Mars 1970), S. 161–196, hier S. 186; Friedrich Prinz, »Fortissimus Abba. Karolingischer Klerus und Krieg«, in: Joachim Angerer, Josef Lenzenweger (Hg.), Consuetudines monasticae. Eine Festgabe für Kassius Hallinger aus Anlaß seines 70. Geburtstages, Rom 1982, S. 64–95. Barthélemy, Chevaliers et Miracles, S. 79. Vgl. speziell zu den Konfliktinstrumenten von Klöstern Barbara Rosenwein, Sharon Farmer, Thomas Head, »Monks and their Enemies«, in: Speculum. A Journal of Medieval Studies 66 (1991), S. 764–796. Siehe dazu Wolfgang Beinert, Art. ›Schlüsselgewalt‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Freiburg im Breisgau 1993–2001, Bd. 9, Sp. 167–169, und Ludwig Hödl, Die Geschichte der scholastischen Literatur und Theologie der Schlüsselgewalt, Münster 1960.

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kennt.31 Der Wirklichkeitsbezug dieses Negativpotentials ist für das Mittelalter nicht zu bestreiten,32 werden doch transzendente Entitäten – sei es ein Heiliger oder, im Frühmittelalter seltener, der Teufel – als real intervenierende transzendente Mächte, die Hölle, dieser »für das Mittelalter wichtigste Raum des Imaginären«,33 als reale biographische Perspektive für den einzelnen Gläubigen gedacht. Wir haben es also auf dem Feld der spirituellen Gewalt mit »Gewalthandlungen, Gewaltquellen und gewaltsamen Kräften und Wesen« zu tun, »die nach heutigen Kriterien von Kausalität nicht als Gewalt gelten«, aber in der Vormoderne »selbstverständlich als Gewalt erfahren und erlebt wurden«, so die Definition von Monika Mommertz, die mit Recht die Alterität dieser Gewaltformen betont und sie als Herausforderung für eine historische Gewaltforschung begreift.34 In die gleiche Richtung gehen Kaspar von Greyerz und Kim Siebenhüner mit Blick auf das Forschungsfeld ›Gewalt und Religion‹.35 Denn die spirituelle Gewalt ist ebenfalls nicht-physisch, sie ist eine vorgestellte, »imaginative« Gewalt, die mittels textueller (Archiv-) Prozeduren hergestellt, gespeichert und mittels ritueller bzw. oraler Inszenierungen situativ veröffentlicht wird. Gleichwohl agiert sie in der Regel mit physischen Gewaltbildern, mit einer angstevozierenden Rhetorik des Schmerzes und zuweilen mit einer extremen Körperlichkeit,36 die allerdings an einen transzendenten (imaginierten) Ort wie die Hölle verschoben sind oder von einem transzendenten (imaginierten) Täter ausgeführt werden. Die Adjektive in Klammern deuten bereits den epistemischen Bruch an, nämlich dass das, was wir heute für das Ima31

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Erhellend war in dieser Hinsicht der Besuch einer Ausstellung zu antiken Jenseitsvisionen im Berliner Pergamonmuseum, den ich zusammen mit einigen Teilnehmern eines früheren Seminars von Julia Weitbrecht und mir über mittelalterliche Jenseitsreisen unternommen habe: Konfrontiert mit dem dort auf Leinwand präsentierten Diktum Joseph Ratzingers aus seiner »Eschatologie« (Joseph Ratzinger, Eschatologie. Tod und ewiges Leben, Regensburg 61990, S. 176): »Alles Deuteln nützt nichts: Der Gedanke ewiger Verdammnis [...] hat seinen festen Platz in der Lehre Jesu«, zeigten sie sich irritiert, wenn nicht gar geschockt ob der Härte dieser Aussage – dies nur als kleine Randnotiz für meine Beobachtung, dass die Verdammniserwartung nur noch als Relikt aus der Tiefe des historischen Raumes, aber nicht mehr als aktuelles theologisches Konzept – und schon gar nicht als realistische autobiographische Perspektive wahrgenommen wird. Zur modernen, »entmythologisierten« Höllentheologie siehe Bernhard Lang, Himmel und Hölle. Jenseitsglaube von der Antike bis heute, München 2003, S. 115–118. Vgl. Baschet, La Civilisation Féodale, S. 529. Hartmut Böhme, »Himmel und Hölle als Gefühlsräume«, in: Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten (Hg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u. a. 2000, S. 60–81, hier S. 62. Monika Mommertz, »Gewalt und Imagination. Einführender Beitrag zu Sektion 6«, in: Claudia Ulbrich, Claudia Jarzebowski, Michaela Hohkamp (Hg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD, Berlin 2005, S. 341–342, hier S. 341. Kaspar von Greyerz, Kim Siebenhüner, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500–1800), Göttingen 2006, S. 9–25, hier S. 16 f.: »Damit steht ein Gewaltbegriff im Raum, der weit über die physische Aggression gegen Menschen und Dinge hinausgeht und Mentalitäten, Ideen und soziale Praktiken umfasst«. Vgl. Böhme, »Himmel und Hölle als Gefühlsräume«, S. 71.

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ginäre halten, im Mittelalter durchaus materiell-realistisch verstanden wurde.37 Für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei der Begriff der virtus von besonderer Bewandtnis, der die übernatürliche Kraft und die menschliche Zeit- und Handlungsdispositionen transzendierende Interventionsmacht eines Heiligen umschreibt.38 Um diese virtus, die den Reliquien inhärent ist, schart sich nicht nur die jeweilige geistliche Gemeinschaft, sondern sie bildet auch das Apriori und die Leitenergie für deren intermediales »Familien«-Archiv: Vom Epizentrum der ›heiligen Knochen‹ über die Verschriftungswellen der verschiedenen »Diskurskorpora« (Moritz Baßler)39 und die Referentialisieung räumlicher Markierungen bis zur oralrituellen Aktualisierung ist das Archiv als die entscheidende Scharnierstelle anzusprechen, von dem die spirituelle Gewalt herrührt, an dem sie textuell produziert wird und von dem aus sie performativ diffundiert. Diese archivarische Konstellation gilt es nun mit Blick auf hagiographische (3.1.), juridische (3.2.) und performativ-rituelle (3.3.) Diskurskorpora zu konkretisieren, und zwar anhand eines ausgewählten historischen Fallbeispiels.

3. Prozeduren der spirituellen Gewalt: Flodoard von Reims und das archivum ecclesiae Remensis Die zwischen 948 und 952 entstandene »Geschichte der Reimser Kirche«/»Historia Remensis Ecclesiae« (im Folgenden: HRE)40 aus der Feder des Reimser Domkanonikers und Priesters Flodoards von Reims (893/894–966), beschreibt die Geschichte eines Erzbistums, das – nicht zuletzt als Schauplatz der französischen Königsweihe – im 9. und 10. Jahrhundert einen steten Zuwachs an politischem Gewicht zu verzeichnen hatte.41 Über den Autor sind nur wenige zeitgenössische Informatio-

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Vgl. von Greyerz, Siebenhüner, Religion und Gewalt, S. 347–348, und Böhme, »Himmel und Hölle als Gefühlsräume«, S. 62. Vgl. zur ›virtus‹ Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, insbes. S. 155, und Sofia Boesch Gajano, »Reliques et pouvoir«, in: Edina Bozóky, Anne-Marie Helvétius (Hg.), Les reliques. Objets, cultes, symboles. Actes du colloque international de l’Université du Littorial-Côte d’Opale (Boulogne-sur-Mer), 4–6 septembre 1997, Turnhout 1999, S. 255–269. Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 196, beschreibt die »Diskurskorpora« als »eine Teilmenge des Archivs, die über einen bestimmten Suchbefehl und die jeweilige Einheit ›Einzeltext‹ definiert ist«. Siehe zur Datierung Michel Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle: Flodoard de Reims, Paris 1993, S. 44, und Martina Stratmann, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Flodoard von Reims. Historia Remensis Ecclesiae / Die Geschichte der Reimser Kirche [im Folgenden: ›HRE‹], Hannover 1998 (MGH Scriptores, Bd. 36), S. 1–54, hier S. 4. M. Bur, Art. ›Reims. I. Bistum und Erzbistum. 1. Geschichte‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Sp. 657–659.

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nen bekannt.42 Entscheidend in unserem Zusammenhang ist allein die der HRE selbst zu entnehmende Tatsache, dass Flodoard innerhalb der Reimser Bischofskirche die Funktion eines Archivars innehatte.43 In Reims lag das archivum ecclesie nahe der Kathedrale im oberen Stockwerk eines kapellenartigen Baues, der auch eine Krypta beherbergte44 – damit liegt die Vermutung nahe, dass Flodoard nicht nur Archivar, d. h. der Wächter des Reimser Schriftgedächtnisses, war, sondern zugleich auch den Reliquienschatz beaufsichtigte.45 Mehr noch: Es spricht einiges dafür, dass Flodoard auch das Amt eines Bibliothekars ausfüllte, denn es ist anzunehmen, dass das gesamte Schriftgut, ob Bücher, Briefe oder Urkunden, an einem Ort versammelt war, an einem Ort, der archivum und Schatzkammer in einem war46 – eine Kompetenzenballung, die sich auch in Flodoards historiographischer Vorgehensweise widerspiegelte. Denn die HRE gilt nicht zuletzt aufgrund der Menge der dort verarbeiteten Quellen47 als »Vorbild innerhalb der Gattung Bistums- und Klostergeschichten«.48 Flodoard schöpfte für sein Geschichtswerk aus dem reichen Fundus des unter seiner Aufsicht stehenden Archivs,49 aus antiken und spätantiken Quellen, aus hagiographischen Narrativen und Bischofslisten, aus historiographischen und poetischen Werken, aus Briefen, Urkunden, Polyptycha und Rechtstexten.50 Hauptsächlich stammten die von Flodoard benutzten Materialien aus dem Pontifikat Hinkmars, eines bedeutenden Reimser Erzbischofs, der zwischen 845 und 882 eine Phase explodierender Schriftlichkeit in Gang setzte: Um die Kirchenprovinz und vor allem das Bistum Reims zu reorganisieren und verlorenes Kirchengut wieder zu gewinnen bzw. für die Zukunft zu schützen, führte Hinkmar literale Verwaltungspraktiken ein, legte neue Rechtsnormen auf, verfasste narrative und liturgische Texte als Erinnerungs- und Legitimationsträger und erwies sich nicht zuletzt als produktiver Fälscher.51 Indem Flodoard diese pri42

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Siehe dazu Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 43; Stratmann, »Einleitung«, S. 1–3, und Peter Christian Jacobsen, Art. ›Flodoard von Reims‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Sp. 549 f. Vgl. Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 52, und Harald Zimmermann, »Zu Flodoards Historiographie und Regestentechnik«, in: Kurt-Ulrich Jäschke, Reinhard Wenskus (Hg.), Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 200–214, hier S. 202. HRE, lib. II, c. 19, S. 175–176. Vgl. dazu Fichtenau, »Archive der Karolingerzeit«, S. 120 f.; Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 385; Böhme, »Himmel und Hölle als Gefühlsräume«. Vgl. Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 52. Ebd. Siehe Stratmann, »Einleitung«, S. 3. Siehe Peter Christian Jacobsen, Flodoard von Reims. Sein Leben und seine Dichtung De triumphis Christi, Leiden, Köln 1978, S. 61. Siehe Zimmermann, »Zu Flodoards Historiographie und Regestentechnik«, S. 202, und Martina Stratmann, »Die Historia Remensis Ecclesiae: Flodoards Umgang mit seinen Quellen«, in: Filologia mediolatina. Rivista della Fondazione Enzio Franceschini 1 (1994), S. 111–127, hier S. 112. Vgl. Stratmann, »Einleitung«, S. 6–17. Siehe Martina Stratmann, Hinkmar von Reims als Verwalter von Bistum und Kirchenprovinz, Sigmaringen 1991, S. 5 und S. 53. Vgl. dazu auch Janet L. Nelson, »Kingship, law, and liturgy in the

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märe Verschriftungsschicht aus der Hinkmarzeit sekundär, d. h. in diesem Fall historiographisch, vertextete, löste er die synchrone Neben-Ordnung »seines« Archivs zugunsten einer ebenso diachronen wie linearen Abfolge-Ordnung auf,52 die den Besitzstand der Bischofskirche genetisch entfaltete, und zwar streng entlang der Wirkungsachse, die durch die virtus, d. h. die übernatürliche Kraft, des heiligen Patrons und seiner im Archiv befindlichen ›heiligen Knochen‹ gegeben war und bis in die Gegenwart fortgeschrieben werden konnte. Dabei tritt der Schreibgestus des Historiographen aber nicht selten hinter der Ordnungsfunktion des Archivars zurück, denn mitunter gleicht die HRE eher einem Repertorium, das zuverlässig kenntlich macht, wenn sich ein Schriftstück in archivo Remensis ecclesiae, »im Archiv der Reimser Kirche«, oder adhuc apud nos (...) reservantur, »noch immer bei uns aufbewahrt«, befindet.53 Umgekehrt gilt dann für uns Gegenwärtige, dass man auf die Entwicklungsdiachronie der HRE angewiesen ist, will man den synchronen Bestand des Reimser Archivs zur Zeit Flodoards wenigstens teilweise ex post rekonstruieren. Im Folgenden wird es nun darum gehen, aus diesem sekundären Archiv die oben genannten Diskurskorpora herauszufiltern und die in Reims gängigen Prozeduren der spirituellen Gewalt in ihrer textuellen und medialen Interaktion zu profilieren.

3.1 Hagiographisches Diskurskorpus

Narrative, in denen die Heiligen ihre mirakulöse Kompetenz zur Bestrafung von Übeltätern aller Art einsetzen, sind in der zeitgenössischen Hagiographie sehr häufig anzutreffen.54 Mehrheitlich erfüllen sie die Funktion von regelrechten »barbedwire miracles«,55 die einen stets interventionsbereiten Heiligen präsentieren, der zu Lebzeiten oder posthum seine virtus dem Schutz der jeweiligen kirchlichen Institu-

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political thought of Hincmar of Rheims«, in: The English Historical Review 92 (1977), S. 241–279, hier S. 253 und S. 277, und Frederick M. Carey, »The Scriptorium of Reims during the Archbishopric of Hincmar (845–882 A.D.)«, in: Leslie Webber Jones (Hg.), Classical and Mediaeval Studies in Honor of Edward Kennard Rand. Presented upon the Completion of his Fortieth Year of Teaching, Freeport, New York 1938, S. 41–60. Vgl. zu Synchronizität, Nicht-Linearität und »strenger Neben-Ordnung« als Kennzeichen des Archivs Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 68, S. 182 und S. 200. Siehe die entsprechenden Belegstellen bei Zimmermann, »Zu Flodoards Historiographie und Regestentechnik«, S. 202. Siehe dazu B. de Gaiffier, »Les revendications de biens dans quelques documents hagiographiques du XIe siècle«, in: Analecta Bollandiana 50 (1932), S. 123–138; Georg Scheibelreiter, »Das Wunder als Mittel der Konfliktbereinigung«, in: Archiv für Kulturgeschichte 74 (1992), S. 257–276; ders., »Gegner, Feinde, Gegenspieler. Überlegungen zur Typologie der hagiographischen Konfrontation«, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 112 (2004), S. 53–79. Alexander Murray, Excommunication and Conscience in the Middle Ages, London 1991 (The John Coffin Memorial Lecture, 13 February 1991), S. 14. Vgl. Olivier Bruand, »Accusations d’impiété

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tion widmet und sozusagen einen virtuellen Stacheldraht um deren Besitzstand zieht.56 Auch die Textarchitektur der HRE fußt im wesentlichen auf einem hagiographischen Erzählgang, der über weite Strecken mit der zwischen 877 und 882 entstandenen »Vita Remigii Episcopi Remensis« aus der Feder Hinkmars übereinstimmt.57 Protagonist dieser hagiographischen Narrative, die genrekonform »eine Figur mit einem Ort verbinden« und damit das Selbstverständnis der zur Rede stehenden geistlichen Gemeinschaft artikulieren,58 ist jeweils die Gründerfigur der Reimser Kirche, der heilige Bischof Remigius (um 438–um 533),59 dessen transzendente Interventionskraft auf drei Zeitebenen entfaltet wird: In den »temps mythiques«,60 die Zeit des lebenden Remigius, wird der Heilige als »persönlicher Charismaträger«61 (Max Weber) präsentiert, der nicht nur die Konversion der Franken zum Christentum einleitete, sondern als Mehrer, Patron und protector des Reimser Kirchenbesitzes auftritt.62 So straft Remigius beispielsweise bei einem Rundgang durch Gebiete in der Diözese Soissons, die König Chlodwig I. (466– 511) der Reimser Kirche schenken wollte, die widerspenstige Dorfbevölkerung von Chavignon mit den Fluchworten: »Ihr werdet immerzu arbeiten, und dennoch werdet ihr arm bleiben und leiden«. An dieser Stelle manifestiert sich die spirituelle Gewalt des Heiligen in Form des Fluches, d. h. einer oralen Sprachformel, mit der »man Unheil auf andere, auf deren Habe oder auf sich selbst herabwünscht«.63 Im Falle von Remigius operiert dieses »hocheffektive Medium der sozialen Kontrolle«64

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et miracles de punition dans l’hagiographie carolingienne«, in: Lionel Mary, Michel Sot (Hg.), Impies et paiens entre Antiquité et Moyen Âge, Paris 2002, S. 155–167, hier S. 162. Vgl. dazu jüngst Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts, Sigmaringen 2008, S. 493–496. Hinkmar von Reims, »Vita Remigii Episcopi Remensis«, in: Bruno Krusch (Hg.), Passiones Vitaeque Sanctorum Aevi Merovingici et Antiquiorum Aliquot [im Folgenden: ›VR‹], Hannover 1896 (Monumenta Germaniae Historica, Scriptorum Rerum Merovingicarum, Bd. 3), S. 239–349. Zur Datierung siehe Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 378. Michel de Certeau, »Eine Variante. Hagio-graphische Erbauung«, in: ders., Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt am Main, New York, S. 198–213, hier S. 202. Ulrich Nonn, Art. ›Remigius, hl., Bf. von Reims‹, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Sp. 707. Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 417. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 177. Siehe Stratmann, Hinkmar von Reims als Verwalter von Bistum und Kirchenprovinz, S. 31. Vgl. auch Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 386. Franz Kiener, Das Wort als Waffe. Zur Psychologie der verbalen Aggression, Göttingen 1983, S. 211. Zu den Fluchpraktiken von Heiligen siehe Lisa M. Bitel, »Saints and Angry Neighbours: The Politics of Cursing in Irish Historiography«, in: Sharon Farmer, Barbara H. Rosenwein (Hg.), Monks & Nuns, Saints & Outcasts. Religion in Medieval Society. Essays in Honor of Lester K. Little, Ithaca, London 2000, S. 123–150, und Wendy Davies, »Anger and the Celtic Saint«, in: Barbara H. Rosenwein (Hg.), Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca, London 1998, S. 191–202. Maximilian Oettinger, Der Fluch. Vernichtende Rede in sakralen Gesellschaften der jüdischen und christlichen Tradition, Konstanz 2007, S. 1.

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als explizit performativer Sprechakt65 eines instutitionalisierten, d. h. legitimen und von der sozialen Umgebung anerkannten, Akteurs,66 dessen Wirkung bis in Flodoards Gegenwart unverändert anhielt, wie der Reimser Archivar eigens vermerkt.67 Berücksichtigt man überdies, dass die hier zur Rede stehenden Gebietsschenkungen Chlodwigs, speziell die Orte Leuilly und Coucy, in der HRE ausdrücklich als noch immer in der Hand des Reimser Bistums befindlich beschrieben werden,68 dann zeichnet sich hier eine langfristige Kontinuitätslinie zwischen dem charismatischen Wirken der Gründerfigur und dem Besitzstand der Bischofskirche ab, dann werden hier mit dem Signalpotential der Strafmirakel die noch immer aktuellen Grenzen der Reimser Besitzungen in der Diözese Soissons narrativ abgeschritten. Auch nach seinem Tod, d. h. auf der zweiten Zeitebene des Narrativs, die bis ins 9. Jahrhundert reicht, hörte Remigius nicht auf, gegen Eindringlinge in die Besitzungen der Bischofskirche – selbst Könige oder deren Gefolgsleute – als vindex, als Rächer, tätig zu werden.69 Eher als die persönlichen Auftritte des Heiligen in Form einer buchstäblich schlagkräftigen apparitio interessiert uns hier, wie dessen virtus als Medium der göttlichen Rache an bestimmten, mit ihm sozusagen »biographisch« verbundenen Grenzmarken auch post obitum strafwirksam bleibt und horrende physische Verletzungen hervorruft. Denn wiederum im Rahmen eines Rundgangs durch ein Waldgebiet im Hunsrück um die Dörfer Kusel und Altenglan, die der Heilige noch zu Lebzeiten erworben hatte, setzte er eine ganz spezielle Grenzmarkierung, indem er einen Stein so in einen Baumstumpf gab, dass er zwar hin und her gewendet, aber nicht herausgeholt werden konnte. Als ein Passant sich an diesem Zeichen zu schaffen machte und sich anschickte, mit einer Axt den Baumstumpf zu bearbeiten, wird sein rechter Arm steif und er verliert sein Augenlicht.70 Auf diese Weise wird die Evidenz des Schmerzes in den topographischen Raum proji*ziert, und zwar an bestimmte neuralgische Punkte des Reimser Fernbesitzes im Hunsrück, die jeweils präzise bezeichnet und über die hagiographische Referentialisierung mit dem notwendigen virtuellen Stacheldraht versehen werden.71 65

66

67 68 69 70 71

John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 22002, insbes. S. 179. Vgl. zur Anwendung der Sprechakttheorie auf die historische Fluchforschung auch Lester K. Little, Benedictine Maledictions. Liturgical Cursing in Romanesque France, Ithaca, London 1993, S. 113–118. Pierre Bourdieu, »Rites of Institution«, in: ders., Language and Symbolic Power, hg. von John B. Thompson, Cambridge (MA) 62001, S. 117–126, hier S. 125. HRE, lib. I, c. 14, S. 91 f. Ebd. HRE, lib. I, c. 20, S. 106–110. Ebd., S. 108. Vgl. de Certeau, »Eine Variante. Hagio-graphische Erbauung«, S. 210 f.: »Die Hagiographie zeichnet sich dadurch aus, daß in ihr die genauen Ortsangaben gegenüber den Zeitangaben überwiegen. [...] Die Heiligengeschichte wird in eine Abfolge von Orten und in Veränderungen der Szenerie übersetzt; sie bestimmen den Raum einer ›Konstanz‹«.

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Auch auf der dritten Zeitebene, die Flodoard aus seinem persönlichen Erleben heraus berichtet, betrafen die Strafepisoden den Fernbesitz im Hunsrück, der angesichts des sich immer stärker verselbständigenden Herrschaftsgefüges des ostfränkischen Reiches zunehmend in eine prekäre Position geriet. Als der Besitz zu Beginn des 10. Jahrhunderts verloren zu gehen drohte, versuchte Remigius die Rückgabe der entfremdeten Güter in die Wege zu leiten, indem er einem potentiellen Fürsprecher und lokalen Agenten, dem Erzbischof Heriger von Mainz (913–927), mehrmals im Schlaf erschien und ihn schließlich sogar auspeitschte, um ihn für das heilige Ansinnen zu gewinnen.72 Das ist ein weiteres Beispiel für eine physische Intervention eines transzendenten Akteurs, die dementsprechend als spirituelle Gewalt zu werten ist. Ebenso kommt auch ein gewisser Ragembard, der die Bauern der Hunsrück-Güter unterdrückte, durch den Heiligen zu Tode.73 Insgesamt bleibt das Wissen um die Interventionsmacht des heiligen Patrons nicht im Modus der Schriftlichkeit eingefroren, kommt der Hagiographie im allgemeinen eine »Freiraum-Funktion« (Michel de Certeau)74 zu. Denn sie wird strategisch im Rahmen der lokalen Liturgie und bei anderen Gelegenheiten in die Oralität und damit in einen »lebendige[n] Kommunikationszusammenhang« übersetzt, d. h. im etymologischen Wortsinne ›diskursiviert‹.75 Hierbei offenbart sich die »potentielle Aktualität«, die auch die Archivdaten der frühmittelalterlichen Klöster und Bischofskirchen auszeichnet – sie können über die mündliche Rezitation bzw. rituelle Inszenierung immer wieder aktualisiert werden und verankern ihre latenten Interventionsimaginationen stets aufs Neue in der Gegenwart.76

3.2 Juridisches Diskurskorpus (Remigius-Testament und Hinkmar-Epistolar)

Die genannten Charakteristika der »Stacheldraht«-Mirakel – spatiale Einschreibung über den Rückbezug auf den persönlichen Charismaträger, sinn- und legitimationsstiftender Aktualitätsbezug – finden sich in gebündelter Form im sog.

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HRE, lib. I, c. 20, S. 111. Ebd., S. 111 f. de Certeau, »Eine Variante. Hagio-graphische Erbauung«, S. 203. Vgl. Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 197–198. Sämtliche Strafwunder, die später auch in Flodoards Geschichtswerk Eingang fanden, sind in Hinkmars Remigiusvita mit einem visuellen Zeichen, einem asteriscus, gekennzeichnet, um sie für den mündlichen Vortrag vor Laien und weniger Gebildeten (minus scientes) an bestimmten Festtagen zu reservieren – sicherlich mit dem Ziel einer abschreckenden Didaxe. Siehe VR, Praefatio, S. 258–259. Siehe dazu auch Aaron J. Gurjewitsch, Mittelalterliche Volkskultur, München 21992, S. 87. Man denke in diesem Zusammenhang auch an den festen Begriff der Heiligenlegende, der den zirkulären Transfer der Hagiographie in die Oralität bereits impliziert (vgl. dazu auch de Certeau, »Eine Variante. Hagiographische Erbauung«, S. 211). Vgl. Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, S. 120–122.

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»Testament«77 des Remigius wieder, ergänzt um die Instituierung einer normativen Referenz für die Amtsnachfolger. Dabei handelt es sich um einen Rechtsakt, dem ein ewiger Rechtswert beigemessen wurde und dessen längere Version in Flodoards Werk inkorporiert ist. Hier ist nicht der Ort, die schwierige Frage nach der Authentizität oder die Problematik verschiedener Textfassungen zu klären, die Generationen von Mediävisten beschäftigt hat.78 Wichtiger erscheint in unserem Zusammenhang, dass in diesem Text, der sich als Testament des Heiligen ausgibt, mit dem prekären Fernbesitz im Hunsrück und den Orten Leuilly und Coucy genau jene Orte wieder auftauchen, deren Erwerbung und Absicherung bereits im hagiographischen Narrativ eng mit der Fluchmacht und transzendenten virtus des Heiligen verknüpft ist. Insofern leistet das Remigius-Testament einen doppelten Bestandsschutz mit den Mitteln der spirituellen Gewalt, wenn es am Textende im Rahmen einer Poenformel, die zu den festen Bestandteilen frühmittelalterlicher Rechtsakte gehört,79 eine modulierte Kette von Strafklauseln aufbietet, die auf den Rang des jeweiligen Täters abgestimmt ist. Insbesondere der König80 und die Amtsnachfolger sollten sich vor dem Fluch (maledictio) in Acht nehmen, der bei hartnäckiger Zuwiderhandlung gegen die Verfügungen des Testaments drohte. Denn in diesem Fall sollte der Psalm 108 und damit der biblische Fluchpsalm schlechthin,81 der hier als »Urteilsspruchs der Trennung vom Körper Christi« (elogium segregationis a corpore Christi) apostrophiert wird, in allen Kirchen mündlich verlesen werden. Produktion und Rezeption des königlichen Verdammungszustands sollten hierbei Hand in Hand gehen und möglichst publiku*mswirksam erfolgen. Genau vorgegeben wurde dabei die Anpassung des Vulgatatextes an die jeweilige Sprechsituation: So wurde im Psalmvers »Nur gering sei die Zahl seiner Tage, sein Amt (episcopatum) soll ein anderer erhalten« im Falle eines zu verfluchenden Königs das episcopatum durch principatum (Herrschaft) ersetzt, während das Wort episcopatum für die Verfluchung eines devianten Reimser episcopus ausdrücklich beibehalten werden soll, allerdings im engeren Sinne der Bischofsherrschaft, der ein Täter mit dem Krummstab verlustig gehen soll.82 In der Konsequenz spinnt das Remigius-Testa77 78

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Vgl. Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 393. Zur Forschungsgeschichte siehe Jackie Lusse, »À propos du testament du saint Remi«, in: Michel Rouche (Hg.), Clovis, histoire et mémoire. Le baptême de Clovis, l’événement, Paris 1997, S. 451– 467. Vgl. auch Sot, Un Historien et son Église au Xe Siècle, S. 753. Zu Poenformeln in frühmittelalterlichen Testamenten siehe z. B. Ulrich Nonn, »Merowingische Testamente. Studien zum Fortleben einer römischen Urkundenform im Frankenreich«, in: Archiv für Diplomatik 18 (1972), S. 1–129, insbes. S. 100–104. Auch in einem anderen Textgenre der spirituellen Gewalt, den Jenseitsvisionen, tauchen Mitglieder der königlichen Dynastie als potentielle Gefährder des Reimser Besitzstandes auf, etwa in der wohl von Hinkmar von Reims verfassten Visio Bernoldi aus dem Jahr 877. Siehe dazu Wilhelm Levison, »Die Politik in den Jenseitsvisionen des frühen Mittelalters«, in: Max Kerner (Hg.), Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 1982, S. 80–100. Little, Benedictine Maledictions, S. 63 f. HRE, lib. I, c. 18, S. 103 f.

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ment damit den Faden der charismatischen Sprechmacht weiter, die dank Hinkmar hagiographisch hinreichend bezeugt ist und hier für zukünftige Eventualitäten nochmals in Dienst genommen wird. Um den Reimser Kirchenbesitz ungeachtet der Dynamik feudaler Konfliktverhältnisse statisch einzufrieren, wird das um das Wirken der Gründerfigur entstandene narrative Archiv in einem juridischen Kontext intertextuell fortgeschrieben.83 Der Charakter des Remigius-Testaments als Gründungsurkunde der Reimser Kirche offenbart sich auch im dritten Buch der HRE, in dem Flodoard mit Hilfe seiner spezifischen »Regestentechnik«84 (Harald Zimmermann) Auszüge aus den Briefen des Erzbischofs Hinkmar präsentiert. Darin ist zu lesen, dass Hinkmar im Laufe seiner Amtszeit immer wieder das Remigius-Testament als verbindliche Referenzfläche für die Abwehr fremder Ansprüche und als Richtschnur für die eigene Amtsführung genutzt hat.85 Beispielsweise teilte Hinkmar in einem Brief an seinen Freund Erluin mit, dass er die Besitzrechte an den Hunsrückgütern unter keinen Umständen veräußern könne, und zwar unter ausdrücklichem Verweis auf die Bestimmungen, die Remigius in seinem Testament getroffen habe.86 Noch expliziter gehen das Drohpotential und die Bindekraft des Remigius-Testaments aus dem Brief Hinkmars an seinen Getreuen, Herzog Nanthar, hervor: Er könne bestimmten Praktiken, die sich auf Reimser Besitzungen im Wormsgau eingeschlichen haben, keinesfalls seine Zustimmung geben, denn es sei vom heiligen Remigius mit einer großen Verfluchung und Drohung (cum grandi maledictione vel interminatione) verboten87 – ein Beleg für das instrumentelle Potential der spirituellen Gewalt im Rechtsverkehr des 9. Jahrhunderts, noch dazu, wenn diese von der charismatischen Sprechmacht eines Heiligen herrührte.

3.3 Performativ-rituelles Diskurskorpus (Exkommunikationsformulare)

Über das unmittelbare Vorbild der charismatischen Gründerfigur hinaus bemühte sich Hinkmar in seinen Briefen, die Fluch- und Exkommunikationsmacht der Reimser Bischöfe auch noch von der biblischen Seite her zu konturieren: Anhand verschiedener Textstellen aus dem Matthäusevangelium betonte Hinkmar immer wieder, dass in einem Bischof Christus selbst spreche, dass alles, was ein Bischof im Diesseits sage, auch im Jenseits gelte, dass für die Bischöfe heute das gültig sei, was

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Vgl. Bruno Krusch, »Reimser Remigius-Fälschungen«, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 20 (1895), S. 509–568, hier S. 553. Zimmermann, »Zu Flodoards Historiographie und Regestentechnik«, S. 200. Vgl. dazu Stratmann, Hinkmar von Reims als Verwalter von Bistum und Kirchenprovinz, S. 49, Baschet, La Civilisation Féodale, S. 529, und Krusch, »Reimser Remigius-Fälschungen«, S. 560 f. HRE, lib. III, c. 26, S. 341. Ebd., S. 332.

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im Matthäusevangelium auf die Jünger bezogen werde (Mt.10, 20): »Nicht ihr werdet dann reden, sondern der Geist eures Vaters wird durch euch reden«.88 Eine besondere Bewährungsprobe für die Kompetenz der Reimser Bischöfe, Medien des göttlichen Sprechens zu sein, bot sich im Jahr 900, als Fulko (883–900),89 der direkte Amtsnachfolger Hinkmars auf der Reimser cathedra, auf spektakuläre Art und Weise ermordet wurde.90 Nur rund drei Wochen nach diesem »unerhörten Frevel« (inauditum nefas) versammelten sich am 6. Juli 900, wie Flodoard im vierten Buch der HRE berichtet, in der Reimser Kathedrale nicht weniger als zwei Erzbischöfe und zehn Bischöfe, darunter alle Suffragane der Reimser Kirchenprovinz, um den neuen Erzbischof Heriveus (900–922) zu weihen und die Täter – Winemar und seine Komplizen – zu exkommunizieren und mit dem Anathem zu belegen,91 oder mit anderen Worten: aus der kirchlichen Gemeinschaft auszuschließen und der transzendenten Verdammnis anheim zu stellen. Mehr Licht als der knappe Bericht Flodoards wirft ein Exkommunikationsformular aus einer Sammelhandschrift von Reimser Rechts- und Synodaltexten, die einst Bestandteil des Reimser Archivs war92 und auf das 11. Jahrhundert zu datieren ist. Sie zeigt genau, wie die Exkommunikation Winemars an diesem Julisonntag rituell inszeniert wurde. Überlieferungsgeschichtlich ist dieser Text von hohem Wert, bildet er doch das älteste, sicher datierbare Glied in einer langen Traditionskette ähnlicher Regieanweisungen, die über das ganze Mittelalter hinweg meist in liturgische Handschriften, d. h. in die »Sub-Archive«93 der kirchlichen Institutionen, eingeschrieben wurden.94 Insofern kann das Reimser Formular als eine Art »Masterplan« für die oral-gestische Inszenierung der rituellen Exkommunikation gesehen werden, die über verschiedene liturgisch-kanonistische Standardtexte (Decretum Gratiani, 88 89

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HRE, lib. III, c. 20, S. 264; ebd., lib. III, c. 13, S. 234. Zu Fulko von Reims siehe Gerhard Schneider, Erzbischof Fulco von Reims (883–900) und das Frankenreich, München 1973. Zur Häufigkeit von Bischofsmorden gerade in den westfränkisch-französischen Machtkämpfen des 9. und 10. Jahrhunderts siehe Reinhold Kaiser, »»Mord im Dom«. Von der Vertreibung zur Ermordung des Bischofs im frühen und hohen Mittelalter«, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 74 (1993), S. 95–134. Vgl. zum Phänomen der Aggression gegen Bischöfe allgemein Myriam Soria Audebert, La crosse brisée. Des évêques agressés dans une Église en conflits (royaume de France, fin Xe-début XIIIe siècle), Turnhout 2005. HRE, lib. IV, c. 10, S. 403. Die Handschrift liegt heute in Berlin (Staatsbibliothek, Phill. 1765, fol. 95r–95v). Vgl. Valentin Rose, Verzeichniss der lateinischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Bd. 1: Die Meerman-Handschriften des Sir Thomas Phillipps, Berlin 1893, Nr. 85, S. 185. Liturgische Codices weisen oftmals eine Vielzahl von heterogenen Eintragungen auf, von heiligen Texten über Besitzverzeichnisse bis zu Gelegenheitslyrik der Mönche. Gerade ihre sichere Verwahrung und ihr haltbarer Beschreibstoff ließ es angeraten erscheinen, dort alles aufzuzeichnen, was für das materielle oder spirituelle Dasein der jeweiligen Institution relevant war. Vgl. dazu Clanchy, From Memory to Written Record, S. 155. Vgl. Genevieve Steele Edwards, Ritual Excommunication in Medieval France and England, 900– 1200, Diss. masch. Stanford 1997, insbes. S. 23.

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Pontificale Romanum) Eingang in die gesamtkirchliche Tradition fand. Die Reimser Regieanweisung von 90095 lässt sich in folgende Bestandteile zergliedern: (1) In der Narratio werden die kontextuellen Grundkoordinaten, d. h. vor allem der Anlass des rituellen Aktes, referiert und damit ein Handlungsdruck aufgerufen, der das hagiographische und juridische Sicherungs- und Interventionsparadigma der Remigius- und Hinkmar-Zeit erneut aktivierte. Darauf folgt (2) die Invokation jenseitiger Begründungs- und Erfüllungsinstanzen, die die Realisierung der irdischen und transzendenten Folgen der Exkommunikation garantieren sollen: Christus, der heilige Geist, schließlich die von Petrus an die Bischöfe übertragene, gottvermittelte Binde- und Lösegewalt. Im Anschluss werden (3) explizit performative Sprechakte ausgesprochen, die die Rechtshandlung der Exkommunikation vollziehen und den Betroffenen aus der religiösen und sozialen Gemeinschaft ausschließen. Dass darin auch die transzendente Verdammnis impliziert ist, zeigt der Zusatz, dass Winemar und seine Komplizen dem Anathem96 der »ewigen Verfluchung« verfallen sein sollen. Mit dieser perpetua maledictio geht einher, dass die Bischofsmörder nicht, wie in anderen Exkommunikationsformularen üblich,97 im Falle der Bußwilligkeit spirituelle Heilung und eine Rückkehr in die kirchliche Gemeinschaft erwarten können. Der Zustand der Heilsferne wird (4) in einer Kette von Fluchformeln hergestellt, die als patchwork biblischer und damit göttlicher Sprechakte daherkommt – vorwiegend aus dem Buch Deuteronomium, aber auch aus dem ersten Korintherbrief und dem Buch Jeremia. In Form von Optativformeln wird dabei augenfällig die alle Lebensbereiche erfassende, bereits im Diesseits wirksame Heilsferne des Exkommunizierten demonstriert: »Verflucht seien sie in der Stadt, verflucht auf dem Acker. […] Verflucht seien sie beim Hineingehen und beim Hinausgehen« usw. Schließlich steht (5) am Ende der rituellen Exkommunikation eine gestische Handlung, die die Heilsferne der Betroffenen visualisiert: »Und so wie die Kerzen, die von unseren Händen geworfen werden, ausgelöscht werden, so soll ihre Kerze in der Ewigkeit ausgelöscht sein«. Im Grunde haben wir es hier mit einer markanten Distanzierungs- und Machtgeste zu tun, die auch dem illiteraten Kirchenpublikum die heilsrelevanten Konsequenzen der Exkommunikation vor Augen führte. Insgesamt ist festzuhalten, dass in diesem ausgewiesenen Krisenmoment der Reimser Kirche auf die Tradition des heiligen Remigius zurückgegriffen wurde: Denn einerseits sah dessen Testament ausdrücklich eine ewige Verdammung, perpetua damnatio, vor, wenn Laien den Besitzstand des Bistums gefährden – eine Vorgabe, die angesichts des Bischofsmords in Form einer perpetua maledictio

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Diese findet sich in: Migne (Hg.), Patrologiae Cursus Completus, Bd. 87, S. 947 f. Ursprünglich bedeutete Anathem, dass ein Gegenstand dem menschlichen Gebrauch entzogen und dauerhaft der Gottheit übergeben wird, oder, in seiner negativen Variante, dass gottwidrige Personen der Vernichtung anheim gegeben werden – siehe dazu K. Hoffmann, Art. ›Anathema‹, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1, Stuttgart 1950, Sp. 427. Little, Benedictine Maledictions, S. 13.

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auf der Grundlage der charismatischen Sprechmacht der Gründerfigur erfüllt wurde. Andererseits beließ es Flodoard nicht bei der Schilderung der rituellen Handlung, sondern schrieb nach dem Vorbild der hagiographischen Narrative auch die verhängnisvollen Effekte der Verfluchung auf Winemars Körper mit in sein historiographisches Werk ein: »Er wurde daraufhin von Gott mit einer unheilbaren Wunde geschlagen, so dass sein Fleisch verfaulte, aus seinem Körper blutiger Eiter ausdrang und er lebend von Würmern zerfressen wurde; niemand konnte ihm aufgrund des unerträglichen Gestanks näher treten, so dass er sein elendiges Leben mit einem elenden Tod beendete«.98 Wiederum bildete der Körper und dessen Schmerz- und Ekelpotential die Folie, auf der die zwischen Immanenz und Transzendenz changierende Fluchwirkung zur Selbst- und didaktischen Fremdvergewisserung überhaupt beschrieben werden konnte. Es entstand in letzter Konsequenz eine Sprechmacht, die sich mittels einer imaginären, im Archiv sich konfigurierenden Traditionslinie über Hinkmar von Reims bis auf den heiligen Remigius zurückführte. Diese Macht wiederum war das Resultat einer spirituellen Gewalt, die sich im Reimser Archiv intertextuell verschränkte und sich in hagiographischen Narrativen, rechtsrelevanten Texten und rituellen Regieanweisungen wechselseitig verstärkte und bestätigte. *** Ziehen wir ein kurzes Fazit: Die kirchlichen »Rüstkammern« der Karolingerzeit waren Orte einer Traditionsstiftung von geistlicher Exklusionsmacht und zugleich Teile einer atomisierten Archivlandschaft, die strikt lokalen Eigeninteressen folgte und von struktureller Agonalität geprägt war. Dabei interagierten die untersuchten – hagiographischen, juridischen, performativ-rituellen – Diskurskorpora allesamt auf eine Zielrichtung hin: die Sicherung des Rechts- und Besitzstatus der jeweiligen Kloster- oder Bischofskirche und, damit verbunden, die Intervention in die dynamische Realität feudaler Konfliktbeziehungen, deren Ordnungserfolge im Sinne einer Selbstverstärkung von durchgesetzten Normen und Handlungsweisen im Archiv akkumuliert wurden.99 Angelpunkt dieser »Familien«-Archive ist die virtus des jeweiligen heiligen Patrons, die intermedial – gegenständlich (im Sinne der ›heiligen Knochen‹), textuell, spatial und rituell-performativ – in Erscheinung tritt. Anhand des Reimser Fallbeispiels konnte gezeigt werden, dass hier verschiedene Zeitebenen zusammentreffen, die jeweils den Gegenwartsrahmen und Wirkungshorizont der heiligen virtus abge98 99

HRE, lib. IV, c. 10, S. 403. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, »Die stabilisierende »Fiktionalität« von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung«, in: Reinhard Blänkner, Bernhard Jussen (Hg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S. 381–407, hier S. 398.

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ben und gleichzeitig die Schichten des archivum ecclesiae Remensis konstituieren: eine mythische Zeit (1.), die geprägt ist von der in alle anderen Diskurskorpora diffundierenden charismatischen Sprechmacht der heiligen Gründerfigur; eine Zeit der primären Verschriftung (2.), die in Reims eng mit dem Wirken des Erzbischofs Hinkmar verbunden ist; schließlich die historiographische Konstituierung eines sekundären Archivs, die wir im Textcorpus des Reimser Archivars Flodoard entdeckt haben (3.). Damit stand in Reims ein Konglomerat von intertextuell und intermedial nutzbaren archivarischen Latenzen zur Verfügung, die bei Bedarf mittels oraler Rezitation oder ritueller Inszenierung aktualisiert werden konnten und dabei zu gleichen Teilen die Funktion einer Selbst- und Fremdvergewisserung erfüllten – zum Zwecke der unmittelbaren Regulierung sozialer Beziehungskonstellationen zwischen der jeweiligen geistlichen Gemeinschaft und ihrer laikalen Umwelt.

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Schiffbruch mit Bergung Archive und Archäologien maritimer Kultur Burkhardt Wolf

Das Gedächtnis der See Das Meer ist Chaos. Zwar sehen etliche antike Kosmogonien in seinen Wassern den unvordenklichen, weil seinerseits ungeschaffenen Ursprung aller Schöpfung. Zugleich aber wird die See als ein Abgrund gefürchtet, vor dem sich alles Irdische in Acht zu nehmen hat. Das Meer ist ein Schlund, der auch noch die Erinnerung an das Verschlungene verschlingt. In ihren zahllosen Spielarten beschreibt die Sage von der Sintflut deshalb stets ein und dasselbe: eine Katastrophe des Gedächtnisses.1 Bis in die Neuzeit setzt sich jene Meeresfeindschaft fort, von der nicht allein die biblische Apokalypse zeugt (Off., 21, 1). Insofern sich nämlich die abendländische Kultur auf die – sei es sakrale, sei es rechtliche – Einheit von Ordnung und Ortung gründet, muss ihr das Meer von jeher als sinnfällige Bedrohung ihres Bestands, ihrer Tradition und Kontinuität erscheinen.2 Verspricht es dem – seit den Phönikern etablierten – Seehandel auch raschen Gewinn, so birgt es zugleich die Gefahr des unwiederbringlichen Verlusts. Sich über »des Meeres umdunstete Tiefe« zu wagen, zeugt von doppelter Kulturlosigkeit: Einerseits verachtet man damit, wie bereits Hesiod beklagt, den Landbau und die sesshafte Lebensform, also die aus dem Goldenen Zeitalter überlieferte Erfahrung, dass man »Schiffe / Nicht zu steuern« braucht – »es bietet ja Frucht der spendende Acker«.3 Andererseits verschmäht man damit jene cultura animi, die seit Cicero die Pflege geistiger Traditionen und seit den Kirchenvätern die Sorge ums ewige Seelenheil meint. ›Kultur‹ zeitigt von Anbeginn gravierende Vorbehalte gegenüber dem Boden- und damit Bestandslosen der See. Als das, was Ordnung, Tradition und Zukunft zu liquidieren droht, wird sie noch bis in die Neuzeit hinein perhorresziert – und dies nicht nur von Juristen, Philosophen oder Theologen. Unter den Gemeinplätzen abendländischer

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Vgl. Jan Assmann, »Das gerettete Wissen. Flutkatastrophen und geheime Archive«, in: ders., Martin Mulsow (Hg.), Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs, München 2006, S. 291–301. Für ihre Kritik und Anregungen danke ich den Mitgliedern und Gästen des Netzwerks sowie Barbara Hausmair. Vgl. hierzu Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europæum, 41997, Berlin, S. 13 f. u. a. Hesiod, Werke und Tage, in: Sämtliche Werke, hg. von Thassilo von Scheffer, Leipzig 1965, S. 620 und S. 236 f.

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Rhetorik und Dichtung ist für sie der paradoxe Topos der Ortlosigkeit – und damit des Vergessens – reserviert. Dies ändert sich erst, obschon dann gründlich, an der Schwelle um 1800: »Es nehmet aber / Und giebt Gedächtniß die See«, heißt es bei Friedrich Hölderlin. Wovon sein Gedicht »Andenken« handelt, ist kein bloßes ›Eingedenken‹, nicht nur die machtlose Erinnerung an ein unwiderruflich, weil zur See Verlorenes. Vielmehr ›denkt‹ es gegen das Vergessen ›an‹, indem es ein vermeintlich Ursprüngliches aus seiner zwischenzeitlichen Verlorenheit allererst auftauchen lässt. Solches ›Andenken‹ ist nicht auf das Gedächtnis und seine Topoi beschränkt. »Es hält nicht fest an einem, dessen es inne ist. Es erschließt, indem es erinnert«, beschreibt also einen Weg, statt bloße Orte zu benennen, ja eine Bewegung des Geistes, die es ›an‹ das Denken seiner selbst heranführt.4 Freilich handelt es sich deswegen nicht um bloße Gedankendichtung über eine Figur des deutschen Idealismus. Hölderlin verarbeitet auch seine erste persönliche Begegnung mit dem Meer, wenn er die Eigenarten von Bordeaux und etliche maritime Phänomene wie die Gezeiten oder Meereswinde evoziert. Letztlich erweitert er im »Andenken« seine poetische Topographie deutscher Flüsse und Flussstädte um das Meer und eine Hafenstadt.5 Und innerhalb dieser nunmehr globalen aquatischen Topographie besagt das Gedicht: Zum Ursprung einer Kulturlandschaft wird die Quelle erst, wenn sie einen lebendigen Strom hervorgehen lässt, der ins offene Meer mündet und aus diesem Unbestimmten und Unbestimmbaren heraus – nachträglich – seinen Ausgangspunkt als Quellpunkt bestimmt. Nur in diesem Sichverströmen und dieser Rückkehr in sich selbst gewinnt sie bleibende Wirkung. »Was bleibet aber, stiften die Dichter«, heißt es bei Hölderlin.6 Der diskursive Parcours, den dieses Gedicht beschreibt, ist ein discurrere zur See, bei dem das ›Erfahrungswissen an sich‹ durch Selbstaufgabe und Selbsteinkehr in einem ›Erfahrungswissen für sich‹ aufgehoben werden soll.7 Augenscheinlich kommt es hierbei zur Trennung zwischen Seeleuten einerseits, die sich, auf dem Erfahrungsmedium Schiff und getrieben vom ›Nordost‹, im Element des Meers bewegen, und dem Dichter andererseits, der sich, im Erfahrungsmedium der Sprache und getrieben vom poetischen ›Pneuma‹, an die ›Quelle‹ hält. Diese vermeintliche Gegenstellung meint allerdings nicht, dass die »Gefährten«, als prototypische Tatmenschen auf einer exzentrischen Bahn, das Wissen von den verstreuten Phä4

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Dieter Henrich, »Angedenken, Erinnerung, Gedächtnis«, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 42/2 (1990), S. 379–384, hier S. 380. Vgl. Jean-Pierre Lefebvre, »Auch die Stege sind Holzwege«, in: Hölderlin-Jahrbuch 26 (1988/89), S. 202–223, hier S. 205. Friedrich Hölderlin, »Andenken«, in: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Bremer Ausgabe, hg. von D. E. Sattler, München 2004, Bd. 11, S. 121–123, hier S. 122 f. Hierzu und zu Hölderlins Gedächtniskonzeption vgl. Cyrus Hamlin, »Die Poetik des Gedächtnisses. Aus einem Gespräch über Hölderlins ›Andenken‹«, in: Hölderlin-Jahrbuch 24 (1984/85), S. 119–138, hier S. 121–125, S. 127 f. und S. 135.

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nomenen bloß impressionistisch, »Wie Mahler« zusammenbringen, während der einsame, dem allem ›innewerdende‹ Dichter die Synthese dieses Erfahrungswissens, die Umwandlung des Extensiven in Intensität zu besorgen hätte.8 ›Stiften‹ meint in Hölderlins später Dichtung »weder Fixierung des in der Realität schon Vorhandenen, noch faktische Neuschöpfung von ›Sein‹, sondern Darstellung kraft eines höchsten, allumspannenden Bewußtseins«.9 Das »Andenken« betrifft somit die im Wortsinne ›poetische‹ Zukunft der Quelle, ihre nachträgliche ›Hervorbringung‹. Und diese erfolgt gerade im Durchgang durch das, was den angeblich benennbaren Ursprung ins Ortlose überträgt: die See. Wird die Rückkehr zu den ›Ursprüngen‹ zunächst durch eine Ausfahrt »zu Indiern« aufgenommen (und tatsächlich unterhielt Bordeaux um 1800 direkte Handelsbeziehungen mit ›Ostindien‹), so kehrt sie die Bahn der klassischen translatio culturae – von Osten nach Westen – um und folgt zugleich dem Lauf des kulturvermittelnden Flusses schlechthin: der Donau.10 Da indes, seit Kolumbus’ Expedition, ›die Ausfahrt nach den Indien‹ im selben Zug Verkennung und Entdeckung meint (denn bis zuletzt glaubte Kolumbus, Indien gefunden zu haben), kann die Ursprungssuche kein festes Ziel anpeilen, kann sie auf Ebene des Geographischen nur in ein unaufhebbares discurrere münden. Das »Andenken«, schon in seiner Anlage »odysseeisch-kolumbisch«, beschließt die Zeit der großen ›Stiftungen‹. Der Dichter Hölderlin wird seither nur noch ›Verwirrtes‹ oder fragmentarische ›Andenken‹ an dieses letzte Gedicht hervorbringen, an dieses letzte ›Andenken‹ an die Poesie selbst.11 In diesem Sinne ist vielleicht auch jene eigentümliche Art des Andenkens zu verstehen, die von Hölderlins »Mnemosyne« gefordert wird: »vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / zu behalten«.12 Die Hinnahme des Scheiterns soll sich weder in starrer Trauer erschöpfen noch einen Untergang vorschnell als Übergang überwunden glauben. Immer schon mit Verlust verbunden, ist die Erfahrung eine poetische Aufgabe. Als Feld der Erfahrung und damit auch der Ursprungssuche gibt die See nämlich Gedächtnis, indem sie solches zwischenzeitlich nimmt. Gerade »Schiffer sind auf der Fahrt zum Ursprung ihres eigenen Wesens«, wie Martin Heidegger sagt. »An der Quelle vollendet sich 8 9

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Hölderlin, »Andenken«, S. 122. Jochen Schmidt, Hölderlins letzte Hymnen: ›Andenken‹ und ›Mnemosyne‹, Tübingen 1970, S. 40. Vgl. auch ebd., S. 27–29, S. 78 f. und Christoph Martel, »›Noch denket das mir wohl…‹. Poetik der Erinnerung in Hölderlins Hymnen Andenken und Mnemosyne«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 98 (2004), S. 385–406, hier S. 391–393. Hölderlin, »Andenken«, S. 123. Vgl. hierzu Eva Kocziszky, Hölderlins Orient, Würzburg 2009, S. 47 und S. 53. Lefebvre, »Auch die Stege sind Holzwege«, S. 211. Vgl. hierzu ebd., S. 221 und Schmidt, Hölderlins letzte Hymnen, S. 31. Hölderlin, »Andenken«, S. 170. Zum Folgenden vgl. auch Robin Harrison, »Das ›Rettende‹ oder ›Gefahr‹? Die Bedeutung des Gedächtnisses in Hölderlins Hymne ›Mnemosyne‹«, in: HölderlinJahrbuch 24 (1984/85), S. 195–206, hier S. 195–198 und S. 206.

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der Reichtum, der im Meer beginnt. Die Quelle ist jedoch der Reichtum erst dann, wenn sie als die Quelle erfahren wird«.13 Und zum ›Erfahren‹ gehört die Erfahrung der Verwirrung, des Verlorengehens, ja des Scheiterns. So »Mancher / Trägt«, heißt es bei Hölderlin, »Scheue, an die Quelle zu gehen; / Es beginnet nemlich der Reichtum / im Meere«.14 Diese Scheu wird heute so mancher Hölderlinleser als metapoetischen Fingerzeig und damit auch als Wegweiser für sein eigenes Vorgehen verstehen: Den Ursprung von Dichtung nicht nur an ihren Quellen und deren vermeintlicher Inspirationskraft zu suchen, sondern auch im Umweg des Erfahrungswissens. So gesehen bezeichnet das Gedicht selbst zwei schlechthin entgegengesetzte Wege und Methodologien: Einerseits mag man sich ortskundig auf poetisch bewässertem Terrain bewegen und zuletzt, um dessen Fruchtbarkeit auf den Grund zu gehen, zielstrebig seine ›Quellen‹ suchen – jene Dokumente also, mit denen die ›Einflussforschung‹ der Literatur einen letzten Rückhalt in den ›Realien‹ heimischer oder auch unheimischer Traditionen verschafft. Andererseits kann man von diesem Terrain her die Ausfahrt in ein scheinbar grenzenloses Meer der ›Kultur‹ und ihrer vergessenen, versunkenen oder einfach verstreuten Tatsachen aufnehmen – ein Unternehmen, das, wenn es überhaupt irgendwelche Fundstücke birgt, deren Quellenwert allererst herzustellen haben wird. Operieren, typologisch stark vergröbert, ›die Philologen‹ hydrologisch auf einem Gelände, das man als rechtmäßige und wohlbestellte Domäne der Literaturund Geistesgeschichte bezeichnen könnte, so ›die Kulturalisten‹ gleichsam ozeanographisch in einem disziplinären Außen, dessen Ortungen und Ordnungen ebenso unsicher sind wie die in ihm vermuteten Reichtümer unermesslich. Was man, ausgehend von Heideggers Hölderlinlektüre, zum methodischen Widerstreit zwischen Wort- und Kulturwissenschaften zuspitzen kann, fand freilich für den deutschen Idealismus noch eine Einheit in der Sprache selbst. Diese nämlich galt als Medium aller Erfahrung, in dem sich Kulturtatsachen ebenso sedimentieren, wie sie darin – poetisch oder begriffslogisch – aufzuheben sind: Gerade die »Werke der Sprache« vermögen, im Gegensatz zum »Archiv« und den »Hieroglyphen« bloß »stummer« Kulturzeugnisse, den Geist eines Volkes aufzuheben.15 Zugleich wird für Dichter und Denker wie Hölderlin und Hegel das Meer mit der Sprache kommensurabel, indem es nicht mehr als Abgrund aller Kultur, sondern vielmehr als ihr »größte[s] Bindemittel« und »Medium« begriffen wird.16 Eben weil die See die »Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen« gibt, nötigt sie zur grundsätzlichen geschichtsphilosophischen Unterscheidung

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Martin Heidegger, »›Andenken‹«, in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main 1951, S. 75–143, hier S. 129, 137 f. Hölderlin, »Andenken«, S. 122. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: ders., Werke, 20 Bde., hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 16, Frankfurt am Main 1995, S. 440. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7, S. 390.

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zwischen statischen Land- und dynamischen Meereskulturen: »Das Land, die Talebene fixiert den Menschen an den Boden, er kommt dadurch in eine unendliche Menge von Abhängigkeiten; aber das Meer führt ihn über diese beschränkten Kreise hinaus«.17 Nicht nur, dass eine national beschränkte »Kultur« am ehesten dadurch »in den allgemeinen Zusammenhang der Welt eingreift« und sich dadurch »zur Universalität der Herrschaft erhebt«, dass sie »wie alle großen, in sich strebenden Nationen sich zum Meere« drängt.18 In Hölderlins geopoetischer und – expliziter – in Hegels geophilosophischer Perspektive zeichnet die an sich »unbegeistete Gestalt« der Erde den Gang des Geistes und damit der Kulturen vor: Stellt die Neue Welt lediglich die »unausgebildete Entzweiung« von der Alten dar, so zerfällt diese in die drei Teile Afrikas (durch dessen starre Hitze »der Mensch in sich selbst verdumpft«), Asiens (das sich durch seine fruchtlose, weil »bacchantisch kometarische Ausschweifung« erschöpft) und Europas. Dieses »bildet das Bewußtsein, den vernünftigen Teil der Erde, das Gleichgewicht von Strömen und Tälern und Gebirgen, dessen Mitte Deutschland ist«.19 Erst in dieser Mitte kommen die Begriffe von Quelle und Kultur zu sich selbst: Die »echten Quellen«, aus denen Ströme wie Donau, Rhone und Rhein hervorgehen, »haben ein innerliches Leben, Streben, Treiben« und sind dadurch Ursprünge nicht nur im »mechanischen« und »oberflächlichen«, sondern ebenso im kulturellen Sinne. Werden sie zu solchen Quellen aber nur in der Verbindung mit dem ›größten Medium‹ des Meeres, dann auch, weil Kultur immer schon »mit dem Elemente der Flüssigkeit, der Gefahr und des Unterganges« versetzt ist.20 Der aquatischen Topographie von Kultur ist gleichermaßen deren Entspringen und deren Untergang eingeschrieben. Und wenn sich in geopoetischer und geophilosophischer Perspektive Lebens- und Weltzeit überlagern, so fördert die Geologie immer auch ein Wissen von der Kultur, ihrer Möglichkeit und Vergangenheit zutage. Hegel folgt hierin der ›Geognosie‹ Abraham Gottlob Werners, der die Erdgeschichte durch sein monistisches Prinzip der ›Kristallisation‹ für die romantische Geistphilosophie gewann. Zudem bahnte Werner, im Bemühen, die in sich verschlossene Erde, ihre Mineralien und Steine allererst ›lesbar‹ zu machen, jene Verschränkung von Naturhistorie, Altertumskunde und Sprachgeschichte an, die die Erdgeschichtsschreibung um 1800 allgemein kennzeichnete. Fossilien sollten wie 17 18

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G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, S. 118. G.W.F. Hegel, »Die Verfassung Deutschlands«, in: ders., Werke, Bd. 1, S. 450–609, hier S. 532 und ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7, S. 391. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft, in: ders., Werke, Bd. 9, S. 348 f. Zur ›poetischen‹ und ›philosophischen Geohistorie‹ Hölderlins und Hegels vgl. Chenxi Tang, The Geographic Imagination of Modernity. Geography, Literature, and Philosophy in German Romanticism, Standford 2008, S. 225–239. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft, S. 362 und ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 390.

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archäologische Zeugnisse entziffert werden, und Buffon sprach gar von naturgeschichtlich zu konsultierenden archives du monde. Obschon Hegel in seiner Skepsis gegenüber allem bloß Archivarischem warnte, es sei »eine gleichgültige Neugierde, das auch in Form der Sukzession sehen zu wollen, was im Nebeneinander ist«,21 wurde die ›Schicht‹ zum Ordnungsprinzip der modernen Geologie. Entsprechend der evolutionistischen Erdgeschichtsauffassung Charles Lyells sah die ›Stratigraphie‹ in den Gesteinsschichtungen nämlich Zeugnisse geologischer Epochen, ihrer unabsehbar langen ›Tiefenzeit‹ und ihres katastrophalen Untergangs, Zeugnisse jedenfalls, die »like the leaves of a book« zu lesen seien.22 Haben sich also Geologie, Philologie und Altertumswissenschaft zu Lande schon rein konzeptionell zugearbeitet, so war diese Tiefenforschung zur See ungleich schwieriger. Zwar hatte man – wie Luigi Ferdinando Marsigli – bereits im 18. Jahrhundert an einer Histoire Physique de la Mer (1725) gearbeitet, dabei vereinzelte Sedimentproben genommen und streckenweise auch ein Profil des Meeresbodens gezeichnet. Doch blieb die Meereskunde, selbst wenn sie zusehends geophysikalisches, chemisches oder biologisches Wissen einbezog, bis weit ins 19. Jahrhundert wortwörtlich ›oberflächlich‹. Das Meer war eine durch vielerlei Techniken und Künste schiffbare, dabei aber stets gefährliche Wasserfläche, deren rätselhafte, weil unerreichbare Tiefen für die Seeleute allein den sicheren Tod zu bergen schienen. Schon weil es für mehr als ein derart oberflächliches Wissen kein praktisches Bedürfnis gab, blieb die See, wie Jules Michelet 1860 schrieb, »in ihrer nicht zu erschließenden Tiefe« vorerst ein dunkler Abgrund »der menschlichen Einbildungskraft«.23 In ihren unteren Schichten stellte man sich das Wasser solange als dichtes, bewegungsloses und ›azoisches‹ Element vor, bis zufällig, nämlich durch nach oben geholte Telegrafiekabel, Tiefseeorganismen ans Tageslicht kamen. Seither wurde aus dem Meer ein immenses Imaginationspotential natur- und urgeschichtlicher Spekulationen geschöpft. Und mehr noch: Dies ›größte Medium‹ erforschte man nun nicht mehr nur metaphern-, verkehrs- und kommunikationstechnisch, sondern auch evolutionstheoretisch, zumal Darwin hier verzögerte Entwicklungssformen und damit eine Art lebenswissenschaftliches Archiv von survivals vermutete. Dass die Tiefsee nicht nur eine Domäne der Naturgeschichte ist, wurde mit ihrer Erforschung besonders für Kulturwissenschaftler unverkennbar. Hatte deren Ahnherr Hegel Schiffe als »Werkzeuge« maritimer Kultur und damit eigentlich von Kultur schlechthin bezeichnet, so mussten sich am Meeresboden nicht nur Ruinen

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Georges Louis Leclerc Comte de Buffon, Les Époques de la Nature, Paris 1780, S. 1 und Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft, S. 347. Zu Werner vgl. Bernhard Fritscher, »›Archiv der Erde‹. Zur Codierung von Erdgeschichte um 1800«, in: Knut Ebeling, Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 201–219. Charles Lyell, Principles of Geology, Bd. III, London 1833, S. 81. Jules Michelet, Das Meer, Frankfurt am Main 2006, S. 16.

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der Erd-, sondern auch solche der Kulturgeschichte finden. Und hatte Noah mit seiner Arche, wie Hegel sagt, in einer Art restitutio ad integrum »die zerrissene Welt zusammen[gebaut]«,24 so diente nun umgekehrt das Meer, als eine Art Archiv untergegangener Kultur, der Katastrophenforschung post festum. Bereits Lyell hielt es für »probable that a greater number of monuments of the skill and industry of man will, in the course of ages, be collected together in the bed of the ocean, than will be seen at one time on the surface of the continents«.25 Kein dunkler Abgrund des Vergessens mehr, gibt die See Gedächtnis, weil sie ungezählte, insbesondere nautische Fundstücke und damit zahllose kulturelle Schlüsselzeugnisse birgt. Diese sind, seitdem der Meeresboden erkundet wird, nicht mehr im Ortlosen verloren und damit im strengen Sinne auch vergessen. Die Tiefsee ist mit ihrer technischen Erschließung topographierbar und damit auch zu einer Frage des ›kulturellen Gedächtnisses‹ geworden. Aus ihr schöpfen zwar noch etliche Dichter melancholischen Tiefsinn. An die Stelle kulturphilosophischer Begriffslogik sind jedoch die Kulturtechniken moderner Tiefenforschung getreten. Indem sie ihre versunkenen Quellen birgt und archiviert, ermöglicht die Archäologie gerade zur See ein eigentümlich kulturelles ›Andenken‹.

Der Chronotopos Schiffswrack Schiffswracks sind die prominentesten Kulturzeugnisse am Meeresgrund. Dies betrifft nicht nur Sonderfälle wie Kultschiffe, die bei Opfer- und Bestattungsritualen eingesetzt wurden und daher für kulturelle Praktiken im engeren Sinne stehen. Gegenüber anderen archäologischen Fundstätten unter Wasser – wie Häfen oder überschwemmten Küstensiedlungen – gebührt Schiffswracks schon deshalb Vorrang, weil Meeresfahrzeuge die größten und komplexesten Artefakte vor (und vielleicht auch nach) der industriellen Revolution darstellen. Zum einen geben gerade gewöhnliche Hochseeschiffe Aufschluss über das vormalige Alltagsleben, denn die in Schiffen geborgenen Dinge umfassen zuweilen Kunstobjekte, zumeist aber technische Artefakte, Abfälle und Gebrauchsgegenstände. Zum anderen informieren die Schiffe selbst, ihr Rumpf und ihr nautisches Zubehör über den Stand zeitgenössischer Technologien und Ökonomien: In ihrer Konstruktion schlägt sich, neben dem Investitionsvolumen der betreffenden maritimen Kulturen, sowohl die traditionelle Beharrungskraft als auch das Innovationspotential der heimischen Technologien nieder; bereits ihr Bau, genauso aber ihre Führung erforderte Spezialisierung, Hierarchisierung und Kooperation, so dass sie das Organisations- und Leis-

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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 119, sowie ders., »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«, in: ders., Werke, Bd. 1, S. 273–417, hier S. 274. Charles Lyell, Principles of Geology, Bd. II, London 1832, S. 258.

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tungsvermögen der jeweiligen Kulturen und ihrer militärischen und wirtschaftlichen Subsysteme dokumentieren. Auf geradezu paradigmatische Weise stellen Schiffe Akteur-Netzwerke dar. Deswegen ist mit ihrer Bergung und achäologischen Untersuchung immer auch ein bestimmtes Kulturkonzept verknüpft: Die in den 1960er Jahren erfolgten großen Schiffshebungen, etwa die des antiken Gelidonya-Wracks, der Bremer Kogge oder schwedischen Vasa, gingen allesamt mit dem Anspruch auf kulturelle oder nationale Exemplarität einher. Deshalb schienen diese Wracks zunächst die Bergung ›geringerwertiger‹ Funde überflüssig zu machen. Dass Schiffe jedoch ›Werkzeuge‹ der Globalisierung und ihre Wracks deshalb gerade in ihrer Zerstreuung als ›gleichgültige‹ Gegebenheiten zu erforschen sind, diesem Sachverhalt trug die Archäologie erst Rechnung, als sie im Sinne der Mentalitätsgeschichte und der histoire sérielle mit dem Blick auf die lange, zuvorderst statistisch zu erschließende ›Dauer‹ von Kulturen arbeitete. Und dass sich im Gefüge der nautischen ›Miniaturstaaten‹ nicht zwangsläufig die politischen Realitäten ihrer Ursprungsgesellschaften widerspiegeln, sondern oftmals nur deren organisatorische Wunschprojektionen, dies offenbarten jene Kontroll-Lektüren in den pertinenten Archivbeständen, welche der vorschnellen Lesbarmachung maritimer Fundstücke entgegengesetzt wurden.26 Waren Schiffe einst ›Werkzeuge‹ von Kultur, weil sie dieser einen unbeschränkten oder zumindest globalen Raum eröffneten, so bilden ihre Wracks nun Bergungsformen für dieselbe, insofern sie deren historisch beschränkte Zeit in sich regelrecht verschließen. Diese eigentümliche Temporalität mag, um eine prägnante Klassifikation des englischen Schriftstellers und nautischen Experten James Hamilton-Paterson anzuführen,27 nicht nur die archäologisch relevanten Fundstücke, sondern bereits jene Wracks kennzeichnen, die als »Zeitbomben« eine ablaufende Frist drohender Schadenswirkungen, die als »Goldminen« die wertsteigernde Zeit des Antiquitätenhandels oder als »Gräber« eine im trauernden Eingedenken rituell wiederzubelebende Vergangenheit betreffen. Einmal fünfzehn Meter unter den Meeresspiegel gesunken und damit kein gefährliches Treibgut mehr, werden Schiffe jedenfalls, wie im 20. Jahrhundert festgelegt, aus den wreck charts und damit auch verwaltungstechnisch aus der Gegenwart genommen. Plötzlich scheinen sie dem Raum und der Zeit entzogen. Oder, wie Hamilton-Paterson sagt: Mehr noch von Zeit als von Wasser überspült, wird alles in der See Versunkene radikal alt. Das Meer nämlich »macht alles zeitlos, was es unter seinen dunklen Meilen symbolischer Tränen verbirgt«.28 Und gerade Schiffe scheinen, wie der Unterwasserarchäologe Jean-Yves Blot schreibt, der Zeit enthoben, weil »das Meer und das Wasser nichts anderes sind, als der Ort einer Passage, und weil der Sturm oder der Schiff26

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Vgl. Jonathan Adams, »Ships and Boats as Archaeological Source Material«, in: World Archaeology 32/3 (2001), S. 292–311, hier S. 302, 305. James Hamilton-Paterson, Seestücke. Das Meer und seine Ufer, Stuttgart 1995, S. 139. Ebd., S. 163.

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bruch die Beile darstellen, die die Sprossen der Zeitleiter einfach zerschlagen haben«.29 Jene in der Tiefsee entdeckten Schiffswracks, die die Unterwasserarchäologie erforscht, werden von ihr als time capsules, als »Zeitkapseln« bezeichnet. Der Wert dieser ihrer Quellen mag im Gegensatz zu den anderen Wracks darin bestehen, dass sie einen entlegenen ›Zeitraum‹ dokumentieren, ja schlechtweg ›kulturelle Zeit‹ verkörpern. Man kann sie daher auch als ›Chronotopoi‹ bezeichnen: »Die Merkmale der Zeit offenbaren sich«, wie Michail Bachtin zur Begriffsdefinition schreibt, »im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert«.30 Gerade im Fall von ›Zeitkapseln‹ muss man von einer eigentümlichen Chronotopik sprechen, die sich nicht ohne Weiteres den älteren Metaphoriken des ›Zeitraums‹ fügt. Vormals nämlich sah man, wie es Vilém Flusser beschreibt, »die Zeit als eine Strömung im Raum, welche die sich dort befindlichen Dinge ordnet (mythische Sehart). Oder man sah den Raum als einen Kahn, der im Strom der Zeit in Richtung Zukunft getrieben wird, [wobei] alle Dinge mitgerissen werden (historische Sehart)«.31 Doch geht diese raumzeitliche Auffassung noch vom festen Boden der klassischen Geometrie aus, während chronotopische Konfigurationen wie die der modernen Archäologie mit ihrer Topologie der Verdeckung, Überfaltung und Zerknitterung direkt die vierte Dimension der Zeit implizieren. In diesem Sinne sind Schiffwracks »deep structures«32 – Fundstätten, die durch die Anordnung sichtbarer Artefakte ›kulturelle Zeit‹ in Synchronizität übersetzen. Als derlei Strukturen geben sie »a high-resolution image of past activity, not only in individual well-preserved objects but in their relationships and other ›invisible‹ attributes«.33 Was die submarinen von den meisten landfesten archäologischen Fundstätten unterscheidet (aber mit dem Sonderfall schlagartig untergegangener Städte wie Herculaneum oder Pompeji vereint), ist die Gleichzeitigkeit, mit der ihre Artefakte (die ja ihrerseits völlig unterschiedlichen Alters sein können) niedergelegt wurden. Sie bieten singuläre Momentaufnahmen, nämlich solche vom einmaligen Augenblick des Untergangs. Für die strukturalistisch und unter Wasser arbeitende New Archaeology ist ein Schiffbruch »the event by which a highly organized and dynamic assemblage of artifacts is transformed into a static and disorganized state with long-term

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Jean-Yves Blot, Archéologie sous-marine, Paris 1988, S. 7. Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt am Main 2008, S. 7. Zur Begriffsschöpfung ›Chronotopos‹ durch Alexej A. Uchtomskij und zu Bachtins Bezug auf Kant, Cassirer und Einstein vgl. das Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke in: ebd., S. 201–242, hier S. 211–213. Vilém Flusser, »Räume«, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 274–284, hier S. 275. Zum Folgenden vgl. ebd., 283 f. Richard A. Gould, Shipwreck anthropology, Albuquerque (New Mexico) 1983, S. 6. Vgl. hierzu Adams, »Ships and Boats «, S. 296.

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stability«.34 Versucht sie, aus einem Bild der Fragmentierung und Zertrümmerung, der Verteilung und Verstreuung, das der Meeresboden post festum darbietet, auf die vormalige Verfassung jenes Mensch-Ding-Ensembles zurückzuschließen, das ein Schiff bis zum Moment seines Untergangs noch war, ist sie jedoch mit einer doppelten Schwierigkeit konfrontiert. Denn nicht nur die eruptive Gewalt des Untergangs selbst, auch und gerade die Erosionsgewalt der Zeit (oder vielmehr der See) erschwert es der Unterwasserarchäologie, ihre time capsules oder closed finds, wie der strenge Fachausdruck lautet, lesbar zu machen. Um maritime Kulturgeschichte zu schreiben, ist mithin technologische Expertise ebenso vonnöten wie ozeanographisches und damit wahrhaft ›transdisziplinäres‹ Wissen: Der Verlauf des Schiffbruchs, der Kollaps tragender Elemente, die Art und Dauer der dem Untergang vorangegangenen Rettungsmaßnahmen, der Aufprall am Meeresboden, der längerfristige Einfluss der dortigen Flora, Fauna und Strömung, die Temperatur und Zusammensetzung des Wassers, schließlich die späteren Eingriffe durch Plünderungen oder Bergungsmaßnahmen – dies alles sind Ereignisse und Faktoren, die ihrerseits lesbar sein, die Fundstelle und ihren »inferential status«, das Schiffswrack und seine »onboard stratigraphy« aber auch weitgehend zerstören oder die Forschungsergebnisse auf bloße Wahrscheinlichkeitsmodelle reduzieren können.35 Als Chronotopoi lesbar sind Schiffwracks jedenfalls nur im Kontext ihrer jeweiligen Fundstätten. Diese gelten deshalb ihrerseits als archäologische Zeugnisse. Schließlich enthalten sie – in ihrer womöglich ursprünglichen Formation – verstreute Einzelteile und Wrackstücke, die sogenannte ›Wrackspur‹; und zugleich beherbergen sie jenes natürliche milieu, das den kulturellen lieu de mémoire in eine zweite, nämlich zeitliche Versunkenheit (und damit in tendenzielle Unlesbarkeit) zu versetzen droht: ein Milieu der Erosion und Korrosion, der Holzwürmer und Mikroorganismen, das sich freilich auch zu einem stabilen Mikroklima konsolidieren kann. Dann hat die Tiefsee nicht nur zerstörerische, sondern geradezu konservatorische Funktion. Besonders in diesem Fall, aber auch prinzipiell, weil die Fundstellen ja selbst deep structures sind, unterlässt die neuere Unterwasserarchäologie die Hebung von Wracks entweder ganz oder nimmt diese nur partiell vor. An ihre Stelle setzt sie die sogenannte in-situ-Archivierung: die Erstellung eines umfassenden, der Idee nach erschöpfenden survey, der die Stätte materiell intakt belässt, um sie dennoch in Daten zu übersetzen und als solche zu den Akten zu nehmen. Vor diesem Hintergrund hat man die alte geologische Metapher des ›Bodenarchivs‹ wiederaufgegriffen. Einerseits liegt es nahe, diesen Ausdruck als bloße Kata34

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Keith Muckelroy, »The Archaeology of Shipwrecks«, in: Lawrence E. Babits, Hans van Tilburg (Hg.), Maritime Archaeology. A Reader of Substantive and Theoretical Contributions, New York, London 1998, S. 267–290, hier S. 267. Adams, »Ships and Boats«, S. 296 f. Als mustergültig kulturgeschichtliche und zugleich nautisch und ozeanographisch informierte Untersuchung (zur SS Central America) vgl. Charles E. Herdendorf, »Science on a deep-ocean shipwreck«, in: The Ohio Journal of Science, Special Issue 95/1 (1995), S. 1–224, hier insbes. S. 46 ff., S. 62 ff. und S. 159 ff.

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chrese abzulehnen, erfordern Archive doch, ganz im Gegensatz zu archäologischen Fundstellen, eine bewusste Selektion von Archivalien, deren systematische Ordnung und überhaupt die planmäßige Einrichtung einer konservatorischen Infrastruktur. Andererseits offenbart die Metapher, inwiefern die Archäologie – und besonders die unter Wasser – schon methodologisch auf das Konzept des Archivs abstellt: Denn wenn etwa die New Archaeology submarine Überbleibsel als »fossiliertes Verhalten« begreift, so operiert sie nicht nur mit evolutionistischen Kategorien, sondern zugleich entsprechend des archivarischen ›Provenienzprinzips‹.36 Und genauso, wie man in ›medienarchäologischer‹ Perspektive allgemein von einem doppelten ›Außen‹ des Archivs sprechen kann, nämlich von seiner (nicht seligierten) Umwelt und seinem (nicht wahrgenommenen) Träger,37 so kann man sagen, das ›Bodenarchiv‹ habe im Medium Meer sein doppeltes Außen. Zu guter Letzt sind Archive, solange machtpolitisch relevant, durch rechtliche und technologische Zugangsbeschränkungen gekennzeichnet – und auch darin gleicht ihnen der Tiefseeboden. Nicht ganz zu Unrecht also ist das Meer von einer Metapher des Vergessens zu einer solchen des Archivs geworden.

Die Unterwasserarchäologie und ihre Archive Kaum hatte sich die Archäologie im späten 19. Jahrhundert als – im Vergleich zur antiquarischen Sammlerpraxis – strenge Wissenschaft etabliert, machte sie gegen die Möglichkeit einer submarinen Schwesterdisziplin drei Vorbehalte geltend: Unter Wasser seien archäologische Zugriffe unverhältnismäßig aufwendig und teuer; dort seien die Fundstücke immens zerstörerischen Kräften ausgesetzt; und überhaupt seien die tauchenden Archäologen allzu oft nur verkappte Schatzjäger. Tatsächlich sind submarine Bergungen noch stärker als die zu Lande von staatlicher oder privater Finanzierung abhängig, verlangt die Tiefenforschung doch nicht nur des räumlichen Abstiegs, sondern auch der Komplexität ihrer Fundstätten wegen aufwändigstes Equipment. Und tatsächlich zählt die Unterwasserarchäologie die spekulativen Hebeexpeditionen neuzeitlicher Glücksritter zu den Pionierprojekten ihrer eigenen Disziplin. Doch entwickelte sich die vormalige ›Schatz-Archäologie‹ zur ›Kontext-Archäologie‹, sobald die technischen Voraussetzungen für eine Erkundung des Meeresbodens gegeben waren und man nicht nur seine ozeanographische, sondern auch kulturwissenschaftliche Erforschung unterstützte.

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Wolfgang Ernst, »Troja zwischen Medien und Archäologie«, in: Knut Ebeling, Stefan Altekamp (Hg.), Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt am Main 2004, S. 233–251, hier S. 246 f. Vgl. Boris Groys, »Der submediale Raum des Archivs«, in: Ebeling/Günzel (Hg.), Archivologie, S. 139–151, hier S. 147 f.

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Methodologisch zeichnete sich die Unterwasserarchäologie zunächst durch einen eher klassischen, ›historisch-partikularistischen‹ Zugang aus, der möglichst gut erhaltene Wracks in einem konventionellen historischen Kontext verorten sollte. Unter dem Einfluss der New Archaeology öffnete sich die Disziplin dann in den 1970er Jahren ›hypothetisch-deduktiven‹, ›prozessualistischen‹ und experimentellen Ansätzen, ehe anthropologisch und annalistisch orientierte Schulen entstanden.38 Zum einen nahm man nun ausgreifende statistische Analysen vor, um etwa die Verteilungsmuster von Wrackfunden mit Veränderungen in der ökonomischen oder Populationsentwicklung, aber auch mit historischen Seefahrtsrouten, der Lage von Häfen, Sandbänken und Riffen sowie mit Meeresströmungen und meteorologischen Ereignissen zu korrelieren. Zum anderen versuchte man, die Wracks und Fundstätten enger mit den jeweiligen Erosions- und Formationsbedingungen in Beziehung zu setzen, um aus jenem oftmals chaotischen Bestand, mit dem zu Lande allenfalls Schlachtfelder oder Müllkippen zu vergleichen sind, signifikante Muster und Strukturen hervortreten zu lassen. In beiden Fällen wurden also, unter Einklammerung eines vermeintlich gesicherten historischen Kontexts, aus diskontinuierlichen, dispersen und divergenten Elementen signifikante Datenräume auf eine Art und Weise erschlossen, die die zeitgenössische Epistemologie nicht umsonst zum Muster ihrer ›Archäologien des Wissens‹ erkoren hat.39 Und in beiden Fällen stellte die archäologische Arbeit auf die neuesten Technologien der Datenverarbeitung ab. Stärker noch als ihre landfeste Zwillingsdisziplin verbindet die Unterwasserarchäologie das Erkenntnisparadigma des »Entbergens« mit dem, was Heidegger als »Ge-stell« und dessen spezifische Weise des »Her-vor-bringens« beschrieben hat.40 Das betrifft nicht nur ihre Abhängigkeit vom Tauchgerät, dessen Entwicklung ja von antiken Taucherglocken über frühneuzeitliche Tauchanzüge bis hin zum Scuba-Diving der 1960er Jahre reicht, oder von den diversen Navigationstechnologien, die für unterschiedliche Meerestiefen, Strömungsverhältnisse oder Wetterlagen entwickelt wurden. Deutlich wird es besonders an den oftmaligen Tauchgängen unter Extrembedingungen, bei denen der Gesichtssinn auf zero visibility eingeschränkt ist und Fundstätten nur als mentales Konstrukt, über remote sensing tech38

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40

Vgl. hierzu David Gibbins, Jonathan Adams, »Shipwrecks and Maritime Archaeology«, in: World Archaeology 32/3 (2001), S. 279–292, hier S. 284–287. Zum Folgenden vgl. Babits/van Tilburg (Hg.), Maritime Archaeology, S. 259, S. 305, S. 316 und S. 471. Fordert Michel Foucault, um das Verteilungs- oder Formierungsgesetz epistemischer Dinge und Ereignisse zu ermitteln, »die Dispersion dieser Objekte zu beschreiben, alle Zwischenräume zu erfassen, die sie trennen, die Abstände zu messen, die zwischen ihnen bestehen«, so überträgt er auf die Ebene des Diskurses, was die New Archaeology auf dem Niveau materieller Artefakte praktiziert und – als Rückkopplung zwischen Archiv und Archäologie – auch reflektiert. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 51992, S. 51. Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 13–44, hier S. 20, S. 27 und S. 35.

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niques wie Magnetometer und Sonar oder mittels electronic mapping anzupeilen sind. Und schließlich zeigt es sich an den vielfältigen Verfahren der data recovery, an den nachträglichen Modellierungen, Simulationen und Szenarienbildungen, die nicht selten unverzichtbar sind, um die Fundstelle trotz anscheinend insignifikanter Daten lesbar zu machen und ihren inferential status auszuschöpfen. Nur in den seltensten Fällen geben sich die Fundstellen der Unterwasserarchäologie von selber preis. Mit ›Fund‹ ist denn auch kein glücklicher oder Zufallsfund, sondern vielmehr das Ergebnis einer systematischen Suche oder vielmehr Recherche gemeint: Das richtungslose, obschon gründliche Durchkämmen des Meeresbodens wäre – trotz Findemitteln wie dem side-scan sonar – ein ebenso hoffnungsloses Unterfangen wie das ziellose Durchstöbern umfänglicher Bibliotheken und Archive. Von wirklich zufälligen Funden, etwa durch Sport- und Schwammtaucher oder anlässlich von Tiefseekabelverlegungen, hat sich die Archäologie erst unabhängig gemacht, seitdem die planmäßige Archivrecherche in ihre Agenda aufgenommen wurde.41 Der Lokalisierung eines Wracks geht deshalb, so nicht bereits spezielle shipwreck register existieren, für gewöhnlich die Sichtung und Sicherung umfänglicher archivarischer Datenbestände voraus – ein Unterfangen, das auf den Erhalt entsprechender Dokumente spekulieren muss und, um diese aufzuspüren, »intuition and imagination« erfordert.42 Mit der Bergung materieller Artefakte ist nicht selten eine regelrechte ›Archäologie des Archivs‹ verknüpft. Archivbestände zu spezifisch maritimen Angelegenheiten sind nämlich ebenso verstreut wie, was die Art ihrer Erschließung anbelangt, divers. Seien es die Dokumente von Werften, Versicherungs- und Handelsgesellschaften, seien es die Akten von Seegerichten und Marinen, Rettungs- und Bergungsgesellschaften – mit der Erschließung all dieser (oft ihrerseits historisch aufschlussreichen) Archive wird eine archäologische Perspektive eröffnet, die unterhalb der Ebene maritimer Ereignisgeschichte die lange Dauer, aber auch die Infrastruktur von nautischen Kulturen erscheinen lässt. Gerade solche Archivbestände sind »of the same commonplace and microcosmic nature that characterizes most archaeological evidence. The two sources of information and their attendant investigative methodologies therefore tend to speak in similar languages«.43 Da die historischen Archive ein breites mediales Spektrum von der handschriftlichen Überlieferung über gedruckte Texte, handgezeichnete und gestochene Karten und Pläne bis hin zu Fotografien, Ton- und Filmaufnahmen umfassen, besteht die Aufgabe neuerer Forschungsarchive nicht zuletzt darin, diese unterschiedlichen Dokumente zu digi-

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»Nombre de découvertes de l’archéologie sous-marine ont été fortuites, dues au hasard; mais grâce aux archives maritimes […], les fouilles subaquatiques sont aujourd’hui largement ouvertes aux recherches« (Cécile Beurdeley, L’archéologie sous-marine. L’Odyssée des trésors, Paris 1999, S. 194). Jeremy Green, Maritime archaeology. A technical handbook, Amsterdam u. a. 2004, S. 14 f. Colin Martin, »De-particularizing the Particular. Approaches to the Investigation of well-documented post-medieval Shipwrecks«, in: World Archaeology 32/3 (2001), S. 383–400, hier S. 384.

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talisieren, sie zu vernetzen und mit kurrenten institutionellen und kommerziellen Archiven (etwa der IMO oder von Lloyd’s) zusammenzuführen. Die Datenbanken der Unterwasserarchäologie sind dynamische Archive, archives on demand, die neben der Speicherung längst deponierten Aktenmaterials zusehends die Übertragung aktueller Daten besorgen. Im Idealfall schriebe sich jede unterwasserarchäologische Aktivität umgehend in dieses universale und kurrente Archiv ein. Archäologen nämlich nutzen nicht nur, sie produzieren auch laufend Archive. Verstehen die historischen Hilfswissenschaften unter archivalischen Quellen »alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann«, zählen sie also zu ihren Quellen ›Überreste‹ (Johann Gustav Droysen) und ›Traditionen‹ (Ernst Bernheim) nicht weniger als etwa Urkunden und Akten,44 so wird diese Gratwanderung zwischen Artefakten und Akten, zwischen Gegenstand und Diskurs im Falle der Unterwasserarchäologie und ihrer ›Bodenarchive‹ besonders sinnfällig. Man kann den Tiefseegrund auch als eine Fläche verstehen, auf der im Zuge archäologischer Entbergung Materialität in Textualität übersetzt wird. Bewegt sich der dynamische Komplex des Schiffs auf der Meeresoberfläche noch innerhalb eines Systems kurrenter Übertragungen und Kommunikationen, so schreibt sich der statische Komplex des Wracks auf dem Meeresboden regelrecht ein. Freilich ist gerade diese Konversion materieller Spuren in diskrete Zeichen der springende Punkt: Nicht nur, dass sich die Archäologie davor scheut, nautische Fundstücke vorschnell als das zu identifizieren, wofür die Archive oder Kulturgeschichten bereits Bezeichnungen und Begriffe haben. Das Fundstück selbst muss allzu oft in seiner – sei es schon benennbaren, sei es noch namenlosen – Gegenständlichkeit erst konstituiert werden. Und dieser Konstitutionsprozess geht in der Regel nicht unvermittelt, sondern nachträglich und rekursiv vonstatten. Beschränkt man sich nicht ohnehin auf eine komplette in-situ-Archivierung, so sind Fundstücke vor ihrer Hebung gründlich zu kartographieren und innerhalb ihrer Umgebung – mittels Triangulation, computergestützter Direct Survey Method oder schallmesstechnischem Electronic Distance Measuring – dreidimensional aufzuzeichnen. Und schreibt sich, wie jüngere Theorien des Archivs behaupten, die ›Entbergung‹ von Anbeginn in das ›Entborgene‹ ein,45 so gilt dies erst recht für die oftmals verstreuten, ja ungegenständlichen Funde unter Wasser. Deswegen muss im so genannten project archive nicht nur das Entborgene, sondern müssen auch sämtliche Maßnahmen der Entbergung – vom ersten survey bis hin zu abschließenden Restaurationsarbeiten – dokumentiert werden. Sämtliche verfügbaren Speichertechnologien sind zu mobilisieren, um auch zunächst nutzlose Daten zu 44

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Eckart Henning, »Einleitung«, in: Friedrich Beck, Eckart Henning (Hg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, S. 1–6, hier S. 1. Vgl. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 33 und S. 38.

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sichern. Weil künftig schon der unscheinbarste materielle oder archivarische Fund dem bislang Insignifikanten eine immense Bedeutung verleihen kann, bewahrt die Archäologie »strict reference to the potentialities of the evidence«.46 Und weil sie auf Rekonstruktionen, experimentelle Modellierungen, auf weitere Ausgrabungen und den Anschluss weiterer Forschung zielt, ist letzten Endes mehr noch als die materielle Erhaltung die Datensicherung ihr »ultimate concern« – »damage to the data base is damage to the artifacts, and that what we must preserve is the site as data base«.47 Insofern also die Bergung für gewöhnlich von Akten und Datenbanken ausgeht, solche selbst laufend anlegt und sich in solche einschreibt; und insofern umgekehrt etliche Archivfunde zur nautischen Geschichte erst durch archäologische Funde möglich gemacht werden, die dann ihrerseits wieder in die Archive eingeschrieben werden,48 kann man von einer Rückkopplung zwischen Archiv und Archäologie, zwischen archivarischen und archäologischen Verfahren und Findeprozessen sprechen. Die Archive der submarinen Archäologie sind immer schon ›Projektarchive‹: Ausdruck eines imperfekten Noch-nicht-Wissens. Was sie latent halten, weil von der Notwendigkeit tatsächlicher Referenz befreien, sind die am Meeresgrund gefundenen Artefakte. Was sie aber bergen, ist ein Potentialis namens ›Kultur‹.

Die Kulturarbeit der Tiefenforschung Nicht selten hat sich die Unterwasserarchäologie einem regelrecht patriotischen Projekt verschrieben: Schiffswracks als Miniaturmodelle ihrer Herkunftsstaaten und damit als Monumente einer bestimmten Nationalgeschichte zu bergen. Derlei Patriotismus wird freilich nicht nur dadurch erschwert, dass Hochseefahrzeuge von jeher dazu dienten, zwischen unterschiedlichen Territorien zu kreuzen, so dass die maritime Geschichte immer schon eine ›internationale‹ war. Lokalisiert man ihre Wracks post festum auf dem offenen Meer, unterliegen sie überdies dem Regime des internationalen Rechts, das exklusive nationale Ansprüche vereitelt.49 Die Tiefsee nämlich wird als ›staatsfreier Raum‹ und damit als res communis omnium begriffen. Was sich auf ihrem Grunde sammelt, gilt zuweilen noch als Hinterlassenschaft von 46

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M.A. Smith, »The Limitations of Inference in Archaeology«, in: Babits/van Tilburg (Hg.), Maritime Archaeology, S. 167–174, hier S. 173. Wilburn A. co*ckrell, »Why Dr. Bass couldn’t convince Dr. Gumbel. The Trouble with Treasure revisited, again«, in: ebd., S. 85–96, hier S. 95. Beispielsweise wären die Dokumente für die Anna Maria nicht auffindbar gewesen »without raising some of the boards in the cargo and performing the subsequent dendrochronological analysis« (Christian Ahlström, Looking for leads. Shipwrecks of the past revealed by contemporary documents and the archaeological record, Helsinki 1997, S. 8). Vgl. hierzu etwa Antony Firth, Managing archaeology underwater. A theoretical, historical and comparative perspective on society and its submerged past, Oxford 2002, S. 3 und S. 24.

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Privatpersonen, Unternehmen oder Staaten, zuweilen aber schon der ganzen Menschheit. Und je nach Art der Hinterlassenschaft greifen hier unterschiedliche völkerrechtliche Regelungen: bei ›Zeitbomben‹ die Vorschriften des Haftungs- und Bergerechts, bei ›Gräbern‹ die Verpflichtung zur Wahrung des Andenkens und der Totenruhe, während bei ›Goldminen‹ ein Vorzugsrecht auf Eigentum, Zugang oder Ausbeutung bestehen kann. Im Falle von ›Zeitkapseln‹ indes bringt das internationale Recht die Probleme der Gefahrenvorsorge, des Andenkens und Nutzungsanspruchs auf einen gemeinsamen Nenner: den der ›Kultur‹. Bilden sie Sachensembles und Fundstellen, »in denen die Kultur des Menschen ihren materiellen Ausdruck gefunden hat«, so sind die Quellen der Unterwasserarchäologie »Kulturgüter« par excellence, die vor der Gefahr der Zerstörung und des Vergessens zu bewahren sind.50 Kulturgüter sollen generell, sozusagen um des Andenkens an die Tätigkeit und den Werdegang der Menschheit willen, an künftige Generationen weitergegeben werden. Ins internationale Recht aufgenommen wurde deshalb an der Wende zum 21. Jahrhundert der Terminus des common cultural heritage of humankind. Und nicht von ungefähr hat man sich für diese Begriffsschöpfung wiederholt auf Charles Lyell berufen: Wenn er nämlich mutmaßt, am Tiefseeboden hätten sich mehr »monuments of the skill and industry of man« versammelt, als es jemals »at one time on the surface of the continents« geben könne,51 so versteht er den Meeresgrund als ein ›Bodenarchiv‹, in dessen unerschöpflicher ›Tiefenzeit‹ die kulturelle Kontinuität des Menschengeschlechts enthalten ist. Dass heute insbesondere untergegangene Schiffe für Lyells monuments stehen, verdankt sich zumindest augenscheinlich einem Zufall: Denn während um die Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage gefeilscht wurde, arbeitete das Legal Committee of the International Maritime Organisation an einem Regulierungsinstrument für Tiefseewracks. Unter diesem Eindruck fassten etliche der UNESCO-Verhandlungsteilnehmer die time capsules als exemplarisch für die Konzeption des underwater cultural heritage auf.52 Seither sind historische Wracks, schon rein völkerrechtlich, die Archen maritimer Kultur. Als Erbschaft, die vom Menschengeschlecht aufs Menschengeschlecht überzugehen hat, stehen ›Kulturgüter‹ außerhalb aller kommerziellen Verwertung. Völkerrechtlich wurde dieses Prinzip zuvorderst an den ›Zeitkapseln‹ exekutiert, hebe doch ein Wrack, wenn mindestens hundert Jahre alt und in internationalen Gewässern befindlich, die Besitz- und Verwertungsansprüche des ursprünglichen Eigners und seiner Rechtsnachfolger weitgehend auf – und dies »because of its antiquity and historical importance«, wie es 1999 in einem irischen Urteil zu einem Wrack 50 51 52

Nadine Christina Pallas, Maritimer Kulturgüterschutz, Berlin 2004, S. 29. Lyell, Principles of Geology, S. 258. Ariel W. Gonzalez, »Negotiating the Convention on Underwater Cultural Heritage: Myths and Reality«, in: Roberta Garabello, Tullio Scovazzi (Hg.), The protection of the underwater cultural heritage. Before and after the 2001 UNESCO Convention, Leiden u. a. 2003, S. 83–88, hier S. 85.

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der Spanischen Armada hieß: » [I]t is not a saleable object. Its significance derives from its importance as an addition to the historical treasury of the nation and of Europe«.53 Sprach man hier noch vom historischen Erbe der Nation und Europas, so 2001 im UNESCO-Übereinkommen von dem der ganzen Welt. Mit den closed finds der submarinen Archäologie wurden Kulturgüter dabei erstmals unmittelbar völkerrechtlich zur res extra commercium erklärt.54 Gelten die Fundstücke der Hochsee – im Gegensatz zum national gepflegten und international nur beobachteten ›Weltkulturerbe‹ – als ›gemeinsames Erbe der Menschheit‹, so betrifft dieses ›Gemeinsame‹ mithin nicht die kollektive Aneignung, sondern die gemeinschaftliche Verpflichtung zum Schutz und zur Erhaltung, was zuletzt heißt: die koordinierte archäologische Bergung und archivarische Datensicherung. Als ›Erbschaft‹ aufgefasst, wird den Kulturgütern am Meeresgrund eine Schlüsselrolle bei der Reproduktion kultureller Ordnung zugesprochen. Soll jedoch das, was vormals niemandem gehört hatte und dabei allen zugänglich war, zu einer Sache werden, die allen gehört, am besten aber unberührt im ›Bodenarchiv‹ verbleibt, so werden die unterwasserarchäologischen in-situ–Archivisten zu spezifischen Erbwaltern im Auftrag der ›Menschheit‹.55 Ehe die völkerrechtliche Vereinbarung getroffen wurde, waren ›Zeitkapseln‹ nicht nur von Plünderungen, sondern vom geltenden Bergerecht selbst bedroht, das freien Zugang und zudem eine Entlohnung selbst für unsachgemäße Hebungen vorsah. Das Abkommen verkehrte die vormals rechtliche Dominanz der Bergeunternehmer zugunsten der Unterwasserarchäologen. Und es schrieb in Form eines cultural ressource management plan die governance des maritimen Kulturguts vor: neben der professionellen Einrichtung und Pflege von project archives die unablässige Kontrolle und Überwachung von Fundstätten, die Taucher und Schatzjäger freilich nicht vorweg kriminalisieren, sondern sie nach Möglichkeit in die Bergungsarbeit einbeziehen sollte. Freilich konnte sich dieses völkerrechtliche Regime, das besondere Souveränitätsansprüche und Verwertungsinteressen im Namen eines ›transtemporalen‹ und ›transspatialen‹ Erben56 namens Menschheit zurückzustellen zwingt, nicht widerstandslos durchsetzen. Das ökonomische Interesse, die weltweit unzähligen Fundstätten mit Blick auf den Kunstmarkt auszubeuten, und die Interessen der Meeresanrainer an der Wahrung ihrer Hoheitsbefugnis und Einflusssphäre führten dazu, dass die Konvention erst 2009 ausreichend 53

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Irish Reports 3 (1999), S. 413, zitiert nach: Tullio Scovazzi, »The Application of ›Salvage Law and Other Rules of Admirality‹ to the Underwater Cultural Heritage: Some Relevant Cases«, in: ebd., S. 19–80, hier S. 80. Vgl. hierzu auch die Bestimmungen der Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage (UNESCO, Paris, 2. November 2001), in: ebd., Section: »Documents«, S. 213. Pallas, Maritimer Kulturgüterschutz, S. 122. Vgl. hierzu Eke Boesten, Archaeological and/or historic valuable shipwrecks in international waters. Public international law and what it offers, The Hague 2002, S. 33. Vgl. ebd., S. 38.

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ratifiziert und damit völkerrechtlich bindend wurde. Ihre Gegner hatten sich insbesondere auf die angebliche Kollision der Konvention mit etlichen Bestimmungen der mühselig errungenen und erst 1994 in Kraft getretenen UN-Seerechtskonvention berufen,57 und tatsächlich förderten sie damit ein völkerrechtliches Problem zutage. Hat man nämlich treffend von einer ›creeping jurisdiction‹ gesprochen, einer schleichenden Ausdehnung maritimer Souveränitätsansprüche auf die Hochsee, der das Seerecht entgegenwirken sollte, so kann man umgekehrt und im Falle des völkerrechtlichen Kulturgüterschutzes eine Art ›creeping culturalisation‹ der res omnium Meer beobachten. Und an deren Front steht nichts anderes als die Unterwasserarchäologie. Das Auftauchen von ›Kultur‹ als neuzeitlicher Leitbegriff hat man auf die Schwelle um 1800 datiert, ohne sich damit auf eine begriffsgeschichtliche Zäsur festzulegen. Schließlich ist mit ›Kultur‹ weniger ein besonderes thematisches Gebiet oder ein bestimmtes Gegenstandsfeld als vielmehr eine spezifische Beobachtungsposition verknüpft: das Interesse an umfassenden, zunächst wertfrei gehaltenen Beschreibungen und Vergleichen, an Reflexionen und Metareflexionen, kurzum an einer Beobachtung zweiter Ordnung. Einerseits ist Kultur – und dies wird besonders deutlich seit dem 19. Jahrhundert – ein globales Projekt und daher immer schon »Weltkultur«.58 Andererseits ist, wie es Niklas Luhmann formuliert, Kultur »die Sinnform der Rekursivität sozialer Systeme«. Alles, was sie kommuniziert, gibt sich in seiner bloßen Kontingenz und schieren Positivität zu erkennen, um dennoch im ›kulturellen Gedächtnis‹ als sinnhaft zu erscheinen. Das ›Gedächtnis‹ Kultur ist kein Speicher und »keine feste Masse vorhandener Zeichen«.59 Wohl aber bedarf es selbst eines Archivs, das »nicht einfach in einer Ansammlung von Materialien besteht, sondern in der Verfügbarkeit eines Katalogs bzw. einer Organisation, die deren Handhabung und Koordination ermöglicht«.60 Was um 1800 noch die begriffliche Reflexion besorgt, implementieren die dem Anspruch nach allumfassenden Archive des 19. und, mehr noch, des 20. Jahrhunderts. Als solche sind Archive nämlich Registratursysteme, die Interpretationssysteme im Materiellen verankern. Zugleich jedoch sollen sie, besonders deutlich im Falle des Unterwasserkulturerbes, die materiellen Substrate dessen aufheben, was 57

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Vgl. hierzu Ulrike Koschtial, »Die UNESCO und der ungleiche Kampf für den Schutz des Unterwasserkulturerbes«, in: In Poseidons Reich. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Unterwasserarchäologie, Bd. XIII, Online-Ausgabe: http://www.deguwa.org/?id=99, letzter Zugriff am 29.03.2010. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: ders., Das Geschichtswerk, Bd. II, Frankfurt am Main 2007, S. 763–972, hier S. 813. Niklas Luhmann, »Kultur als historischer Begriff«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt am Main 1999, S. 31–54, hier S. 45 und S. 47. Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 239.

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zuletzt in den Reflexionsbegriff der ›Kultur‹ eingeht: Einerseits ist die Archäologie »a destructive science. Once a site has been excavated, it can never be put back together«. Würde Kultur unmittelbar geborgen, so hätte dies zuletzt nur ihre materielle Zerstörung zur Folge. Andererseits ist der archäologische Zugriff mit archivarischer Virtualisierung rückgekoppelt. Das Archiv setzt an die Stelle des Artefakts die bloße Information, die – anders als das Fundstück – tatsächlich der gesamten Menschheit zukommen könnte, so es nur ein für alle und immerzu zugängliches Übertragungsarchiv gäbe: »historical sites are part of our common heritage, and the information they contain belongs to everyone«.61 Genau deswegen setzt die Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage so strenge Maßstäbe an den professionellen Aufbau und Betrieb eines project archive.62 Freilich hat man darin, dass solche Archiv-Kultur letztlich alle möglichen Fundstücke, ohne sie weiter bewerten zu müssen, in den Bestand der Überlieferung aufnehmen und diese als potentiell unbegrenztes kulturelles Gedächtnis konstituieren kann, nicht nur eine Rehabilitierung der Mikrohistorie und damit eine Bereicherung der Geschichtswissenschaft gesehen, sondern auch eine grundsätzliche Gefahr: den Glauben nämlich, anhand von Fundstücken der Vergangenheit habhaft zu werden, so als offenbare sich in den Dingen selbst die Zeit; oder als könne man ihr mit der ›Gleich-gültigkeit‹ der gesicherten, sei es absichtlich, sei es unabsichtlich hinterlassenen Dokumente, mithin ohne jegliche ›Be-deutung‹ gerecht werden. Es wurde deshalb vorgeschlagen, das von und in Archiven Geborgene nicht mehr als ›Dokumente‹, sondern als ›Spuren‹ zu begreifen, die weder die Vergangenheit als solche zur Erscheinung bringen noch selbst insignifikant sind. Oder anders gesagt: Spuren künden von keiner Vergangenheit. Vielmehr figurieren sie das, was man mit dem Begriff des ›Vorübergegangenseins‹ bezeichnen könnte und als spezifischen Chronotopos bearbeiten sollte. Derart datierte Spuren bewahren Paul Ricœur zufolge »die Idee einer Schuld gegenüber den Toten« und vermitteln »zwischen der fundamentalen Zeit der Sorge als der auf Zukunft und Tod gerichteten Zeitlichkeit und der ›vulgären‹ Zeit, die als eine Folge beliebiger Jetze aufgefaßt wird«.63 Kultur zeitigt also unweigerlich ein gewisses Unbehagen, das im besten Falle zu einer spezifischen Form von ›Kulturarbeit‹ nötigt. Und für diese Kulturarbeit kann vielleicht gerade die Tiefenforschung als Paradigma gelten. Um nämlich dem ›Vorübergegangenen‹ gerecht zu werden, übt sich besonders die New Archaeology in einer eigenen Art von Spurensicherung, die weder der ›Zeit selbst‹ habhaft zu wer-

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R. Duncan Mathewson, »Archaeology on Trial«, in: Babits/van Tilburg (Hg.), Maritime Archaeology, S. 97–104, hier S. 100. Vgl. hierzu den Teil XIII. »Curation of Project Archives« der Convention und besonders die Rule 33, in: Garabello/Scovazzi (Hg.), The protection of the underwater cultural heritage, S. 229. Paul Ricœur, »Archiv, Dokument, Spur«, in: Ebeling/Günzel (Hg.), Archivologie, S. 123–138, hier S. 127 und S. 130.

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den glaubt, noch sich auf die Sicherung deren ›gleichgültiger‹ Hinterlassenschaften beschränken will. Das hat Folgen zunächst für jene Ordnung der Vergangenheit, die bereits historiographisch konstituiert wurde – schließlich firmiert in der Archäologie nur das als triftige Nachricht oder signifikante Information, was die historische Ordnung untergräbt. Schon deswegen übt sich solche Archäologie in fundamental kritischer Gewalt. Wenn sie überdies, wie unter Wasser, bevorzugt mit zerstörten oder gesunkenen Zeugnissen zu tun hat, produziert sie auch laufend Archive dessen, was gewaltsam vonstatten gegangen ist: die destruktive Wirkung von Elementargewalten oder etwa das smash and grab von Plünderern. Zu guter Letzt offenbart sie immer wieder das, was man die ›Gewalt der Archive‹ nennen könnte: Nicht selten nämlich tritt erst durch unterwasserarchäologische Funde zutage, dass Archive nicht all das zu den Akten nehmen, was über einen Untergang gewusst wird. Fälschungen, Auslassungen oder sonstige Manipulationen an Archivakten sind gerade bei Schiffbrüchen Legion, sei es, um eine Schuld zu vertuschen, sei es, um sich etwa durch Versicherungsbetrug zu bereichern. Gerade die maritimen Archive stehen für die Unterwasserarchäologie unter Verdacht – und mit ihnen jene Infrastrukturen maritimer Ökonomie, die Untergänge in Kauf nehmen oder ihnen sogar Vorschub leisten. Der shipwreck anthropologist Richard A. Gould etwa untersuchte 120 Jahre nach dem Untergang der North Carolina – in »a lot of shuttling back and forth« – sowohl deren Wrack als auch zahlreiche pertinente Archivbestände. Gezielt fahndete er nach Indizien einer »Underwater Crime Scene«. Neben technischen Ursachen für die Havarie förderte er dabei im Stile einer ›forensischen Archäologie‹, im Duktus einer Kriminaluntersuchung und nicht zuletzt über widersprüchliche Dokumente und auffällige Archivlücken tatsächlich einen »insurance job« sowie die Tatbestände von Veruntreuung und Korruption zutage. Er machte also der Geschichtsschreibung und dem Archiv aus archäologischer Perspektive den Prozess. Damit verfasste er jedoch nicht nur eine Fallgeschichte, sondern entbarg die ›strukturelle Gewalt‹ des kommerziellen Seeverkehrs: »It is always simpler to blame individual wickedness than explore the obscure weaknesse of complex systems«.64 Mit solcher Rekonstruktion gewaltsamer ›Urszenen‹ und mit solchem Vordringen zu einer historisch wie kulturell ›unvordenklichen‹ Gewalt leistet die Archäologie eine spezifische Art von Kulturarbeit. Gerade die maritime Tiefenforschung ist exemplarisch für jenes moderne Paradigma des ›Entbergens‹, das mit jeder Vertiefung des Wissens die Konturen eines Noch-nicht-Wissens zutage fördert – und damit in einen regelrechten Tiefensog gerät.65 Die Zeitgenossenschaft von Tiefsee64

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Richard A. Gould, »An Underwater Crime Scene? The Wreck of the North Carolina«, in: ders., Disaster archaeology, Salt Lake City 2007, S. 168–191, hier S. 177, S. 179 und S. 190. »Das Meer […] kann als ein prädestiniertes Medium gesehen werden, das diese Bedingungen oder Bedingtheit moderner Erkenntnis bei jedem Tauchgang performativ vorführt« (Natascha Adamowsky, »Annäherungen an eine Ästhetik des Geheimnisvollen. Beispiele aus der Meeresforschung

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forschung und Psychoanalyse ist somit keine bloße Koinzidenz. Denn während man das Meer zunächst für einen unbelebten und geschichtslosen Abgrund hielt, um die Tiefsee alsdann als wild bewegt und ihren Boden als ein regelrechtes Archiv der Natur- und Kulturgeschichte zu begreifen, entdeckte man die belebten Tiefen eines erhaltungs- und wirkungsfähigen Unbewussten, das ›Kultur‹ als Effekt einer nachträglichen Bearbeitung und das die Wiederholungen von Gedächtnis und Tradition als fortlaufende Bergungen eines ›Wiedergeholten‹ zu erkennen gibt.66 Sigmund Freud selbst setzte die gründliche Erforschung der unbewussten terra incognita jenem »ozeanischen Gefühl« entgegen, das Romain Rolland als Quelle aller religiösen Ursprungssehnsucht bezeichnet hatte. Gegen die Faszination der Tiefen, die Entdifferenzierung und bloß imaginäre Füllung des Nicht-Wissens zeigte er sich skeptisch und forderte, eine eigene analytische Modalität des Wissens zu entwickeln. Die psychoanalytische Tiefenforschung »ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee«.67 Und mehr noch: Sie kommt einer Archäologie des Archivs gleich. Schließlich hatte Freud ein Modell der Seele entworfen, in dem die Topik von Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem dem System von Kanzlei, Registratur und Archiv entspricht. Das Unbewusste ist ein Archiv, das, solange sein Trägermedium intakt bleibt, sämtliche Spuren bewahrt. Die analytische oder archäologische Arbeit betrifft deshalb nicht nur die Rekonstruktion der Spuren, sondern auch die des Archivs, seiner Systematik und seiner Lücken. Entsprechend veranschaulichen Chronotopoi wie Rom oder Pompeji die onto- und phylogenetische Schichtung des psychischen Apparats. Die psychoanalytische Arbeit sei mit gezielter Grabungstätigkeit zu vergleichen, sagt Freud, nur sei für jene das Feld nicht so bekannt wie für einen Stadt-Archäologen. Hat es indes die Unterwasserarchäologie bei ihrer Rekonstruktionsarbeit mit kaum erschlossenem, ja oftmals veränderlichem Gelände zu tun, so steht sie der Psychoanalyse noch näher als ihre landfeste Zwillingsdisziplin. Als ›Kulturarbeit‹ bescheidet sich die Tiefenforschung jedenfalls nicht bei der Feststellung, Kultur sei potentiell und überdeterminiert. Indem sie zu deren Gründen in einer Bewegung unabschließbarer Nachträglichkeit vorzudringen sucht, stößt sie auf kein Inneres. Ganz im Gegenteil, sie gelangt immer wieder »zur Anerkennung eines ›Draußen‹«.68

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des 19. Jahrhunderts«, in: Wolfgang Krohn [Hg.], Ästhetik in der Wissenschaft. Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, Hamburg 2006, S. 219–232, hier S. 229). Vgl. hierzu Jean-Arthur Goldschmidt, Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache, Zürich 1999, S. 16 und S. 47 f. Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders., Gesammelte Werke, 17 Bde., hg. von Anna Freud et al., Bd. XV, Frankfurt am Main 1999, S. 86. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 419–506, hier S. 424.

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Das Gedächtnis der Literatur Gegenüber älteren Formen des sozialen Gedächtnisses zeichnet sich das der Kultur dadurch aus, dass es von einer bloßen »Topo-Logik« – wie der der klassisch rhetorischen Mnemotechnik – zu einer »Chrono-Logik« überleitet.69 Kultur manifestiert sich nicht nur in reflexiven Beobachtungen, sondern ebenso in Narrativen. Und schöpft das ›kulturelle Gedächtnis‹ aus Archiven und der Potentialität ihrer Daten, so sind seine Erzählakte Aktualisierungen archivarischer Tiefenzeit. Letztlich kann es erst für die moderne Gedächtnis-Kultur regelrechte Chronotopoi geben. Schließlich ist es, wie Michel de Certeau sagt, ihre Chrono-Logik, die geometrische ›Orte‹ in anthropologische ›Räume‹ transformiert, indem sie »Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt«, damit statische Strukturen auf handelnde Subjekte öffnet und so allererst eine »Erfahrung eines ›Außen‹« ermöglicht.70 Nicht von ungefähr sind chronotopische Erzähltheorien immer auch Kulturtheorien: Narrativen Topographien liegen stets kulturelle Topologien zugrunde, während sich diese allein in jenen aktualisieren. Doch hängt, wie die Narratologie feststellt, alles Erzählenswerte am Ereignis einer topographischen Überschreitung.71 Oder anders gesagt: Nur die ›Erfahrung eines Außen‹ verleiht Narrativen eine Tiefendimension. Der Chronotopos des Schiffswracks ist ein Testfall nicht nur für das Paradigma der Tiefenforschung, sondern auch für das Erzählen. Denn um eine Fundstätte zum lieu de mémoire und damit zum Teil des ›kulturellen Gedächtnisses‹ zu machen, reicht es vielleicht noch hin, das Ereignis des Schiffbruchs aus der Perspektive eines – wie auch immer idealisierten – ›Zuschauers‹ zu rekonstruieren, davon zu erzählen, was sich aufgrund der Aktenlage zugetragen haben könnte, Daten also in Sequenzen und Archivalien in Narrative zu übersetzen. Ein Erzählen indes, das vom topographischen Gedächtnis nicht nur ausgeht, sondern ihm vielmehr auf den Grund zu gehen sucht, das sozusagen den topischen Raum des Archivs durchstöbert, um ihn dann in einer ›Erfahrung des Außen‹ zu überschreiten, kommt jener Tiefenforschung gleich, für die die psychoanalytische, besser aber noch die unterwasserarchäologische Arbeit Pate steht. Ein ›Schiffbruch mit Zuschauer‹ ist, wie Hans Blumenberg sagt, die »Figur einer philosophischen Ausgangserfahrung«.72 Doch wenn die Orte des – sei es begrifflichen, sei es wissenschaftlichen – Archivs nicht nur zu hypothetischen Szenarios fortgeschrieben, sondern auf die ›Erfahrung‹ 69 70

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Esposito, Soziales Vergessen, S. 248. Michel de Certeau, »›Räume‹ und ›Orte‹«, in: Dünne/Günzel (Hg.), Raumtheorie, S. 345–352, hier S. 345. Vgl. hierzu Jurij Lotman, »Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen«, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kunst, Kronberg, Taunus 1974, S. 338–377, hier S. 343 f. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979, S. 15.

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eines archivarischen ›Außen‹ hin geöffnet werden; und wenn aus ihr nicht nur beliebige Erzählsequenzen extrapoliert werden, sondern die versunkene Zeit gerade in ihren umständlichen Wieder-holungen regelrecht wiedergefunden wird, so wäre wohl treffender von einem ›Schiffbruch mit Bergung‹ zu sprechen. Vielleicht ist diese, wie man sagen könnte, ›Figur einer archäologischen Ausgangserfahrung‹ das Privileg jener Zeitkunst, in der sich moderne Erzählliteratur übt. Denn anders als die Gedächtnis-Kultur mit ihren einfachen Narrativierungen ist solche Literatur nicht bloß eine Beobachtungsform, die, wenn sie sich nicht ohnehin mit der Gleichgültigkeit archivarischer Begebenheiten begnügt, auf deren Grundlage längst Vergangenes umstandslos vergegenwärtigen, also Versunkenes mit den Mitteln einer vermeintlich ›belebenden‹ Einbildungskraft an die Oberfläche der Gegenwart holen will. Im Stile archäologischer Tiefenforschung sichert sie vielmehr die chronotopischen Spuren eines ›Vorübergegangenen‹, um sich dann gerade an deren Unlesbarkeit abzuarbeiten. Statt diese Spuren also vorschnell zu ›verstehen‹, verlegt sie ihr Augenmerk auf den Prozess einer nachträglichen Hervorbringung, um sich dabei unablässig selbst zu beobachten und damit immer schon von ihrer eigenen Poetik zu erzählen. Wenn Klaus Heinrich – mit Blick auf den Schiffbruch der Medusa – als ›Faszinationsgeschichte‹ jene »Dimension der Realgeschichte« bezeichnet hat, die Beobachtungsformen wie die der Kultur »auf dem Stockenden hält« und deshalb »das intellektuelle Medium der Künste« ist,73 so mag dies verdeutlichen, wieso gerade das Paradigma des ›Entbergens‹ und der Tiefenforschung eine derartige Faszinationskraft ausübt, und weshalb sich eine Kunst wie die des Erzählens nicht in Archiv-Phantasmen erschöpft. Denn anders als die Narrative des kulturellen Gedächtnisses untergraben die der Literatur das archivarische Wissen archäologisch, indem sie das Stocken von Beobachtung und Einbildungskraft in ihrem eigenen Erzählverfahren vorführen. Ist die ›Erfahrung des Außen‹, wie Michel Foucault sagt, für das moderne Schreiben, bei all seiner Selbstbezüglichkeit, generell charakteristisch,74 so kann für jene Erzählliteratur auf mehreren, sowohl formalen als auch thematischen Ebenen, von einer Poetik der Überschreitung gesprochen werden: erstens auf Ebene des Wissens, insofern derlei Texte die Dokumente der Historie und des Archivs ihrerseits als Produkte historischer Konstellationen oder archivarischer Praktiken sichtbar machen und den Bereich der Textualität überhaupt auf das Außen einer – im räumlichen wie zeitlichen Sinne – versunkenen Materialität hin zu überschreiten suchen; zweitens auf Ebene des narrativen Modus, insofern die Potentialität archivarischer Daten und die Latenz materieller Artefakte den Entwurf virtueller Szenarien nahelegt, weshalb sich die betreffenden Erzählungen zwischen faktualen und fiktionalen 73

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Klaus Heinrich, Das Floß der Medusa. 3 Studien zur Faszinationsgeschichte mit mehreren Beilagen und einem Anhang, Basel, Frankfurt am Main 1995, S. 7. Vgl. Michel Foucault, »Das Denken des Außen«, in: ders., Dits et Écrits. Schriften, Bd. 1: 1954– 1969, Frankfurt am Main 2001, S. 670–697, hier insbes. S. 672 und S. 696.

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Schreibweisen halten, einerseits konstitutives Nicht-Wissen mit Fiktion legieren, andererseits – deutlich in Genres wie dem ›Non-fiction-novel‹ – jeden Erzählakt obsessiv mit Dokumenten untermauern;75 drittens auf Ebene der Topographie, insofern derlei Texte auf der Papieroberfläche nicht mehr nur das entfalten, was sich auf der Meeresoberfläche zugetragen haben mag; vielmehr handelt der Text nun von der Lesbarmachung dessen, was der Meeresgrund als Bodenarchiv zu erkennen gibt, von dessen Abgleich mit den landfesten Archiven und schließlich von der Erfahrung, die der Erzähler in der Passage zwischen Meeresoberfläche und -grund gemacht hat. Erfahrungsberichte wie Hamilton-Patersons Three Miles Down (1998) durchqueren allemal ein Spannungsfeld, das modallogisch zwischen den Polen von Faktualität und Fiktionalität, poetologisch zwischen Archiv und Archäologie und topographisch zwischen Meeresoberfläche und Meeresgrund aufgespannt ist. Schon weil die Erkundung der Tiefsee – neben der des Weltraums – die letzte Möglichkeit zu einer Pioniertat verspricht, ist der Bericht von einer professionell betriebenen Wracksuche ganz im Stile einer Abenteuererzählung gehalten. Die Archive ebenso wie die zahlreichen Ortungs- und Bergungsgeräte erscheinen hier als Konjekturaltechnologien, die eine Vielzahl von Verzweigungen des Abenteuergeschehens versprechen. Und es ist eben dieses Versprechen, das »den durchschnittlichen Grundeinfall zu einer Romanhandlung oder einem Lyrikbändchen weit hinter sich läßt«.76 Als Teilnehmer einer Fahrt im Tauchboot, die bis in 5000 Tiefenmeter reicht, wird der Erzähler schließlich auf die Erkundung dessen verwiesen, was er als tiefsten Grund der eigenen Innerlichkeit erwartet. Dort, wo die Immersion des wahrnehmenden Subjekts ungleich tiefreichender als jemals zu Lande ist, versucht er sich deshalb an einem Protokoll im Stile der écriture automatique. Der Abstieg zum »prochronischen« und »prophotischen« Meeresgrund führt jedoch ins Gegenstandslose – und für einen Schriftsteller damit zunächst nur zu Analogien mit astronautischen Erfahrungsberichten, alsdann zum Räsonnement über das ozeanische Gefühl und zuletzt ins Archiv der rhetorischen Topoi vom Unsagbaren.77 Der tiefste Grund des Innersten verliert sich in Äußerlichkeit. Da die Bergungsmission nicht nur auf archäologisches Kulturgut, sondern die vermeintliche Goldladung eines versunkenen nationalsozialistischen U-Boots spekuliert, ist die ganze Unternehmung durch mögliche seerechtlichen Interventionen der englischen, US-amerikanischen und russischen Marinen gefährdet. Somit dreht sich die Suche, zumal sie auf kein Fundstück stößt, letztlich nur um Codierungssysteme, um die Entschlüsselung der archivarischen, der Navigations- und Ortungsdaten und um die Verschlüsselung der – mutmaßlich abgehörten – eigenen Kommunikation. 75

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Vgl. hierzu aus Sicht der Narratologie: Gérard Genette, Fiktion und Diktion, München 1992, S. 91 f. James Hamilton-Paterson, Drei Meilen tief, Stuttgart 2000, S. 97. Ebd., S. 255 und S. 267.

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Sind Archive, solange machtpolitisch besetzt, durch rechtliche oder technologische Zugangsbeschränkungen gekennzeichnet, so gilt dies für die institutionalisierten Archive genauso wie für die maritimen Bodenarchive. Dies setzt Bergungsmissionen Grenzen besonders dann, wenn sie auf militärisch und militärgeschichtlich relevante Wracks zielen. Und vielleicht markiert es auch die Grenzen einer narrativen ›Archiv-Poetik‹. Für die gehegten und codierten Archive der Moderne scheint nämlich die Maxime zu gelten: »Macht ist nicht dort, wo erzählt wird«.78 Umso triftiger ist eine narrative Archäologie, die vormals klassifizierte Archive, wie spät auch immer, erstmals öffnet. Wenn etwa Robert Kursons Shadow Divers (2005) die Ortung und ordnungsgemäße Identifikation eines zunächst rätselhaften deutschen U-Boots aus dem Zweiten Weltkrieg rekonstruiert, so schildert diese factual fiction sowohl die Archiv- als auch die Tauchgänge als »small initial penetrations« zu Lande und zu Wasser. Der Ertrag dieser endlosen Doppelrecherche in oft gesperrten, oft lückenhaften Beständen ist der Fund eines in US-amerikanischen Geheimarchiven geborgenen Ultra-top Secret: Die U-869 war ursprünglich nach New York beordert worden, hat einen von allierten Codebreakers abgehörten Funkspruch, der sie umleiten sollte, nie erhalten und versenkte sich wohl vor New Jersey selbst. Gerade dass die tauchenden Archäologen durch die Phalanx der postwarassessors und Geschichtsbücher hindurch in die bis dato klassifizierten Archive des Codierungskriegs eingedrungen sind, macht sie zu wahren Tiefenforschern.79 Schon weil sich die moderne Tiefseeforschung dem Neugebrauch von Heeresgerät der beiden Weltkriege verdankt,80 verquickt ihre literarische Thematisierung mit einer Archäologie der Macht und ihrer Medien. Und dies nicht nur mit Blick auf die versunkene, sondern gerade auf die Jetztzeit. Für eine ›Archäologie der Gegenwart‹, die diesseits wissenschaftlicher oder juristischer Distinktionen ansetzen muss, sind Fundstücke am Meeresboden schillernde, mehrdeutige Gegenstände: womöglich ›Gräber‹ oder ›Zeitbomben‹, vielleicht auch ›Goldminen‹ oder ›Zeitkapseln‹. Und mehr noch: Ein Schiffswrack ist ein objet ambigu in dem Sinne, dass es, wie Hans Blumenberg sagt, »nicht die Bestimmtheit eines Punktes, sondern die Potentialität eines Horizontes« aufweist. Den »Komplex der Umstände zu ersetzen durch die Analyse von Faktoren, das Schiff vorzustellen als einen Körper, auf den bestimmte Wirkungen ausgeübt werden« – dies bewirkt ein archäologischer Blick, der damit dem Fundstück »Transzendenzcharakter« verleiht und in dieser Wendung zum Außen eine eigentümlich

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Wolfgang Ernst, »Das Archiv als Gedächtnisort«, in: Ebeling/Günzel (Hg.), Archivologie, S. 177– 200, hier S. 185. Robert Kurson, Shadow Divers. The True Adventure of Two Americans Who Risked Everything to Solve One of the Last Mysteries of World War II, New York 2005, S. 192 und S. 271. Zur Entwicklung von Sonic Depth Finder und directional sonar system aus den submarine detectors der beiden Weltkriege vgl. Susan Schlee, A History of Oceanography. The Edge of an Unfamiliar World, London 1975, S. 244–251 und S. 285.

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poetologische Perspektive eröffnet.81 Der Zeit und Sichtbarkeit entzogen, kann ein solches Objekt nämlich nicht nur der Gegenstand bloßer theôria sein. Es zeitigt vielmehr einen »Spezialfall von Unbegrifflichkeit«,82 den das literarische ›Denken des Außen‹ in einer unabschließbaren Bewegung zu ergründen unternimmt. Uwe Johnsons entsprechend betitelte Erzählung »Ein unergründliches Schiff« (1979) handelt von einem in der Themsemündung versunkenen Wrack, um im Stile eines Denkbilds »dieser Strandbeute auf den Grund zu gehen, das aufgelaufene Gut zu bergen, historisch, magisch, biografisch, soziologisch, chemisch, administrativwissenschaftlich, poetisch, statistisch«. Das 1944 vor Sheerness und der stets überschwemmungsgefährdeten Insel Sheppey auf Grund gelaufene Munitionsschiff Richard Montgomery gilt den Inselbewohnern als ihre »einzige Sehenswürdigkeit« und zudem als ihr einziges »Denkmal« für den Zweiten Weltkrieg.83 Dass das Wrack sozusagen in-situ archiviert wird, hat seinen Grund allerdings weniger in der Sorge um das kulturelle Erbe als in seiner wohl noch immer scharfen, bei einer möglichen Explosion immens zerstörerischen Ladung Tnt und Phosphor. Die Montgomery ist in Wirklichkeit eine ›Zeitbombe‹. Weil deren Hebung selbst unabsehbare Gefahren bergen würde, bleibt ihr Wrack liegen und durch Zugangssperren umhegt. Die »amtliche Legende« lautet, »je mehr und länger ihnen das Seewasser zusetze, desto unschädlicher« würden die versunkenen Bomben.84 Obschon man sie in diesem Spiel auf Zeit in unbestimmte Ferne, ja ins Vergessen zu rücken versucht, ist es vielleicht gerade diese nahe Gefahr, die, wie man mit Heidegger (und abermals mit Hölderlin) sagen kann, »das Rettende bringt. Was heißt ›retten‹? Es besagt: lösen, freimachen, freien, schonen, bergen, in die Hut nehmen, wahren«.85 Gerade weil fahrlässigerweise nicht gehoben, sondern allenfalls von wissenschaftlichen Kontrolluntersuchungen behelligt, wird das Wrack bei Johnson zu einer Allegorie jener Seinsvergessenheit, die Heidegger mit dem ›Gestell‹ verbindet – mit dem besinnungslosen Anspruch, »das Sichentbergende als Bestand zu bestellen«, so dass mit der bloßen »Sicherung des Bestandes […] dieses Entbergen als ein solches nicht mehr zum Vorschein kommen« kann.86 Konkret gesagt: Das gefährliche, nur zur Hälfte versunkene Schiffswrack ent- und verbirgt zugleich die Technik und ihre Gefahr: Es zeugt bereits als motorgetriebenes, mehr aber noch als Munitionsschiff vom Gebrauch unterschiedlicher Naturkräfte, des81

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Hans Blumenberg, »Sokrates und das ›objet ambigu‹. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes«, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2001, S. 74–111, hier S. 98, S. 108 und S. 111. Ders., Schiffbruch mit Zuschauer, S. 87. Uwe Johnson, »Ein unergründliches Schiff«, in: Merkur 33/6 (1979), S. 537–550, hier S. 538 und S. 541. Ebd., S. 547. Martin Heidegger, »Die Kehre«, in: ders., Die Technik und die Kehre, Pfullingen 51982, S. 41. Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, S. 27 und S. 35.

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sen Gefahren für ›das Seiende‹ auf der Hand liegen und zugleich ›wissenschaftlich‹ verborgen werden. Die Gefahr für ›das Sein‹ besteht indes darin, die technische poiêsis, das ›Her-vor-bringen‹ durch das ›Ge-stell‹ zu vergessen, sei es im alltäglichen Betrieb der Küsten- und Wrackkontrolle, sei es im ›gleich-gültigen‹ Kulturund Gedenkbetrieb. Johnson ist sich darin mit Heidegger einig, dass das Wesen der Technik selbst nichts Technisches ist, sondern als eine Weise des ›Her-vor-bringens‹ auch und gerade eine poiêsis wie die Literatur angeht. Diese ist ein Seismograph für die poiêsis von Technik einerseits, Kultur andererseits, und zudem für beide gefährliche, weil sich ergänzende Neigung, ihre eigene Art des Hervorbringens zu vergessen. Wäre, wie bereits Freud sagte, blindes Technikvertrauen ebenso wie die selige Hingabe an das ›ozeanische Gefühl‹ nur ein »Weg zur Ableugung der Gefahr«,87 so wird für Heidegger die Gefahr der ›Seinsvergessenheit‹ allerdings durch den poetischen Aufweis eines ›Unverborgenen‹ gebannt. Und genau hiergegen erhebt Johnsons Text Einspruch. ›Wahrheit‹ stellt sich für seine archäologische Poetik nämlich nicht im Sinne von Heideggers ›Unverborgenheit‹ oder aletheia ein – nicht in einer mythopoetischen, bei Hölderlin vorbildlich gewordenen Einheit von Dichten und Denken. Vielmehr löst Johnson den Prozess der Wahrheitssuche, nach dem Vorbild archäologischer Wissenschaftspraxis, in einen Prozess des unablässigen und rekursiven ›Entbergens‹ auf. Er verklammert nicht den ontologischen Gedanken mit dem Dichterwort, damit sich die Dinge ›von sich her‹ und ›unverborgen‹ zeigen können. Vielmehr verknüpft er die archäologisch betriebene Suche nach der versunkenen Zeit, seine Recherche auf dem Feld einer weitläufigen empirischen Verstreuung, mit einem Erzählprozess, der auf sein eigenes – weniger lyrisches als episches – Procedere, auf die Virtualität seiner Szenarien und die Unsicherheit ihrer Gründe stetig rekurriert.88 Dabei führt Johnsons Text selbst zweierlei vor: dass sich der Grund und Ursprung der Wahrheit nur desto mehr zurückzieht oder verbirgt, dass das Schiff also nur desto ›unergründlicher‹ wird, je ›gründlicher‹ die Wahrheitssuche aufgenommen wird; und dass mit der Grundsuche die gegenwärtige Gefahr, die Gefährdung der Gegenwart selbst, verborgen und vergessen zu werden droht. Einerseits schreibt sich Johnsons Erzählung geradewegs aus den Archiven her: Was sich historisch im Schiffsnamen sedimentiert hat und was fortan unter den Eiländern »bis in die Redensartlichkeit hinein« gesunken ist; welche strukturelle Gewalt sich im Namen der spezifisch amerikanischen ›Freiheit‹ – nämlich der, »die 87 88

Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 430. Als klare Option für Johnsons empirischen Wahrheitsbezug des Erzählens und gegen Heideggers Verklammerung von Dichten und Denken vgl. Ulrich Kinzel, »Bergungen. Das Wrack, die Wahrheit und die Kunst in Uwe Johnsons ›Ein unergründliches Schiff‹«, in: Johnson-Jahrbuch 8 (2001), S. 134–151.

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Arbeit anderer zu benutzen« – in diesem massenhaft gebauten Schiffstyp niedergeschlagen hat; oder durch welches Versagen innerhalb der Steuerungs- und Kommandoabläufe es zu der Havarie gekommen ist – all diese philologischen, ökonomischen und organisatorischen, im Wrack sich überkreuzenden Faktoren fördert Johnson zutage, ohne damit auf einen festen und allein ›zureichenden Grund‹ zu stoßen.89 Andererseits untergräbt der Text selbst diese Grundsuche. Er schichtet derlei ›Kontextinformationen‹ nämlich so übereinander, als müsste hier ein bloß archivarisches Bewusstsein jene Gefahr verleugnen und verschütten, die mit dem explosiven Kriegsgerät eigentlich klar zutage liegt – und als solche spezialisierten Risikotechniken wie der Versicherung einfach überlassen wird. Nicht nur Kriegstechnik, sondern ebenso die technê des Archivs birgt die Gefahr, mit dem Vorübergegangenen auch die Gegenwart dem ›Ge-stell‹ zu übereignen, ja sie in dessen Bestand geradezu versinken zu lassen. Und mehr noch: Auch reine Theorie ist eine Erkenntnisform, die über die Grundsuche nach Evidenz und Sichtbarkeit vergisst, sich um das Unverborgene der eigenen gefährdeten Gegenwart zu sorgen. Am Schluss der Erzählung heißt es deshalb: »Sobald eine Gefahr unsere Aufmerksamkeit und unsere Gegenwehr verlangt, kann sie unserer theoretischen Bemühung gewiß sein. Sei das ein zerbrochenes Bombenschiff in der Mündung der Themse«.90 Als factual fiction, die vom technischen und kulturellen ›Betrieb‹ ebenso erzählt wie sie die Gefahr des ›Ge-stells‹ seinsgeschichtlich zur Sprache bringt, führt Johnsons Text also die Alternative von ›Vergessen‹ und ›Entbergen‹ als eine Einheit in der Unterscheidung vor. Fällig ist für ihn nicht ein ›Andenken‹ an vollends Versunkenes als vielmehr eine ›Archäologie der Gegenwart‹. Oder anders gesagt: Er betreibt eine ›Archäologie des Wissens‹, die weder von Begriffen noch von bloßen Begebenheiten ausgeht, sondern durch beider Koordination signifikante Strukturen hervortreten lässt. Allgemein gesprochen, wird Literatur dadurch zu einem besonderen Gedächtnis, dass sie der ›Kulturtechnik‹ des Archivs, der Infrastruktur jedes Gedächtnisses also, ihrerseits auf den Grund geht, diese Grundsuche – und ihre theoretischen Implikationen – aber ihrerseits beobachtet. Sie ist eine Erinnerung daran, dass es ohne Archive keine Kultur gäbe – und dies nicht nur, weil Kultur das Andere des Chaos ist, sondern weil sie die ›Gleichgültigkeit‹ des Zufalls und die Gefahr des Untergangs immer schon in Kauf, ja zuletzt auch zu den Akten nimmt. Zugleich aber gemahnt solche Literatur daran, dass die Archive selbst auf einem Ungrund der Dinge und der Worte ruhen, den man ›Meer‹ oder einfach ›Chaos‹ nennen mag. Um diesen Grund oder Ungrund zu erkunden, bedarf es in jedem Fall der Archäologie, zu Lande und – mehr noch – zu Wasser.

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Johnson, »Ein unergründliches Schiff«, S. 540 und S. 548. Ebd., S. 550.

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Archive und Geschichten des »Deutschen Ostens« Zur narrativen Organisation von Archiven durch die Literatur Niels Werber

Nach dem schnellen Sieg der Wehrmacht in Polen schien es, als könnten sich die »weißen Jahrgänge« der Reichsstelle für Raumordnung (RfR) und der ihr zugeordneten Wissenschaftsorganisationen entspannen. Die 1901 und später geborenen Akademiker und Professoren wie Konrad Meyer (geb. 1901) oder Gerhard Isenberg (geb. 1902) konnten hoffen, nicht zum Dienst an der Front eingezogen zu werden, um weiter ungestört in der Etappe ihre von der DFG mit reichlichen Mitteln versehenen geo-, agrar-, bevölkerungs- und raumpolitischen Studien zu betreiben. Dem Oberkommando der Wehrmacht erschienen derartige Forschungseinrichtungen in Kriegszeiten jedoch überflüssig, die Mobilmachung der vom Versailler Vertrag gesperrten Jahrgänge überdies politisch geboten und die Auflösung der RfR via Einberufung ihres Personals mithin angezeigt.1 Deren Leiter allerdings, Reichsminister Hanns Kerrl, konnte »dies nicht zuletzt dadurch verhindern, dass er die Bedeutung der Arbeiten der RfR für die künftigen Aktivitäten in den neuen Ostgebieten besonders hervorhob«.2 Planungen für Maßnahmen im Osten seien »kriegswichtig«, und in der Tat wurden wichtige Mitarbeiter der Arbeits- und Forschungsstellen der Raumplaner »uk-gestellt« und nicht zum Fronteinsatz eingezogen. Sie werden unter dem Titel der Raumplanung die Umsiedlung und Vernichtung einer Millionenpopulation vorbereiten und umsetzen helfen und Ergebnisse produzieren, die ihre Einberufung immer wieder aufschieben sollten. Die Ansicht, dass es ohne Raumplanung nicht gehe, wenn denn der »Volkskörper« gedeihen solle, hatte sich in den Administrationen und Körperschaften aller Ebenen bereits in den drei Jahrzehnten zuvor mehr und mehr durchgesetzt. Die Ordnung des Raumes könne nicht dem Zufall überlassen werden, wenn denn die Nation »arbeitsfroh, zufrieden und glücklich« sein solle, heißt es bereits 1912 in einer einflussreichen Denkschrift eines Wegbereiters der Raumplanung, Robert Schmidt.3 Nun galt es aber, die eroberten Gebiete dem Reich zu erschließen und

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Vgl. Ariane Leendertz, »Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert«, in: Norbert Frei (Hg.) Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008, S. 119 und S. 144 f. Ebd., S. 144, Hervorh. N.W. Ebd., S. 39.

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dem »Ostraum« eine der deutschen Kultur entsprechende »Struktur« und »Gestaltung« zu geben.4 Die Annahme, dort sei »alles« möglich, verstärkte sich im »Siegesrausch der militärischen Erfolge« der Jahre 1940 und 1941. Die »Eroberung immer neuer weiter Räume« im Osten löste unter den Raumforschern eine veritable »Planungseuphorie« aus.5 Die Strukturmaßnahmen zur Bewältigung der »Raumnot« des »Altreichs« wurden ad acta gelegt, denn nun stand die Erschaffung eines neuen Reiches auf der Tagesordnung. Konrad Meyer, ehemaliger Vizepräsident der DFG,6 seit 1941 Leiter des Planungsamtes beim Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums im Rang eines SS-Oberführers und Hauptautor des »Generalplans Ost«, bringt die Stimmung seiner Forschergruppen im Jahr 1942 auf den Begriff der »echten Planungsfreiheit«, die er wie folgt definiert: Es gehört zum Wesen echter Planungsfreiheit, dass 1. Menschen des eigenen Volkes in ausreichender Zahl und entsprechender Eignung zur Verfügung stehen und 2. Grund und Boden, der sich in Besitz der Angehörigen des eigenen Volkstums befindet, in erforderlichem Umfang verfügbar ist.7

Mit den Parolen der Zeit gesprochen: Das »Volk ohne Raum« hat im Osten endlich seinen »Raum ohne Volk« gefunden.8 Die Suche in den Weltmeeren oder gar im Weltraum, die in den Romanen der 1920er und 30er intensiv geführt wurde, konnte nun aufhören.9 Die »Bilanz« aus dem »Verhältnis zu Land und Leuten«, die der »Rechnungstag in Versailles« dem Deutschen Reich verhagelt hatte, stimmte endlich wieder,10 und die Epoche der »Neuen Raumordnung« hatte begonnen,11 nicht in den verlorenen Kolonien, sondern in den Weiten des »menschenleeren Osten«.12 Die »Vernichtung der Sowjetunion« ermögliche die »Einbeziehung weiterer östlicher Gebiete in den europäischen Lebensraum« und gebe dem »Reich die volle Planungsfreiheit zurück«, unterscheidet Meyer selbst 1942 die neue Lage 4 5 6

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Ebd., S. 146. Ebd., S. 153. Bis zu 6 Prozent des Jahresvolumens der DFG-Mittel flossen in die von Meyer koordinierte Raumforschung. Vgl. den spannenden Vortrag von Dr. Isabel Heinemann: Wissenschaft, Planung, Umvolkung. Konrad Meyer und der »Generalplan Ost«, HU-Berlin am 21.05.2003, online unter: http://ns-zeit.geschichte.hu-berlin.de/Portals/_NS_Zeit/Documents/vortrag_heinemann.pdf, letzter Zugriff am 14.08.2009. Zitiert bei Czeslaw Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan: Dokumente, München u. a. 1994, S. XVII. Heike Wolter, »Volk ohne Raum« – Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik, Münster u. a. 2003, S. 99. Siehe nur Hans Dominik, Land aus Feuer und Wasser, Leipzig 1939 und Ludwig Anton, Brücken über den Weltraum. Ein Roman deutscher Zukunft, Bad Rothenfelde 1922. Gerhard Sachs, Kampf um Raum. Deutsches Schicksal in Zahlen, Berlin 1935, S. 36 und S. 40. Ebd., S. 92. Ebd., S. 9.

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»grundlegend« von der »Altreichsplanung«.13 Die Frage bleibt, wie und wozu diese »Freiheit« genutzt werden soll.

Tabula rasa und Planungseuphorie »Raum ohne Volk« wird in der deutschen Literatur der Zwischenkriegszeit als »tabula rasa« konstruiert.14 Die Bevölkerung solcher Räume wird dabei vollkommen ignoriert oder als Störung gedeutet, deren Behebung nach dem Muster des Hottentotten-Krieges stets einer Vernichtung gleichkommt. In einem revanchistischen Roman Ludwig Antons wird die Leere, die für die Neuordnung unverzichtbar scheint, durch eine Vergasung der gesamten Biosphäre und anschließender Planierung des Terrains großtechnisch hergestellt.15 Die kolonialen16 oder utopischen Raumvisionen der 1920er werden in den 1940er Jahren in den »Ostraum« verlegt. Der Osten sei leer, weit und wüst. Reinhard Heydrich imaginiert in seiner Prager Rede vom 2. Oktober 1941 die östlichen Teile der »unter der Führung des Führers« besetzen »unendlichen Räume im Europa« als Neuland, dessen Sicherung er mit der »Eindeichung neuen Landes an der Küste« zu vergleichen sei.17 Heydrich blickt auf die von Millionen Menschen bevölkerten Ostgebiete als ein Meer, zu dessen Eigenschaften – wir kommen auf verschiedene Qualitäten dieses »glatten Raumes« immer wieder zurück – auch die Unbehaustheit gehört. Die »volle Planungsfreiheit«, von der Konrad Meyer 1942 schwärmt, entwirft die neue Raumordnung auf der glatten Wachstafel. Diese Metapher wirft allerdings die Frage auf, was denn nun in sie hineinzuritzen sei. Welche Kerbungen sollen ihr Struktur geben, welche Ordnung soll in das Alles oder Nichts purer Potentialität hineingeprägt werden? Gerade weil die Annahme der Planungsfreiheit allen raumund geopolitischen Realitäten zum Trotz den Osten als ein beliebig zu formierendes Medium konstruiert, können ›weiche‹ Faktoren einen großen Einfluss erringen. Es sind literarische Muster, die in den Aktenbergen und Zahlenhaufen der Berliner Forschungsstäbe wirksam werden und ihren Planungen eine bestimmte Richtung geben – und zwar deswegen, weil alle Richtungen denkbar scheinen. Das von der deutschen Literatur seit dem frühen 19. Jahrhundert mitgeprägte und zumindest mitkonstituierte Narrativ des »Deutschen Ostens« stellt ein Programm zur Verfügung, den wüsten Raum der eroberten Gebiete in Form zu bringen.

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Madajczyk (Hg.), Generalplan Ost, S. XVII. Wolter, »Volk ohne Raum«, S. 105 f. Anton, Brücken über den Weltraum, S. 295. Vgl. Hans Grimm, Volk ohne Raum (1926), Lippoldsberg 1991. Madajczyk (Hg.), Generalplan Ost, S. 20 f.

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Archive und Geschichten Die Wissenschaftler der Raumplanungseinrichtungen und Autoren des »Generalplans Ost« begnügen sich nun keineswegs mit dem Postulat einer »tabula rasa«, sondern stützen sich auf eine Vielzahl eigener und geraubter Archivalien aus vielen Jahrhunderten und neu erhobener Daten. Das Archiv des »Generalplans« besteht aus ökonomischen und demographischen Statistiken, aus Akten der Einwohnermelde- und Katasterämter, der Steuer- und Polizeibehörden, aus Jahrbüchern aus verschiedenen Zeiten der ehemaligen preußischen, österreichischen und reichsdeutschen Herrschaft über den ›Osten‹, aus Karten und aus neu erhobenen Daten der verschiedenen Besatzungsbehörden des »Generalgouvernements«, der annektierten Provinzen und der Reichsstatthaltereien. Was an Datenströmen in Berlin zusammenläuft, sind zunächst einmal Zahlen, die von der Raumforschung aufbereitet werden müssen. Hinter jeder Statistik und jeder Graphik steht die Überzeugung, dass wie hier im Falle der Abbildung aus Gerhard Sachs’ Kampf um Raum, die Zahlen das Deutsche Schicksal repräsentieren (Abb. 1).18 Die Aktenbestände, die heute als Generalplan Ost firmieren, umfassen Zahlenwüsten und ihre Auswertung. Was die Archivbestände der besetzten Gebiete betrifft, die in großem Umfang und systematisch von diversen Einsatzgruppen geraubt werden,19 zählen zum »politisch wichtigen Material« vor allem zwei Aktengruppen. Im Bericht eines in Kiew tätigen Archivars der Wehrmacht vom 15. 2. 1942 werden genannt: 1. Jüdische Archivalien, die den Holocaust organisieren helfen, und 2. »volklich wichtige Urkunden und Akten«, die »für die Frage der deutschen Ansiedlung und Kolonisation« wichtig seien.20 Anja Heuss konstatiert zum Ziel des Kunst- und Kulturgutraubs deutscher Einsatzgruppen in besetzten Gebieten, im Osten habe die mit Museen und Archiven befasste deutsche Zivilverwaltung die »These« belegen wollen, »dass es sich bei den besetzten Gebieten um germanischen ›Kulturboden‹ handelte«, der nach langer Zeit der Verwahrlosung nun wieder vom ursprünglichen Kulturstifter in Besitz genommen werde.21 »Germanischer Kulturboden« – also keinesfalls ein »glatter Raum«. Diese Überzeugung steht wiederum in Widerspruch mit der vom »Führer« bis zu den mit der Raumplanung befassten Wissenschaftlern 18 19

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Sachs, Kampf um Raum, S. 45. Vgl. Karl-Heinz Roth, »Eine höhere Form des Plünderns. Der Abschlußbericht der »Gruppe Archivwesen« der deutschen Militärverwaltung in Frankreich 1940–1944«, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4/2 (1989), S. 79–112; Anja Heuss, »Die Gruppe ›Archivwesen‹ im Spannungsfeld von Archivraub und Archivschutz«, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Deutschfranzösische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007, S. 155–166; dies., Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000. Für Hinweise auf den »Archivraub« danke ich Christian Jaser. Zitiert bei Heuss, Kunst- und Kulturgutraub, S. 183. Der Rest wird Makulatur: auch eine triage. Ebd., S. 191.

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Abb. 1: Abbildung aus Gerhard Sachs’ Kampf um Rom (1935)

und Beamten hinunter vertretenen Annahme, der slawischen Raum sei ohne eigene historische Tiefe, denn wer gräbt, stößt auf den »subgermanischen« Untergrund,22 der im Osten seit der Deutschordenszeit das »Fundament« aller Kultur darstelle.23 Grabungen und Archivrecherchen sollten diese »These« belegen, und Früh- und Vorgeschichtler verschiedener Institutionen vom »Ahnenerbe« bis zum »Amt Rosenberg« fanden oder fabrizierten immer neue Belege für die Germanizität des Ostens.24 Das entsprechende Narrativ, das die Datensammlung anleitet, steuert auch die Fabrikation einer »germanischen« Vergangenheit der »slawischen Sahara«. Die Akten und Archivalien des von den Berliner Forschungsstellen konzipierten »Generalplans Ost« bestehen aus langen Listen von Feldern, zu denen man sich dringend exakt erhobene Daten wünscht, die dann statistisch aufgearbeitet und der »zeichnerischen Auswertung« (Grafiken und Karten) zur Verfügung gestellt werden 22

23 24

Dieser Begriff wird von NS-Historikern verwendet, etwa von Wolfgang Kothe, der in seiner Schrift über »Die geistige Mobilmachung im Kampf um den Osten« zur Eroberung des »subgermanischen Raumes« aufgerufen hat. Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten, Göttingen 2 2002, S. 148 f. Sachs, Kampf um Raum, S. 19. Vgl. Michael H. Kater, Das »Ahnenerbe« der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 42006, S. 290 ff. Die Forschungsgemeinschaft »Ahnenerbe« der SS etwa unterhielt eine Grabung in Polen (S. 292). Unter den Funden befanden sich auch Fälschungen (S. 301).

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Abb. 2: Abbildung aus dem Geopolitischen Geschichtsatlas (1930)

sollen.25 Die umfangreichen »Anlagen« der Denkschriften und Gutachten bestehen zum großen Teil aus Karten, Grafiken, Zahlen und Hochrechnungen (Abb. 2).26 Die Grafik soll belegen, dass unter den Verwüstungen im Osten »deutscher Volksboden« liegt, der auf seine Erschließung wartet. Ein weiterer Teil handelt vom »Boden«, der nach Kultivierungsmöglichkeiten unterschieden wird.27 Die Unterkultiviertheit des »Ostens« weist Dr. Kuchenbäcker statistisch nach (Abb. 3).28 Dieses aus den Archiven generierte statistische und kartographische Material erzählt noch keine Geschichte. Es gibt der Planung keine Richtung. Um in den 25 26 27 28

Madajczyk, Generalplan Ost, S. 26 f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 358. Ebd., S. 362.

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Abb. 3: Auflistung landwirtschaftlicher Erträge (1934–38)

»Zahlen« das »Deutsche Schicksal« lesen zu können wie Gerhard Sachs, muss das Material bereits vom Mythos der »deutschen Landnahme« organisiert worden sein.29 Meine Hypothese ist: Ein Narrativ, das den »Formeln«, »Kurven« und »Zahlen« einen Sinn gibt,30 liefert der deutsche Ostroman.

Zerfetzter Raum und Wüste. Polen aus deutscher Sicht Eine Denkschrift für Hans Frank, den Generalgouverneur des Generalgouvernements, beginnt einschlägig mit dem Kapitel »Polnische Wirtschaft«. Ihr Autor, Dr. Karl Kuchenbäcker, Leiter des sogenannten Hauptlandamtes der Regierung des Generalgouvernements, beschreibt dort romanähnlich den polnischen Raum aus

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Sachs, Kampf um Raum, S. 8–21. Ebd., S. 5.

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der Perspektive eines Reisenden, der zum ersten Mal den Raum östlich der Reichsgrenze betritt: Mancher, der zum ersten Male über die deutsche Grenze nach Osten fährt, kennt von Polen nicht viel mehr, als diese landläufige Redewendung. In mancherlei Gestalt bestätigen sich ihm nun seine Vorstellungen. Er flucht auf die schlechten Straßen und Wege, auf denen kein Fortkommen ist, ihn ärgern Tag und Nacht die Landstraße bevölkernden Kolonnen von Menschen und Fuhrwerken, die niemals abzureißen scheinen, er wundert sich über das magere Vieh, das in den Straßengräben, auf den Feldrainen oder an den Waldrändern herumbotanisiert, wo es doch nichts findet, und über Menschen, die dabeistehen, oft mehr als es Tiere sind, und die von morgens bis abends in den lieben langen Tag hineinträumen. Er sieht seitwärts des Weges auf die schmalen Ackerstreifen, die bald in die Fluren hinzufliehen scheinen, und bald in wirrem Durcheinander die Landschaft in tausende und kleinste Fetzen zerreißen. Sein Auge übt Kritik an der Ackerbestellung, an den Saaten und an der Ernte, an allem, am wenigsten vielleicht an dem braven Panje, der schlecht und recht hinter seinen vorsintflutlichen Ackergeräten einherstolpert. Er stellt fest, dass ein Dorf so unzulänglich ist wie das andere, und eine Holzkate so eng, dreckig und mit Menschen überfüllt, wie alle. Und diese Eindrücke findet er Tag für Tag wieder von neuern bestätigt. Er entsinnt sich, daheim nichts ähnliches gesehen zu haben. So prägt sich ihm das äußere Bild dieses Raumes und er fragt sich unwillkürlich, warum es so ist. Er sucht nach Erklärungen.31

Tatsächlich hat Polen 1938 mit seinen »vorsintflutlichen« Mitteln und »einherstolpernden« Landwirten 13,453 Millionen Tonnen Getreide produziert und Lebensmittel exportieren können.32 Wenn es auch sicher nicht derart industriell entwickelt war wie sein westlicher Nachbar, muss doch das von Kuchenbäcker gemalte »Raumbild« als eine Fiktion angesehen werden. Dass der Raum anders sei – »in tausende und kleinste Fetzen« zerfetzt –, statt wohlgeordnet; dass die Bevölkerung dieses Bodens weder sich, noch sein Vieh oder seinen Besitz in Ordnung halte; dass hier »polnische Wirtschaft« herrsche, sind Stereotype, die von der deutschen Literatur seit hundert Jahren gepflegt worden sind. Die Formel steht für einen Raum, der von seiner Bevölkerung nicht kulturell angeeignet worden ist, weil sie ihm keine Ordnung eingeprägt hat. Der für die deutsche Geopolitik einschlägige Zusammenhang von »Ordnung und Ortung«, der im Begriff des Lebensraums zusammengefasst wird, ist im Osten zerrissen. Der Raum dort ist »glatt«, daher

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Abgedruckt in Madajczyk, Generalplan Ost, S. 359. Zur Parallelstelle in Soll und Haben vgl. S. 493–497. Die Überschrift ist eine stereotype Kampfformel literarischer Herkunft, deren Bedeutung Gustav Freytag entscheidend mitprägt. Marian Zgórniak, Europa am Abgrund – 1938, Münster 2002, S. 285.

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lässt er sich mit der Wüste vergleichen.33 Die »slawische Seite« habe eben den Raum nicht gekerbt, sondern nur »geritzt«, heißt es 1935 in einschlägiger Metaphorik bei Sachs.34 Unter der Staubschicht wartet das »subgermanische« Stratum auf seine Bergung. Der deutsche Raum, wie ihn die Literatur entwirft, wird dem »glatten« Ostraum so scharf entgegengesetzt, wie es bei Dr. Kuchenbäcker zu lesen ist. Bei der Suche nach »Erklärungen« ist sie ebenfalls hilfreich. Das Narrativ, das dem »Raumbild« der NS-Raumplaner zugrunde liegt, lässt sich bis zu Gustav Freytag zurückführen. In seinem Hauptwerk Soll und Haben (1855) beginnt an der Grenze zu Polen die »slawische Sahara«.35 Eine der Geschichten dieses einfluss- wie erfolgreichen Romans handelt von der Familie des Freiherrn von Rothsattel. Ort der Handlung ist zu Beginn des Romans ein äußerst gepflegtes, ertragreiches, ja schönes Landgut an der Straße von Ostrau nach Breslau. Das Gut Rothsattel stellt sich Freytags Händler und Helden Anton Wohlfahrt so dar: Kleine Bäche von Erlen und Weidengruppen eingefaßt durchrannen lustig die Landschaft, jeder Bach bildete ein Wiesental, das auf beiden Seiten von üppigen Getreidefeldern begrenzt wurde. Von allen Seiten stiegen die hellen Glockentürme der Kirchen aus dem Boden auf, Mittelpunkt einer Gruppe von braunen und roten Dächern, die mit einem Kranz von Gehölz umgeben waren. Bei vielen Dörfern konnte man an der stattlichen Baumallee und dem Dach eines großen Gebäudes den Rittersitz erkennen, welcher neben den Dorfhäusern lag, wie der Schäferhund neben der wolligen Herde. (S. 18)

Es ist eine gegliederte, durch Arbeit geschaffene Landschaft, in der ordnende Differenzen wie die von Zentrum und Peripherie, Feld und Flur, Schutz und Gehorsam unmittelbar augenfällig werden. Das Rittergut bewacht das Dorf wie der Schäferhund die Herde. Konzentrisch legen sich um die Kirche Dorf, Gehölz, Acker, Weideland. Bäche durchschneiden diesen Raum, ohne Schnittmengen zu bilden wie Sümpfe oder Moraste, die Landstraßen sind vom Umland durch Gräben und Baumreihen markant unterschieden. Was Freytag hier entwirft, entspricht in den 1940er Jahren dem Ideal einer vom »germanisch-deutschen Menschen« entworfenen Raumordnung, wie sie das Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums in einer Anordnung mit Gesetzeskraft festgehalten hat:

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Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus (1980), übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1997 sowie Niels Werber, Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007. Sachs, Kampf um Raum, S. 9. Gustav Freytag, Soll und Haben, Leipzig 1855, S. 629, S. 494 und S. 441. Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen.

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In seiner alten Heimat und in den Gebieten, die er durch seine Volkskraft besiedelt und im Verlauf von Generationen geformt hat, ist das harmonische Bild von Hofstatt und Garten, Siedlung und Landschaft ein Kennzeichen seines Wesens. Die Gliederung und Begrenzung der Feldflur durch Wald, Waldstreifen, Hecken, Gebüsche und Bäume, die natürliche Verbauung von Gelände und Gewässer und die Grüngestaltung der Siedlungen sind bestimmende Kennzeichen deutscher Kulturlandschaften.36

Die »Räume«, die in Jahrhunderten von der »Wesenart« einer Kultur derart »geformt« worden sind, setzt Heinrich Himmler als »Heimat« der »Verwüstung und Leere« eines ungeformten, glatten, ungegliederten, steppenartigen Raumes entgegen.37 Die Erfahrung eines solchen Raumes machen Anton und sein Begleiter auf einer Fahrt nach Polen: An einem kalten Oktobertage fuhren zwei Männer bei dem Torgitter der Stadt Rosmin vorüber in die Ebene, welche sich einförmig und endlos vor ihnen ausbreitete. [...] Der Wind fegte mit seinem riesigen Besen Sand und Strohhalme über die Stoppelfelder, die Straße war ein breiter Feldweg, ohne Gräben und Baumreihen, die Pferde wateten bald durch ausgefahrene Wasserpfützen, bald durch tiefen Sand. Gelber Sand glänzte zwischen dem dürftigen Grün der Äcker [...]. In den Senkungen des Bodens stand schlammiges Wasser; an solchen Stellen streckten die ausgehöhlten Stämme alter Weiden ihre verkrüppelten Arme in die Luft, ihre Ruten peitschten einander im Wind, und die welken Blätter flatterten herunter in das trübe Wasser. (S. 493) [...] wieder ging es fort in der kahlen Gegend. Zuerst durch eine leere Ebene, durch einen schlechten Kiefernwald, dann über eine Reihe von niedrigen Sandhügeln, die wie Dünen der öden Wasserflut über den pflanzenarmen Boden hervorragten, dann auf schadhafter Brücke über einen kleinen Bach. »Hier ist das Gut«, sagte der Kutscher [...]. Anton erhob sich von seinem Sitz und suchte die Baumgruppe, in welcher das Herrenhaus liegen konnte. Er sah nichts davon. Um das Dorf war manches nicht zu finden, was auch die ärmlichsten Bauernhäuser seiner Heimat schmückte, kein Haufe von Obstbäumen |hinter den Scheuern, kein umzäunter Garten, keine Linde auf dem Dorfplatz, einförmig und kahl standen die schmutzigen Hütten nebeneinander. (S. 497)

Der polnische Raum entbehrt der Ordnung klarer Unterscheidungen. Er ist eine Steppe, durch die der Wind hindurchfegt und wie mit einem Besen alles vor sich hertreibt, weil nichts fest verwurzelt ist. Was einmal eine »Herrschaft« war, liegt in »Trümmern« (S. 497). Auch hier sind die Straßen schlecht, die Dörfer vernachläs36

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Zitiert bei Mechthild Rössler, Sabine Schleiermacher, Cordula Tollmien (Hg.), Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 136. Ebd.

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sigt, die Bewohner arbeitsscheu und selbst das Vieh »elend« (S. 511). Der im Nationalsozialismus zur Kampfformel reüssierte Begriff der »polnischen Wirtschaft«, der Kuchenbäckers Bericht als Titel dient, wird von Gustav Freytag dreimal an entscheidender Stelle und mit einschlägiger Funktion verwendet.38 Wie sich Christa Wolfs Nelly erinnert, standen in einem kleinbürgerlichen Bücherregal der späten 1930er Gustav Freytags Soll und Haben neben Hans Grimms Volk ohne Raum. »Das muß einfach jeder kennen«.39 Dieses Nebeneinander kommt nicht zufällig zustande, sondern verdankt sich der Archivierung der Kultur- und Literaturgeschichte eines geopolitischen Topos im Bücherschrank. Zwischen Grimm und Freytag steht Félix Dahns Gotenepos Ein Kampf um Rom (1876) im Regal, das in diesem zeitlichen und räumlichen Kontext nur als Warnung vor dem »Versickern« germanischen Blutes im »Westen« gelesen werden kann.40 Auch die Intertextualität der Polenreisen von Kuchenbäcker und Freytag beruht auf einer Synchronizität möglicher Lektüren. Das Archiv der Geopolitik hat man sich nicht als Ablagerung von Epochen in Schichten vorzustellen, sondern als Vernetzung gegenwärtiger Operationen: Ein Roman des poetischen Realismus tritt so neben die »poetische« Einleitung zum Entwurf einer Bodenreform. Beide Texte werden in den 1940ern gleichzeitig rezipiert und statten sich gegenseitig mit Bedeutung aus. Und beide Texte prägen das »allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen« einer bestimmten Epoche, obwohl 100 Jahre zwischen ihrem Erscheinen liegen.41 Das Phänomen der Intertextualität ist genau so »nicht-linear« und »synchron« verfasst, wie Moritz Baßler es gezeigt hat.42 Die Frage allerdings, wie man von diesem Nebeneinander zu einer spezifischen Geschichte kommen kann, verweist auf »traditionell historische Narrationen«, die das hochselektive Arrangement der Daten immer schon vorgenommen haben und in der Tat ein »potenziertes Maß an Komplexitätsreduktion erfordern«.43 Denn es sind, selbst mit den gleichen poetischen »Verfahren«, unendlich viele andere Selektionen und Verknüpfungen denkbar, die auf den gleichen Bestand von Texten zurückgreifen. Warum also so – und nicht anders? Diese Frage lässt auch Foucault offen, der das Archiv als »das Gesetz« 38

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Gustav Freytag, Soll und Haben, S. 674 und S. 739. Gustav Freytag, Die Ahnen, Leipzig 1872–80, S. 1073. Es ist unverständlich, wie man als Freytag-Philologe behaupten kann, der Autor habe den Begriff »polnische Wirtschaft« »nirgends explizit angewendet«, wie dies Hans Hahn, »Die ›Polenwirtschaft‹ in Gustav Freytags Roman Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman«, in: Florian Krobb (Hg.), 150 Jahre »Soll und Haben«, Würzburg 2005, S. 239–254, hier S. 239 tut. Christa Wolf, Kindheitsmuster (1976), München 2002, S. 198. Sachs, Kampf um Raum, S. 19. Dies war Foucaults Definition des Archivs. Michel Foucault, Archäologie des Wissens (1973), übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1986, S. 188. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 201 ff. Für den Hinweis auf die Synchronizität der Einträge ins Archiv danke ich Benno Wagner, den Diskutanten des Netzwerks in Wien. Ebd., S. 354.

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dessen versteht, »was gesagt werden kann«.44 Aber nicht alles, was gesagt werden kann, wird auch gesagt. Was tatsächlich realisiert wird, unterhält zum Raum der möglichen Aussagen ein Verhältnis der Selektivität. Die Frage, wie die Archivalien präsentiert werden, verweist auf die Mitteilungsseite der Kommunikation, auf ihre Form. Die Antwort auf die Frage nach den Gründen für bestimmte Selektionen aus einem System möglicher Aussagen scheint mir in einem Aspekt literarischer Texte zu liegen, den Moritz Baßler in seiner Archivtheorie ausblendet: ihre Suggestivität, ihre rhetorische Schlagkraft, ihre diskursiv uneinholbare Evidenz. Sie gehört freilich zur »Oberfläche des Diskurses«, die Foucaults Archivtheorie hinter sich lassen will.45 Der deutsche Ostroman bietet Raumplanern wie Dr. Kuchenbäcker ein mit literarischen Mitteln zur eingängigen Anschaulichkeit verholfenes Modell der Wahrnehmungsorganisation, dessen Ergebnis dann sein »Raumbild« ist. Es sind ästhetische Evidenzen, die Alternativen ausblenden und den Daten und Zahlen eine Form geben, die die Kontingenz ihrer Aussagen invisibilisiert. Sie »lösen« das »Problem der Verknüpfung«, indem sie es ausblenden.46 Dieses Narrativ, dessen literarische Stereotypisierungen es traditionsfähig machen, liefert das Programm, das sowohl das Datenmaterial der Archive zu prozessieren gestattet, als auch die Formen vorzuschreiben vermag, die in die tabula rasa des glatten Raums eingegraben werden sollen. Zugleich liefert dieses Narrativ nicht nur den Raubarchivaren im Osten einen veritablen »Suchbefehl«,47 der im kulturellen Archiv Konkretes zu finden und vor allem viel auszublenden gestattet: Die NS-Raumplaner stoßen auch in der deutschen Literaturgeschichte immer nur – auch dies eine enorme »Komplexitätsreduktion« – auf polnische Wüsten, deren Bewohner als »Nomaden« deklariert werden, die nicht im Raum wurzelten.48 Bevor Kuchenbäcker seine Statistiken auflistet, macht er sie lesbar. Seine Gewalt, die eine Kriegsmaschine entfesselt, entfaltet das Archiv erst im Rahmen dieser Narration: Was immer gerade im Osten sein mag, es wurzelt nicht fest und kann leicht hinweggefegt werden.

Ordensland und Wüste Der Baron, in dessen Landsitz und Tochter sich der junge Anton Wohlfahrt geradezu verliebt, »stammte aus einem sehr alten Hause. Ein Rothsattel war schon in den Kreuzzügen nach dem Morgenlande geritten.« (S. 27) Die Familie kommt zu Besitz. Sechs Jahrhunderte nach den Kreuzzügen erhält der aktuelle Herr des Hau-

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Foucault, Archäologie des Wissens, S. 187. Ebd., S. 186. Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 50 ff. Ebd., S. 206. Vgl. Richard Walther Darré, Um Blut und Boden. Reden und Aufsätze, München 1940, S. 92.

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ses, er hatte in einem »Garderegiment« gedient (S. 28), von seinem König eine Auszeichnung: »Der König hat die Huld gehabt«, so berichtet er zufrieden seiner Gemahlin, »mir den Orden zu verleihen, den der Vater und Großvater getragen haben; es freut mich, dass das Kreuz in unserer Familie fast erblich wird.« (S. 286) Bei diesem Orden mit dem Kreuz, der hier um 1825 mitten im Frieden an einen verdienten Adeligen im besten Alter und Freund des Kronprinzen verliehen wird und der als Auszeichnung bereits seit mehr als zwei Generationen besteht, kann es sich nur um den am 18. Januar 1701 vom Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg einen Tag vor seiner Krönung zum König in Preußen gestifteten Schwarzen-AdlerOrden handeln. Die Form des Kreuzes ist dieselbe wie das Kreuz des Deutschritterordens, deren Hochmeister sich ebenfalls mit dem schwarzen Adler geschmückt haben. Es weist somit auf die mit den Kreuzzügen begonnene Familiengeschichte der Rothsattel zurück, denn der Deutschorden wird im Heiligen Land, in der Stadt Akkon, von Hanse-Kaufleuten gegründet, bevor er sich auf die Christianisierung und Kolonisierung des Deutschen Ostens verlegt49 und jene »Straße« anlegt, auf der das »neue Reich« wieder »in Marsch« gesetzt werden soll.50 Die Raumnahme des Deutschordens beschreibt Freytag in einem historischen Roman aus den Jahren nach der Reichsgründung so: Die Kreuzfahrer aber taten jetzt am Gestade der Weichsel dieselbe Arbeit, welche frühere Waller im Heiligen Lande geübt hatten, sie zogen die Gräben, erhöhten den Wall, richteten darüber aus Pfählen den Zaun einer Stadt und bauten in dem umschanzten Raum ihre Hütten.51

Wie im heiligen Land dient diese Kerbung des Raums auch seiner Verteidigung. So sieht es auch der Kaufmann Wohlfahrt aus der Hansestadt Breslau, der durch und durch eine moderne Existenz des Jahres 1855 ist, wenn er seine Lage in Polen so beschreibt: Welches Geschäft auch mich, den einzelnen, hierhergeführt hat, ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächern Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben. (S. 624)

Freytag, der an der Universität von Breslau als Privatdozent über Geschichte gelesen hat und der mit Die Ahnen eine Art factual fiction novel des Deutschordens vorgelegt hat, verwandelt noch den biedersten Händler in einen heroischen Eroberer, wie sie ihn sich die NS-Raumplaner als Bewohner der »künftigen Wehrbauern49 50 51

Freytag, Die Ahnen, S. 795 und S. 951 f. Adolf Hitler, Mein Kampf (1926), München 2001, S. 123. Freytag, Die Ahnen, S. 720. Freytag kann hier auf hagiographische Muster (Klostergründungen) zurückgreifen.

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höfe« im Osten nur wünschen konnten.52 Wer hier, in den 1940 erschlossenen »Ostgebieten« siedele, der befinde sich »im Angriff im echt kämpferisch-politischen Sinne«, nämlich im Kampf gegen eine dem deutschen »Volkstum« völlig »fremde und feindliche Welt«.53 Dies hat Anton Wohlfahrt schon hundert Jahre zuvor verstanden: »Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf.« (S. 624) Bereits Freytag schreibt an dem Narrativ des ›großen Zugs nach dem Osten‹, das im Dritten Reich von Romanautoren wie Hans Venatier weiterentwickelt wird.54 Dessen Protagonist, Vogt Barthold, ruft im 15. Jahrhundert seine Ostlandfahrer auf: »Was seid ihr? Den tausend Jahren, die nach euch kommen, sollt ihr Vorreiter sein. Ich sage euch: Breslau – Krakau – Lemberg! Das sind die Tore der Deutschen nach Aufgang. Breslau ist unser. Erobert mir Krakau!«55 Schlesien wird kolonisiert, die mediokren »Slawen« unterwerfen sich oder werden besiegt.56 Eine Überschrift wie »Polnische Wirtschaft« in Kuchenbäckers Denkschrift ruft dieses ganze Narrativ auf – Rekurrenzen vom Deutschorden bis zur literarischen Topographie verleihen der Aktualisierung Plausibilität. Dass diese Einträge im Archiv, Baßlers Paradigmen, sofort abgerufen werden können, ist der Literatur zu verdanken, die die Verschaltung von Raum, Ökonomie, Politik und Ethnie erstens immer wieder erneuert und ihnen zweitens immer wieder die gleiche Tendenz gegeben hat. Die »deutsche Landnahme« flute gen Osten, schreibt Sachs 1935, eine siegreiche »Welle«.57 Mit Freytags Worten, wieder aus den Ahnen: Jetzt strömte die Volkskraft der Deutschen in vielen kleineren Wellen [...] nach Osten, und tausend Jahre nach der Auswanderung jener alten Germanen begann [...] aufs neue de[r] Kampf gegen die Fremden, mit stärkeren Waffen und festerer Kraft.58

Freytags Epos vom Zug der Deutschen nach Osten arbeitet mit den gleichen Bildern und Stereotypen wie die nationalsozialistische Ostraum-Semantik – und dies ist kein Wunder, denn zum einen wird Soll und Haben im Kontext der Blut und Boden-Ideologie rezipiert und zitiert,59 und zum zweiten teilen sie mehrere Strukturmomente, vor allem die Legitimation der Ostkolonisation mit dem Narrativ der Wiedererstellung einer alten, leider von den Slawen mutwillig zerstörten, verwüste-

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Entwurf aus dem April 1940, zitiert in: Madajczyk, Generalplan Ost, S. 8. Ebd., S. 7. Hans Ventatier, Vogt Bartold, Der grosse Zug nach dem Osten, Leipzig 1939. Ebd., S. 407. Ebd., S. 142 f. Sachs, Kampf um Raum, S. 8 f, S. 18 f. Freytag, Die Ahnen, S. 719. Darré, Um Blut und Boden, S. 92.

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ten Ordnung.60 Die Wüste sei ein Effekt der slawischen Besitznahme, aber die Spuren der germanischen Raumordnung lägen unter der staubigen Oberfläche verborgen.61 Die von den Raumplanern entzifferte Botschaft der Romane lautet: Die »Volkskraft der Deutschen« strebe eben nur dahin zurück, wo die »alten Germanen« schon tausend Jahre zuvor gesiedelt hätten. Über die mittelalterliche Ostkolonisation schreibt Freytag: »Der Haufe, welcher von den roten Bergen und dem Nessebach über die Saale zog, glich in vielem den Schwärmen alter Germanen, welche tausend Jahre vorher aus dem Osten gekommen waren«.62 Die Bewegung nach Osten führt stets zurück durch Zeit und Raum »in das Land der Väter«.63 Lemberg und Krakau, im Roman Vogt Bartold die »Tore« des »Deutschtums« gen Osten, fungieren im Generalplan Ost als Pfeiler der »deutschen Volkstumsbrück« des »Altreichs« in die Ukraine bis zur Krim.64 Um diese Brücke zu errichten, müssten nur die dank der Ostkolonisation seit dem 13. Jahrhundert bereits vorhandenen, »mehr oder minder großen deutschen Volkstumsinseln« neu eingedeicht und untereinander verbunden werden.65 Auch diese Brücken- und Insel-Metaphorik der Planungshauptabteilung des Reichssicherheitshauptamtes orientiert die Selektion von Materialien aus dem »Streufeld« des Archivs,66 sie bestimmt das Paradigma und die syntagmatische Präsentation. Es geht dabei um die Anschlußfähigkeit von Daten, die ja nicht von allein zur »Okkurrenz« gelangen,67 sondern selektiert werden müssen. Zahlen etwa, die den demographischen und ökonomischen Irrsinn der Umsiedlungen nahelegen würden, werden in den Narrationen der Raumplaner konsequent ignoriert.68 Als Anton Wohlfahrt das neue Gut der Rothsattel in Polen als Verwalter in Besitz nimmt, stellt der Erzähler fest: »Er war ausgesetzt, wie auf einer [...] Insel.« (S. 499 f.) Und über die Kolonisationsarbeit des Deutschordens schreibt Freytag: »[Im] Osten lag das verkleinerte Ordensland wie eine Insel zwischen dem Meere 60

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62 63 64 65 66 67 68

Vgl. dazu Uwe K. Ketelsen, »Der koloniale Diskurs und die Öffnung des europäischen Ostens im deutschen Roman«, in: Mihran Dabag u. a. (Hg.), Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid, München 2004, S. 67–94. Die Parallelen zum Meer als Gedächtnis, wie Burkhardt Wolf sie in seinem Beitrag beschreibt, fallen auf. Im Falle der Schiffswracks in tiefer See wie der alten »subgermanischen« Zeugnisse macht ein »glatter« Raum die Verortung zunächst unmöglich. Die Bergung legt dann eine Abfolge kultureller Schichten frei. Das Erbe der Menschheit in offener See ist freilich etwas anderes als das »Ahnenerbe« der Funde unter dem polnischen Sand. Freytag, Die Ahnen, S. 720. Sachs, Kampf um Raum, S. 10. Dok. 1, Planungshauptabteilung, Berlin 1940, in: Madajczyk, Generalplan Ost, S. 5. Ebd., S. 6. Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 207. Ebd., S. 207. Vgl. die »Warnungen« von Helmut Schubert aus dem Jahre 1942 vor einer Verstreuung der deutschen Siedler im Ostraum. Madajczyk, Generalplan Ost, S. 138–143. Der Bericht verweist auf »ausführliche Zahlenbelege« (S. 139).

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und dem slawischen Gebiet«.69 Diese Inseln warten auf ihre Vernetzung durch deutsche »Pioniere«.70 Bevor Anton in Polen einen »Wehrbauernhof« nach dem Vorbild der alten »Rittergüter der mittelalterlichen ostdeutschen Kolonisation« errichtet,71 muss freilich erst der Schauplatz der Erzählung aus dem ruhigen und friedlichen königlich-preußischen Schlesien nach Osten, in die Nähe Krakaus verlegt werden, in die »slawische Sahara«, wie Fritz von Fink formuliert, in die »Wüste«, wie Anton Wohlfahrt und Karl Sturm mehrfach feststellen (S. 629, 494, 441). Dass der Raum östlich von Schlesien und Pommern eine Wüste sei, die das Ergebnis der slawischen Verwüstung darstelle, ist in den von Madajczyk dokumentierten Denkschriften immer wieder zu lesen. Ich zitiere aus Heinrich Himmlers Anordnung zur Landschaftsgestaltung in den Ostgebieten vom 21. Dezember 1942: Die Landschaft in den eingegliederten Ostgebieten ist auf weiten Flächen durch das kulturelle Unvermögen fremden Volkstums vernachlässigt, verödet und durch Raubbau verwüstet. Sie hat in großen Teilen entgegen standörtlichen Bedingungen steppenhaftes Gepräge angenommen.72

Nicht etwa der Krieg, nein, genau wie Freytag schildert, die Nachlässigkeit von »fremden« Populationen, die dort überhaupt nicht hingehören, habe den Raum »entgegen standörtlichen Bedingungen« verwüstet. Die Steppe gilt als das Ergebnis dieser Verwahrlosung. Polen ist »furchtbar verwüstet«, stellt Friedrich von Fink in Soll und Haben fest, man kann aber »etwas daraus machen« (S. 632 f.). Erst die deutschen Kolonisten verwandeln bei Freytag durch ihre Arbeit Wüsteneien zurück in »grüne Wiesen« (S. 641). Diese Semantik der Wüsten und der grünen Wiesen wird im nationalsozialistischen Kontext extensiv benutzt. Der Freytag-Leser Adolf Hitler hat 1937 vom östlichen Mitteleuropa als einem »volklosen Raum« gesprochen und hinzugefügt, der Osten sei eine »Art Wüste«, aber zugleich voll »von unterschiedlichen Völkern und Nationalitäten«,73 bei denen es sich freilich um »Indianer« oder »Nomaden« handele, nicht um Kulturnationen. Auch für Hitler ist die »slawische Sahara« ein glatter Raum, eine »asiatische Steppe«, wie er sich ausdrückt, die mit der Errichtung einer »Perlenschnur deutscher Städte« und »Siedlungen« reterritorialisiert und in eine Raumordnung überführt werden müsse, die einst den Charakter einer »blühenden Parklandschaft von ungewöhnlicher Schönheit« annehmen werde.74 69 70 71 72 73

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Freytag, Die Ahnen, S. 724. Freytag, Soll und Haben, S. 586 und S. 654. Madajczyk, Generalplan Ost, S. 8. Abgedruckt in Rössler, Der »Generalplan Ost«, S. 136. Zitiert bei Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, übers. von Stefan Monhardt, Frankfurt am Main 2003, S. 75. Adolf Hitler im Führerhauptquartier, 17. 10. 1941. Zitiert bei Madajczyk, Generalplan Ost, S. 24. Dass zu Hitlers Lektüren auch Freytags Romane zählen, vermutet Andreas Kunze, Finale Entfer-

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Der »Deutsche Osten« und die »slawischen Sahara« bezeichnen geographisch denselben Raum. Die völlig gegensätzlichen Zuschreibungen dieser Topoi folgen der geo- und biopolitisch aufgeladenen Unterscheidung wüster und kultivierter Räume. Über die »slawische [...] Rasse« doziert der Kaufherr Schröter in Soll und Haben mit großer Autorität: Die Bewohner der glatten Räume »haben keine Kultur«. »[E]s ist merkwürdig, wie unfähig sie sind, den Stand, welcher Zivilisation und Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauer zu einem Staate erhebt, aus sich heraus zu schaffen.« (S. 330f ) Der Historiker Gustav Freytag hat ein vielbändiges populäres Geschichtswerk unter dem Titel Bilder aus der deutschen Vergangenheit75 publiziert, in dem er der »Besiedelung des Ostens« ein eigenes Kapitel widmet. Er, der Deutsche, habe die »endlose polnische Ebene« (S. 117) wegbar gemacht durch Stadtgründungen nach deutschem Recht (S. 116). Von den »polnischen Städten« behauptet Freytag, dass sie mit »deutschen Städten« nicht zu vergleichen seien. Soll und Haben führt mit allen Mitteln literarischer Bildermacht vor, wie die alten »deutschen Städte auf altem Slawengrund« als »Knoten eines festen Netzes« fungieren, »welches der Deutsche über den Slawen gelegt hat, kunstvolle Knoten, in denen zahllose Fäden zusammenlaufen, durch welchen die kleinen Arbeiter des Feldes verbunden werden mit andern Menschen« (S. 490). Es ist ein Netz im glatten Raum, und die Knoten des Netzes werden von gut gesicherten Stadtstaaten gebildet. Im Generalplan wird man von »deutschen Inselsiedlungen« im polnischen Meer sprechen, welche durch ein eigenes »Verkehrsnetz« untereinander mit dem Reich verbunden würden.76 Die politischen und völkerrechtlichen Konsequenzen aus der zunächst verkehrstechnischen und wirtschaftlichen Vernetzung hat beispielhaft Carl Schmitt in seiner Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte von 1941 gezogen: Aus dem »Verbund« vieler »kleinräumiger Netze« zu »großräumig geplanten Großraumnetzen«77 geht ein geopolitischer »Leistungsraum«78 hervor, den Schmitt »Großraumordnung« nennt und der traditionell »Reich« heißt.79 Das »Kleinstaatengerümpel in Europa« werde so endlich liquidiert.80

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nung. Die moderne deutsche Kultur und die Vernichtung der Juden im Dritten Reich, Köln 2004, S. 269. Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit (2 Bde.), Leipzig 1927. Zitate bei Madajczyk, Generalplan Ost, S. 44 und S. 42. Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte (1941), Berlin 1991, S. 13. Ebd., S. 80 ff. Carl Schmitt, »Der Reichsbegriff im Völkerrecht« (1939), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. 1923–1939, Berlin 1994, S. 344–354. Czeslaw Madajczyk, »Die Kontinuität des deutschen ›Drang nach Osten‹«, in: Bruno Wasser (Hg.), Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940–1944, Basel u. a. 1993, S. 11–18, hier S. 18.

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Das Archiv des Raums und die Geschichte der Landnahme In Soll und Haben spielen Besitzurkunden, Grundbücher, Hypotheken und Zessionen eine entscheidende Rolle. Anton Wohlfahrts Vater ist königlicher Beamter gewesen. Die Verbindung zum Welthandelshaus T. O. Schröter geht aus einem Aktenfund und der Rechtschaffenheit des Archivisten hervor. Das erste Kapitel des Romans handelt von diesem Fund und den Folgen. In dem »bestäubten Aktenbündel« der Registratur von Ostrau (S. 13) liegt Antons Zukunft. Das persönliche Schicksal hängt von Akten und Papieren ab. Nur nicht im Osten. Was immer sich Schaufel und Gewehr in der »slawischen Sahara« aneignen können, gehört dem »deutschen Volk«.81 Ob bei dieser Mission Verträge gebrochen oder Blut vergossen wird, ist dem sonst so biederen Erzähler in Freytags Texten auffällig gleichgültig. Staubige Aktenbündel dürfen den Zug des deutschen Volkstums nach Osten nicht aufhalten. Positives Recht spielt in Freytags Narrativ der Ostkolonisation nur soweit eine Rolle, wie es diesem Projekt nützt. »Die Rechtsverhältnisse, das ist eine Erfindung des Menschen! Die Natur kennt keine Planvermessung und keine Notariate. Der Himmel kennt nur die Kraft«,82 heißt es in einem anderen, im Führerhauptquartier gehaltenen Monolog. Wo die »Kraft« nicht reicht, da soll »die Pflugschar übergehn in eine andere Hand, welche sie besser zu führen weiß«, lesen wir in Soll und Haben. Das Schwache, erklärt der Kaufmann Schröter seinem Volontär Wohlfahrt, solle dagegen herunter sinken auf den Grund des Volkslebens, um frisch aufsteigender Kraft Raum zu machen. Jeden, der auf Kosten der freien Bewegung anderer für sich und seine Nachkommen ein ewiges Privilegium sucht, betrachte ich als einen Gegner der gesunden Entwicklung unseres Staats. (S. 481)

Akten und verbrieftes Recht können daher abgewertet werden, weil der Raum selbst als Archiv dient. Die Raumordnung rund um das Gut Rothsattel, die als Ergebnis einer viele Jahrzehnte währenden Aneignung des Raums durch die hier tätige Familie beschrieben wird, legitimiert unmittelbar und extrajuristisch die Besitz- und Ordnungsverhältnisse. Nicht in den Akten, im Raum selbst findet sich der Besitztitel des Landgutes. Dieses Gut in guter Ordnung an seine Erben weiterzugeben, ist das Motiv, das den Baron Rothsattel bei allen seinen Handlungen antreibt (S. 29). Als ein Erfolg immer zweifelhafter wird und sich abzeichnet, dass im Gegenteil die Familie ihr Gut für immer verlieren könnte, imaginiert Rothsattel den Verlust seines Besitzes als Auslöschung der typischen Raumordnung. Es ist eine Art Sintflut, die die dem Boden eingeprägte Erinnerung auslöscht:

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Madajczyk, Generalplan Ost, S. 25. Freytag, Soll und Haben, S. 626. Madajczyk, Generalplan Ost, S. 24.

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[D]as Schloß war ausgestorben, wüst, wie ein Bau aus uralter Zeit, durch geisterhaftes Licht beleuchtet; – noch wenig Augenblicke, und es mußte verschwinden in dem Boden. Dann konnte das Wasser darüber hinfluten [...]. Wenn die Zeit kam, wo ein fremder Mann an seiner Stelle stand und ein neues Haus ansah, das er sich erbaut, dann lag die Wasserfläche vor dem Fremden, wie jetzt vor ihm. (S. 293)

Unmittelbar auf diesen kollektivsymbolisch einschlägigen Traum folgt tatsächlich die Auflösung der überkommenden harmonischen Raumordnung durch den Bau einer Fabrik, die Auflösung ständischer Hierarchien im Umgang der Bewohner, das Fällen des alten Baumbestandes, die Proletarisierung der Landbevölkerung und die Einführung von monokulturellem Ackerbau (S. 295 ff.). In der Imagination des Freiherrn haben freilich nicht Fabriken und Maschinen das bukolische Idyll mit Schäferhund und Herde verdrängt; vielmehr ist die sinnfällige Ordnung ›gekerbter Räume‹ von Feld und Flur, Schloss, Kirche und Dorf im Meer versunken und harrt unter der Wasserfläche der Bergung durch kommende, kräftigere Geschlechter. Zugleich legitimiert der glatte Raum im Osten seine Recodierung im Zuge einer deutschen Landnahme. Bevor Anton auszieht, um den Slawen das verwüstete Land zu entreißen und zu rekultivieren, wird an die Tradition der Ostkolonisation des Deutschordens erinnert. Wohlfahrts und Rothsattels Schlesien ist erst hundert Jahre preußisch. Die beiden Generäle und königlich-preußische Generalfeldmarschälle, die entscheidend den Ausgang des ersten und zweiten Schlesischen Krieges mitbestimmt haben, Kurt Christoph von Schwerin (1684–1757) und Wilhelm Dietrich von Buddenbrock (1672–1757), haben das Kreuz und den schwarzen Adler des Ordens getragen, die in Soll und Haben der Baron erhalten hat. Die Rolle des Deutschordens bei der sogenannten »Ostkolonisation« des »subgermanischen Raums« ist vor 1933 und nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ immer wieder betont worden. Gerhard Sachs bereits zitiertes Buch Kampf um Raum berichtet über die Rolle des Deutschenordens: 1231 beginnt der Landmeister Hermann Balke mit sieben Ordensbrüdern, kommt aus dem heißen Akkon, beginnt im Kulmer Land. [...] Bis 1410 wurden vom Orden über 1400 Dörfer angelegt, dabei sind die ritterschaftlichen nicht mitgerechnet [...], 93 Städte wurden gebaut. Jeder Name aus Ostpreußen, jeder Name aus Westpreußen: ein Dokument deutscher Tat. Und wenn heute die Ortsbezeichnungen slawisiert sind, [...] die Steine reden von den Taten unserer Vorfahren, in Krakau wie in Lemberg, in Kulm wie in Thorn, in Riga wie in Kauen, dem heutigen Kowno.83

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Sachs, Kampf um Raum, S. 17 f.

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Die alten Steine der Deutschordensritter wollten wieder zu Deutschen sprechen. Unter den Fluten oder Wüsten warte das »Ahnenerbe« auf seine Revitalisierung wie in einer Zeitkapsel. Der Generalplan Ost, der in verschiedenen Berliner Planungsstäben der Ministerien, Hochschulen und der SS ab dem Jahre 1940 ausgearbeitet wird und die Umsiedlung oder Vernichtung einer Millionenpopulation zugunsten eines germanischen Wehrbauerntums vorsieht, stellt sich ausdrücklich in die Tradition der Ostkolonisation des Deutschordens und der Raumnahmen Preußens.84 Als Beleg mag ein Auszug aus einer Rede dienen, die Reinhard Heydrich am 2. Oktober 1941 in Prag über die »Neuordnung Europas« gehalten hat: Im großen und ganzen gilt hier also in diesen Osträumen der alte Kolonisationsgedanke, der aber im Gegensatz zur früheren Kolonisation der Ordensritter und baltischen Barone den Gedanken hat, dass die Kolonisation von uns getragen wird, vom Blut, und dass der alte Gedanke im Osten, der Ordensgedanke der Ordensritter wach wird als [...] Etappe für die Beherrschung des Raumes.85

Zugleich unterstellt der Generalplan, die Völker und Nationen im ›Osten‹ könnten deswegen so leicht ›hinweggefegt‹ werden, weil sie sich als Nomaden den Raum nie angeeignet hätten. Der Reichsführer der Deutschen Bauernschaft des Dritten Reiches, Walther Darré, hat 1933 die Slawen als parasitäre »Nomadenvölker« bezeichnet und Soll und Haben eigens für die Klarheit gelobt, mit der dort »jüdisch-nomadisches und germanisch-bäuerliches Denken« unterschieden werde.86 Jüdischnomadisch meint wurzellos, ohne Verbindung von Volk und Boden – im Gegensatz zur deutschen Kulturlandschaft. Die Einwohner der »asiatischen Steppe« seien »als Indianer zu betrachten«, erläutert Hitlers Reichsminister Todt in einem seiner Monologe am 17. Oktober 1941.87 Der Raum selber liefert den Rechtstitel zu seiner Eroberung. Was es an Schönem im Osten gebe, sei ohnehin deutsch, der große Rest sei »wüst und leer«,88 bevölkert von Nomaden und Indianern. »Es ist also nicht der Kolonist, der den Boden in Besitz nehmen will, sondern der Boden selbst, der nach dem Besessenwerden verlangt«.89 Diese in der nationalsozialistischen Semantik der Raumnahme immer wieder auftretende Denkfigur ist, wie Kristin Kopp und David Spurr gezeigt haben, typisch für den Kolonialroman, dessen Schauplatz nicht nur Freytag in den Osten verlegt hat.90 84 85 86 87 88 89

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Vgl. Madajczyk, »Die Kontinuität des deutschen ›Drang nach Osten‹«, S. 11. Abgedruckt in Madajczyk, Generalplan Ost, S. 20–22, hier S. 22. Darré, Um Blut und Boden, S. 92. Zitiert bei Madajczyk, Generalplan Ost, S. 24. Ebd., S. 23. Kristin Kopp, »›Ich stehe hier als einer von den Eroberern‹«: ›Soll und Haben‹ als Kolonialroman«, in: Krobb (Hg.), 150 Jahre »Soll und Haben«, S. 225–237, hier S. 231 mit Verweis auf David Spurr, The Rhetoric of Empire, Durham 1993, S. 28. »Soll und Haben zeigt sich als Kolonialroman par excellence.« (Ebd., S. 237)

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Es ist die Verwandlung der Wüste in eine Kulturlandschaft, die ihre Eroberung legitimiert, erklärt Anton Wohlfahrt seinem Freund Fink mitten in Polen, weit entfernt von seinem Geburtsort Ostrau und seinem Wohnort Breslau: »Und wer hat die große Landschaft erobert, in der ich geboren bin?« frug Anton weiter. »Einer, der ein Mann war.« »Ein trotziger Landwirt war’s«, rief Anton, »er und andere seines Geschlechts. Mit dem Schwert oder durch List, durch Vertrag oder mit Überfall, auf jede Weise haben sie den Boden an sich gezogen, in einer Zeit, wo im übrigen Deutschland fast alles tot und erbärmlich war. Als kühne Männer und gute Wirtschafter, die sie waren, haben sie ihren Boden verwaltet. Sie haben Gräben gezogen durch das Moor, haben Menschen hingepflanzt in leeres Gebiet und haben sich ein Geschlecht gezogen, hart, arbeitsam, begehrlich, wie sie selbst waren. Sie haben einen Staat gebildet aus verkommenen oder zertrümmerten Stämmen, sie haben mit großem Sinn ihr Haus als Mittelpunkt für viele Millionen gesetzt und haben aus dem Brei unzähliger nichtiger Souveränitäten eine lebendige Macht geschaffen.« »Das war«, sagte Fink, »das taten die Ahnen.« »Sie haben für sich gearbeitet, als sie uns schufen«, fuhr Anton beistimmend fort, »aber wir haben jetzt Leben gewonnen, und ein neues deutsches Volk ist entstanden. Jetzt fordern wir von ihnen, daß sie unser junges Leben anerkennen.« (S. 625 f.)

Was die »Ahnen« einst taten, nämlich mit »Schwert« oder »List«, durch »Vertrag« oder »Überfall« das Hoheitsgebiet zu vergrößern, es immer weiter nach Osten auszudehnen und immer mehrere kleine Staaten und Provinzen wie etwa Sachsen und Schlesien in das wachsende Reich einzuschmelzen, das soll jetzt das »junge« und »neue, deutsche Volk« fortsetzen. Fink versteht die übrigens auch monarchie- und adelskritische Lehre, die Anton ihm gibt, und der Erzähler kann am Ende von Soll und Haben folgendes Fazit ziehen: Den Mann, welcher jetzt im Schloß gebietet, kümmert es wenig, ob eine Dohle schreit, oder die Lerche; und wenn ein Fluch auf seinem Boden liegt, er bläst lachend in die Luft und bläst ihn hinweg. Sein Leben wird ein unaufhörlicher siegreicher Kampf sein gegen die finstern Geister der Landschaft; und aus dem Slawenschloß wird eine Schar kraftvoller Knaben herausspringen, und ein neues deutsches Geschlecht, dauerhaft an Leib und Seele, wird sich über das Land verbreiten, ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern. (S. 830 f.)

Es ist der »Bauer als Soldat«, dessen Bild Freytag hier entwirft.91 Der Fluch, den Fink lachend hinweg bläst, das sind die slawischen Verwahrloser des Bodens. Fink 91

Vgl. Madajczyk, »Die Kontinuität des deutschen ›Drang nach Osten‹«, S. 11.

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erobert den Osten freilich nicht allein, sondern rekrutiert sich eine Mannschaft, welche die Steppe zu kultivieren und zugleich die Nomaden zu vertreiben vermag. Der Erzähler lässt sie in das Landgut bei Rosmin einmarschieren wie einen Trupp Arbeitsdienst. Ein stattlicher Zug bewegte sich durch das Dorf auf das Schloß zu. Voran schritt ein halbes Dutzend Männer in gleicher Tracht; sie trugen graue Jupen, breitkrempige Filzhüte, die an einer Seite aufgeschlagen und mit einem grünen Busch verziert waren, auf der Schulter eine leichte Jagdflinte, an der Seite ein Matrosenmesser. [...] Den Zug schloß wieder eine Anzahl Männer in grauer Uniform und denselben Waffen. [...] Karl stellte sich an die Spitze des Zuges, ließ die Wagen an der Front des Schlosses auffahren, ordnete die Männer in zwei Reihen und kommandierte mit einigem Erfolg: »Präsentiert das Gewehr!« Hinter dem Zuge galoppierte Fink auf seinem Pferde heran. (S. 653)

Das deutsche »Schicksal«, das er zunächst »in den Zahlen« zu lesen versucht habe, schreibt Gerhard Sachs, entscheide sich nicht ökonomisch, sondern »vom Boden her«.92 Genau diese Unterscheidung hat bereits Freytag getroffen und zugunsten des Bodens entschieden. Das in den Denkschriften der Raumplaner und den Monologen und Reden der NS-Eliten rekurrente Narrativ, das die Synchronizität unübersehbarer Archivbestände in eine Geschichte überführt, folgt den Linien der deutschen Ostraum-Romane.93 Eher trägt man die Steine, die deutsch sprechen, selbst in die Ukraine, als das Narrativ aufzugeben. Andere Möglichkeiten, die Daten in eine erzählbare Sequenz zu bringen, setzen sich nicht durch; die zahlreichen Hinweise auf den ökonomischen und demographischen Irrsinn der Um- und Neubesiedlungspläne finden kein Gehör, obwohl sie mit Daten gut belegt sind.94 Fiktionen wie die, Millionen von Auslandsdeutschen kehrten aus Übersee zurück, um den Osten zu kolonialisieren, halten den Plan in den Geleisen des Narrativs.95 Die Gewalt, die es zur Ausübung bringt, ist aber keine fiktive, sondern eine reale.

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Ebd., S. 92. Auch die triage und die Archivfiktionen folgen diesem Narrativ, das also nicht nur den output organisiert, sondern auch den input filtert. Vgl. dazu den Beitrag von Gernot Kamecke. Vgl. die »Denkschrift« von Helmut Schubert vom Juni 1942, die vorsichtig formuliert, aber deutlich in der Sache zeigt, dass es 1.) nicht genug Menschen für die Siedlungen des Generalplans gibt und 2.) die wehr-bäurische Siedlungsform sich nicht mit dem notwendigen Bedarf der Privatwirtschaft an Facharbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern trifft. Statt die Form eines blühenden Gartens anzunehmen werde Deutschland »zu einer großen industriellen Werkstatt« verdichtet. Zahlen und Narrativ fallen vollkommen auseinander. Zitiert nach Madajczyk, Generalplan Ost, S. 138 ff. und S. 140. Der Generalplan folgt keiner ökonomischen oder demographischen Rationalität, »wirtschaftliche Gründe sind nicht vorhanden« (S. 144), sondern der »Evidenz« eines Narrativs, dessen mythische Formeln Kausalität suggerieren. Vgl. Wasser (Hg.), Himmlers Raumplanung im Osten, S. 51.

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Es ist die Gewalt eines Archivs, dessen Daten in eine geopolitische Narration eingespeist werden, die sich den Osten vollständig unterwirft. Auch wie die Eroberer dort herrschen, hat Wohlfahrts Freund Fink im populärsten Roman der Zeit so formuliert: In dem polnischem Loch daneben, das sie dort Kreisstadt nennen, fuhr das Schachervolk wie Ameisen durcheinander, als es erfuhr, daß von jetzt unser Sp*rn täglich über ihren Markt klirren soll. (S. 825)

Die von Meyer gefeierte »Planungsfreiheit« hat sich als Illusion erwiesen. Noch bevor die Archivräuber sich die Akten des Ostens aneignen, ist die Geschichte schon geschrieben, die mit ihnen erzählt werden wird. Die »Organisationskraft« der Literatur, die mit ihren genuin literarischen »Mitteln« kulturelle Narrative stiftet und plausibilisiert,96 entfaltet in den Archiven der Raumplaner eine fatale Gewalt.

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So Albrecht Koschorke, »Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung«, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003, Stuttgart 2004, S. 174–185, hier S. 181.

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II. POLITIKEN DES ARCHIVS

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Sensible Daten Das Universalarchiv der Sterne und die frühneuzeitlichen Horoskopsammlungen Orazio Morandis, Johannes Keplers und Placido Titis Sabine Kalff

»Die Natur pflegt durch Zeichen jene Ereignisse anzukündigen, die gerade in ihrer Entstehung begriffen sind«,1 konstatierte Placido Titi, Olivetanermönch, Mathematiker und Naturphilosoph in seinem Traktat über die Lehre von den kritischen Tagen, De diebus decretoriis et aegrorum decubitu (1600/1665).2 Mit Zeichen hatte Titi astronomische Ereignisse im Sinn, von denen er annahm, dass sie die verborgenen Ursachen der irdischen Ereignisse, sowohl in der Sphäre der Natur als auch der Politik, anzeigten. Daher erklärte Titi das Wissen um die astralen Vorgänge unmissverständlich zum Herrschaftswissen. Es sei »von nicht geringem öffentlichem Nutzen für Fürsten und Regenten, da sie präzise vorhersehen können, was die Sterne ermöglichen«.3 Die natürlichen Vorzeichen und Ursachen der politischen Ereignisse, ihre astralen signa oder causae, ließen sich unschwer am himmlischen Schriftzug der Sterne ablesen. Dies setzte freilich zweierlei voraus – ein möglichst umfassendes astronomisches Wissen und eine profunde Kenntnis der astrologischen Semiotik, die zur Lektüre der Sternenbotschaften befähigte.4 Orazio Morandi, Abt des römischen Klosters Santa Prassede, verfügte über beides und begann in den 1620er Jahren in seiner privaten Bibliothek mit großem Eifer, Horoskope für eine Vielzahl von Vertretern des hohen römischen Klerus zu erstellen. Wie aus dem Inventar der Bibliothek hervorgeht, umfasste diese beinahe sämtliche zeitgenössische astronomische Tafeln und Ephemeriden.5 Darunter befanden sich etwa die Tafeln des Regiomontanus, die auf der kopernikanischen Ast1

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Placido Titi, De diebus decretoriis et aegrorum decubitu. Cum LX Exemplis apud gravissimos Authores inventis, 2 Bde., Bd. 1, Ticini Regii 1660, S. 250. Alle Übersetzungen aus dem Lateinischen und Italienischen im Folgenden durch die Autorin. Titi, De diebus decretoriis I; Placido Titi, De diebus decretoriis et aegrorum decubitu, 2 Bde., Bd. 2, Ticini Regii 1665. Titi, De diebus decretoriis I, S. 250. Folgende Überlegungen beruhen auf der 2011 fertig gestellten Dissertation der Autorin an der Universität Hamburg über die Politische Medizin der Frühen Neuzeit. In den Unterlagen des Zivilprozesses, welche die zentrale Quelle für den Fall Morandi darstellen, sind zwei Inventare der Bibliothek enthalten. Rom, Archivio di Stato [im Folgenden: ›ASR‹], Tribunale criminale del Governatore, processi 1630, Nr. 251, f. 556–562v.

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ronomie basierenden Prutenischen Tafeln des Erasmus Reinhold sowie die Ephemeriden Tycho Brahes, Giovanni Stadios (auf der Basis der Daten Tycho Brahes), die äußerst präzisen Ephemeriden Giovanni Antonio Maginis und diejenigen Andrea Argolis. Letztere enthielten zugleich eine Tafel für astronomische Berechnungen, eine tabula sexagenaria aus der Feder Morandis.6 Neben illustren Zeitgenossen wie Galileo Galilei, dessen Zensor Raffaele Visconti und dem Astronomen Andrea Argoli gingen bei dem mathematisch und astronomisch versierten Morandi auch zahlreiche weniger illustre römische Astrologen ein und aus. Das schuldete sich vor allem Morandis Interesse, den Ausgang der nächsten Papstwahl vorherzusagen. Zu diesem Zweck veranstaltete Morandi 1629 nicht nur einen Astrologen-Kongress, auf dem die Frage des geeignetsten Kandidaten für den Heiligen Stuhl diskutiert wurde,7 sondern fertigte darüber hinaus eine 85 Exemplare umfassende Sammlung von Geburtshoroskopen für Päpste und Kardinäle an. Als 1630 Morandis Horoskop für den amtierenden Papst Urban VIII. mit der Prognose seines imminenten Todes in Rom zirkulierte und eine solche Wirkmacht entfaltete, dass die spanischen Kardinäle, gefolgt von der französischen Diplomatie in Erwartung des nächsten Konklaves nach Rom strömten, machte der Papst den internationalen Vorverhandlungen über seinen Amtsnachfolger ein Ende und unterzog Morandi einem Prozess, in dessen Verlauf der Angeklagte rasch im Gefängnis verstarb. Mit dem juristischen Vorgehen gegen den Abt beglaubigte Urban VIII. freilich Morandis Anspruch, das päpstliche Schicksal am Firmament abzulesen ebenso wie die allgemeine Kompetenz seiner astropolitischen Expertisen. Mit seinem Vertrauen in die Möglichkeit, gravierende politische Ereignisse über den Blick zum Sternenhimmel zu ergründen, stand Urban VIII. keineswegs allein. Die Konsultation astropolitischer Berater gehörte um 1600 sowohl in den katholischen als auch protestantischen Gebieten zum Standard der Herrschaftstechniken. So brüstete sich Urban VIII. selbst, die Geburtshoroskope sämtlicher Kardinäle zu kennen und scheute sich nicht, das Horoskop des altersschwachen Herzogs von Urbino zu studieren, um herauszufinden, wann dieser wohl endlich das Zeitliche segnete, um anschließend von seinem Herzogtum Besitz zu nehmen.8 Die protestantischen Fürsten und Kurfürsten wie etwa Joachim I. von Brandenburg suchten regelmäßig professionellen Rat in Sachen Ehe, Gesundheit und Politik.9 Besonders 6

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Antonino Bertolotti, »Giornalisti, astrologi e negromanti in Roma nel secolo XVII«, in: Rivista Europea 5 (1878), S. 466–514, hier S. 495. Bei Bertolotti finden sich auszugsweise Transkriptionen von Dokumenten aus der Prozessakte, nach denen im Folgenden zitiert wird, sofern das Dokument dort vorhanden ist. Daran erinnerte Tommaso Campanella Urban VIII. in einem Brief vom 3.4.1635. Vgl. Tommaso Campanella, Lettere, hg. von Vincenzo Spampanato, Bari 1927, S. 287 f. Germana Ernst, Tommaso Campanella, Il libro e il corpo della natura, Rom, Bari 2002, S. 214. Vgl. Claudia Brosseder, »The Writing in the Wittenberg Sky: Astrology in Sixteenth-Century Germany«, in: Journal of the History of Ideas 66/4 (2005), S. 557–576, hier S. 564 f.

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ambitioniert erwies sich der Markgraf von Küstrin, der sich von seinem Astrologen die stellaren Konstellationen für die gesamte Marschroute seines Feldzugs von 1552 gegen Frankreich im Voraus berechnen ließ und diese konsequent nach astrologischen Kriterien gestaltete.10 Angesichts der Fülle von Aufgaben war es nicht verwunderlich, dass Fürsten dazu tendierten, sich einen Hofastrologen zu halten,11 der wie in dem berühmten Fall Johannes Keplers am Prager Hof Rudolfs II. auch ein Hofmathematiker oder Hofastronom sein konnte,12 mitunter aber auch identisch mit dem Leibarzt, sofern dieser astrologisch versiert war.13 Denn Regenten suchten keineswegs ausschließlich den Rat ihrer pragmatischen politischen oder militärischen Berater, sondern mindestens ebenso, wenn nicht noch dringlicher denjenigen ihrer Hofastrologen – ein Umstand, der nach Einschätzung Anthony Graftons bislang unzureichend gewürdigt wurde. The political activities of astrologers in Renaissance Europe have remained largely unstudied by historians who have tended to see the pragmatic counsels of Machiavelli as the key to understanding political decision-making. But [...] many members of the ruling elites took astrology seriously as a source of political counsel – sometimes more seriously than history itself.14

Aus diesem Grund soll im Folgenden der Konnex von astronomisch-astrologischem und historisch-politischem Wissen untersucht werden, und zwar anhand des wenig erforschten Genres der frühneuzeitlichen Horoskopsammlungen. Dabei werden sowohl ungedruckte als auch gedruckte Vertreter des Genres und deren Rezeptionszusammenhang untersucht. Mit den astronomischen und biographischen Daten, die in diesem Zusammenhang erhoben, gespeichert und in den Umlauf gebracht wurden, gerät zugleich ein besonderes Archiv in den Blick. Der

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Vgl. Brosseder, »Wittenberg Sky«, S. 564 f. Weitere Beispiele vgl. Claudia Brosseder, Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen, Berlin 2004, S. 27– 71. Der Einfluss astrologischer Prognosen auf militärische Entscheidungen ist leider noch schlechter erforscht als derjenige auf die Politik im allgemeinen, obwohl schon häufig bemerkt wurde, dass dies ein beständiger und wichtiger Faktor in der Geschichte der Kriegskunst war. Dies galt für die Habsburger Kaiser Maximilian I., Ferdinand I., Karl V. und Maximilian II, und selbstverständlich auch für die französischen Könige. Vgl. Brosseder, »Wittenberg Sky«, S. 566. Zur alternativen Bezeichnung der Funktion als Astrologus, Astronomus oder Mathematicus vgl. Barbara Bauer, »Die Rolle des Hofastrologen und Hofmathematicus als fürstlicher Berater«, in: August Buck (Hg.), Höfischer Humanismus, Weinheim 1989, S. 93–117, hier S. 93. Mediziner waren häufig als Hofastrologen tätig, aus dem einfachen Grund, weil sie sich ihre astrologischen Kompetenzen oftmals während ihres Medizinstudiums erworben hatten. Anthony Grafton, »Geniture Collections, Origins and Uses of a Genre«, in: Marina Frasca-Spada, Nick Jardine (Hg.), Books and the Sciences in History, Cambridge u. a. 2000, S. 49–68, hier S. 62.

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Sternenhimmel stellte indes eine spezielle Form von »Archiv der Natur«15 dar, das sich nicht zuletzt auf der Basis von mit zunehmender Präzision und Häufigkeit erhobenen astronomischen Daten konstituierte. Während Sammlungen materieller Objekte, etwa in Museen, bereits häufiger im Rahmen eines erweiterten Archivbegriffs als Sacharchive untersucht wurden,16 ist der Anhäufung und Inventarisierung des ›Immateriellen‹, nicht der Objekte selbst, sondern der sie betreffenden Beobachtungsdaten, bislang noch wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt worden. Gerade die Objekte des Luft- und Weltraums, inklusive ihrer Bewohner wie der Vögel, scheinen sich nicht nur aufgrund ihrer Sperrigkeit, sondern ihrer Variabilität und Mobilität der materiellen Inventarisierung zu widersetzen. Was bei den Archiven der Natur zum Gegenstand der Archivierung geriet, waren also Beobachtungsdaten und Messwerte, nicht aber die Objekte der Beobachtung selbst. Daher stellt sich auch die Frage nach dem Status der frühneuzeitlichen Horoskopsammlungen im Kontext des Archivs der Sterne. Handelte es sich bei ihnen tatsächlich um Sammlungen, die sich nach Maßgabe bestimmter Inklusions- und Exklusionsmechanismen konstituierten? Oder handelte es sich um fortlaufende Erhebungen mit dem Anspruch auf Vollständigkeit? Das Archiv des Sternenhimmels war dabei fraglos in besonderer Weise nicht nur ein Spiegel der Kosmologie, sondern zugleich auch der politischen Macht.17 Denn in den Augen seiner frühneuzeitlichen Betrachter ging von ihm eine natürliche Gewalt aus, die sich nicht in gelegentlichen Meteoriteneinschlägen erschöpfte. Astrale Ereignisse standen mit gewaltsamen irdischen Ereignissen, politischen wie natürlichen, in einem Konsensus, indem sie diese entweder codierten oder sogar verursachten. Wie aber genau taten sie dies? Wie entschlüsselte man den himmlischen Code und bezog die astralen Botschaften korrekt auf politische Ereignisse?

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So der Terminus bei Christian Pfister, der damit vor allem Klima- und Wetterphänomene in den Blick nimmt. Vgl. Christian Pfister, Wetternachhersage: 500 Jahre Klimavariation und Naturkatastrophen (1496–1995), Bern 1999, S. 13–30. Vgl. etwa Anke te Heesen, Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2002, und Gottfried Korff, »Speicher und/oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum«, in: ders., Museumsdinge. Deponieren – exponieren, hg. von Martina Eberspächer et al., Köln u.a. 22007, S. 167–180, hier S. 169 f. »Archives and museums are mirrors of power and cosmologies.« (Greg Dening, »A Poetic for Histories«, in: ders., Performances, Chicago 1996, S. 35–63, hier S. 43)

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Die frühneuzeitlichen Horoskopsammlungen Nicht nur Morandi, sondern eine Vielzahl frühneuzeitlicher Astronomen und Astrologen erkundete den Sternenhimmel auf der Suche nach Indizien sich anbahnender gewaltsamer irdischer Ereignisse. Aufgrund des innigen Verhältnisses von astraler Ankündigung und politischem Ereignis empfahl es sich, als Astrologe etwas von der Politik zu verstehen. Es ist nicht verwunderlich, dass der Mailänder Arzt und Astrologe Girolamo Cardano die Astrologie als politische Kunst beschrieb.18 Darüber hinaus besaßen astrologische und politische Vorhersagen neben der inhaltlichen wichtige methodische Gemeinsamkeiten. Als artes coniecturales, als mutmaßende Künste, beruhten sie gleichermaßen auf einem semiotischen Verfahren, ebenso wie auch die Medizin: Semiology can be looked upon as a general discipline of which medical semiotic is only one branch. From the medieval period onwards, physicians were active as writers and commentators on the broad range of conjectural arts, which include astrology, physiognomy, chiromancy, metoposcopy, dream interpretation and weather forecasting.19

Wenngleich die Astrologie über ein ausgefeiltes und komplexes Regelwerk für die Deutung der astralen Zeichen verfügte, war es keineswegs sonnenklar, welches Zeichen was anzeigte. Eine eindeutige Zuordnung von Signifikant und Signifikat war nicht möglich, auch wenn die frühneuzeitlichen Astrologen eine gewisse Hoffnung hegten, den Zusammenhang von astralen Zeichen und irdischen Konsequenzen durch den gezielten Abgleich von astronomischen mit biographischen und historischen Daten endgültig zu klären. In diesem Sinn beantwortete Orazio Morandi etwa die denkwürdige Anfrage eines Unbekannten nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der Geburtsstunde einer Person und ihrem gewaltsamen, bzw. unnatürlichen Tod, namentlich durch Ermordung, Ertrinken, Stürze aus großer Höhe, versehentliche und absichtliche Vergiftung, durch Tiere oder die Hand der Justiz, bemerkenswert unspektakulär.20 Da die genaue Kenntnis der Geburtsstunde unabdingbar für die Erstellung 18

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»A political astrologer must understand politics, as well as astrology.« (Referat Cardanos bei Anthony Grafton, »Girolamo Cardano and the Tradition of Classical Astrology. The Rothschild Lecture 1995«, in: Proceedings of the American Philosophical Society 142/3 (1998), S. 323–354, hier S. 338 und S. 340) Ian Maclean, Logic, Signs and Nature in the Renaissance. The Case of Learned Medicine, Cambridge 2002, S. 280. ASR, f. 943. Das war möglicherweise eine Reminiszenz an Cardanos Versprechen in den Libelli duo, die astrologischen Ursachen für »all the different forms of death, by poisoning, by lightning, by water, by public condemnation, by iron, by accident, by disease: after long, short or middling periods« zu erhellen. Zitiert nach der Übersetzung bei Grafton, »Geniture Collections«, S. 60.

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eines Geburtshoroskops war, namentlich für die Berechnung des Aszendenten, jenem Grad der Ekliptik, der zum Zeitpunkt der Geburt am östlichen Horizont aufging,21 konstatierte Morandi zunächst nur die Notwendigkeit, möglichst präzise Daten zu erheben, und zwar sowohl astronomischer als auch biographischer Natur. So empfahl er zur Feststellung des Geburtsdatums den Blick ins Taufregister, zur Bestimmung der Todesstunde jenen ins Sterberegister und instruierte den unbekannten Adressaten: »In allen Städten gibt es Sterberegister, und es gibt eigens Orte, an denen diese aufbewahrt werden«.22 Das legte nahe, dass der Adressat mit dieser Art von Verzeichnissen gar nicht vertraut war. Tatsächlich verwies Morandis Empfehlung der Tauf- und Sterberegister auf eine relativ neue Verwaltungspraxis, die erst 1567 im Zuge der Synode von Konstanz in den katholischen Gebieten allgemein verpflichtend wurde.23 Waren die biographischen und astronomischen Daten erst einmal gesichert, ließen sich unter Benutzung möglichst aktueller und präziser astronomischer Daten ebenso präzise Geburtshoroskope erstellen. Morandi löste seine Forderung nach Präzisierung und Transparenz der Daten etwa dadurch ein, dass er am Rand der Nativitäten die astronomischen Tafeln angab, die seinen Berechnungen zugrunde lagen.24 Durch den Datenabgleich wiederum ließ sich auch ein Zusammenhang zwischen astronomischem Ereignis und irdischer Konsequenz etablieren. So gab Morandi am 13. Juli 1630 im Verhör zu Protokoll, dass er anhand der vielen bei ihm gefundenen Nativitäten mit dem Astrologen Luigi Gherardi die Nativität Urbans VIII. habe diskutieren wollen: »Wir wollten unsere Deutung anhand einiger Beispiele von anderen Päpsten überprüfen«.25 Die Praxis des Vergleichs ging implizit auch aus Morandis stolzer Anhäufung von circa 188 Nativitäten hervor, die in seiner Prozessakte erhalten blieben. Tatsächlich besaß Morandi jedoch noch mehr Horoskope, wie sein Freund Gherardi bezeugte: »Der Abt von Santa Prassede hat einen großen Band mit von ihm erstellten Nativitäten, den er mir geliehen hat«.26 Dieser muss jedoch zusammen mit einigem anderen interessanten Material der nächtlichen Verbrennungsaktion zum Opfer gefallen sein, mit der die Mönche von Santa Prassede ihren Abt schützen wollten.

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Franz Boll, Carl Bezold, Wilhelm Gundel, Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie, Darmstadt 51966, S. 62. ASR, f. 944. Johannes Baptist Sägmüller: »Die Entstehung und Entwicklung der Kirchenbücher im katholischen Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts«, in: Theologische Quartalsschrift 81 (1899), S. 206–258, hier S. 233. Auf f. 1050 waren es etwa die Prutenischen. An anderer Stelle vermerkte er den Gebrauch der Tafeln Tycho Brahes. Bertolotti, »Giornalisti, astrologi e negromanti in Roma«, S. 481. Verhörprotokoll vom 26.07.1630. Morandi bestätigte die Existenz des Bandes zwei Tage später. Vgl. Bertolotti, »Giornalisti, astrologi e negromanti in Roma«, S. 484.

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Die Anhäufung von Geburtshoroskopen zeugte zusammen mit der Aufforderung zur Präzisierung der Daten von dem Interesse des Abtes, die Astrologie als empirische Wissenschaft zu entwerfen. Darüber hinaus gehörte Morandis private und handschriftliche Sammlung von Horoskopen zu einem recht schlecht erforschten frühneuzeitlichen Genre, nämlich jenem der Horoskopsammlung, das sich dem Programm einer empirischen Astrologie verschrieben hatte, indem es implizit oder explizit danach strebte, aus einer größeren Datenmenge statistische Häufungen und somit Regelhaftigkeiten abzuleiten. Den Grundstock bildeten zwei Sammlungen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, Girolamo Cardanos Libelli duo (1543) und Luca Gauricos Tractatus Astrologicus (1552). Während Cardanos Sammlung in der Ausgabe von 1543 noch bescheidene 67 Nativitäten umfasste, waren es in der erweiterten Auflage von 1547 bereits 100 Genituren für Herrscher, Päpste, Künstler und Gelehrte aus allen Zeiten. Der Bischof Gaurico brachte es in seiner Horoskopsammlung fünf Jahre später auf 160 Nativitäten, die ein ähnliches Personenspektrum wie jene Cardanos abdeckten, wobei seine Spezialität die Berücksichtigung von Städtehoroskopen war. Diese wohl bekanntesten Sammlungen eigneten sich bestens zur Fundierung astrologischer Untersuchungen qua Vergleich mit anderem ›empirischen‹ Material. Selbstverständlich waren sie in der Bibliothek Morandis vorhanden. Um zu verstehen, was die natürlichen oder astralen Zeichen tatsächlich indizierten, empfahl sich die Vergrößerung des Datenmaterials. So formulierte Caspar Peucer, der Schwiegersohn Philipp Melanchthons, explizit den Wunsch, endgültige Klarheit hierüber »durch das eifrige Sammeln von Erfahrungsdaten«27 zu gewinnen. Der Theologe Johannes Garcaeus, ohnehin der Autor der umfassendsten publizierten Horoskopsammlung – die Astrologiae methodus (1576) enthielt mehr als 400 Nativitäten –, flehte seine Leser gar an, ihm noch mehr Nativitäten zu übersenden: Ich bitte darum, wenn Sie Nativitätsexempel sammeln von den höchsten Prinzen und Heroen oder einzelnen Fällen in Deutschland oder benachbarten Herrschaften, mir ihre Nativitäten oder wenigstens die rechten Geburtszeiten zu übermitteln, damit das Werk der Exempel, das überall in hohem Ansehen steht, vervollständigt und verschönert werden kann.28

Der Aufruf ließ darauf schließen, dass Garcaeus die Entschlüsselung der astralen Zeichen als ein kollektives Unternehmen verstand, dem eine Vielzahl von Personen zuarbeitete.

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Brosseder, Sterne, S. 158. Johannes Garcaeus, Astrologiae methodus (1576). Zitiert nach der Übersetzung von Brosseder, Sterne, S. 158.

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Als kollektives Unterfangen erwiesen sich auch die astrologischen Studien Johannes Keplers. Dieser war der stolze Urheber und Besitzer von circa 1.170 erhaltenen Horoskopen.29 Die Summe der erhaltenen Horoskope war ebensowenig wie bei Morandi identisch mit jener der erstellten, sondern bildete nur den Teil einer größeren Menge.30 Die 2009 erstmals vollständig herausgegebene Horoskopsammlung Keplers gehört wie diejenige Morandis in das Spektrum der ungedruckten Horoskopsammlungen der Frühen Neuzeit, die jedoch extrem schlecht erforscht sind.31 Wie sich die handschriftlichen Horoskopsammlungen zu den gedruckten mit Hinblick auf ihren Umfang verhielten, ist daher schwer zu bestimmen. Keplers unvollständig überlieferte Horoskopsammlung hatte jedoch den dreifachen Umfang der größten gedruckten Sammlung. Ähnlich wie Morandi strebte Kepler nach der Präzisierung sowohl der astronomischen als auch der biographischen Daten. Das war etwa an seiner Praxis ablesbar, für ein und dieselbe Person gleich mehrere Nativitäten zu erstellen, unter Zugrundelegung alternativer Geburtsdaten. So konsultierte Kepler zur Bestimmung der Geburtsstunde des Stuart-Königs Jakob I. von England mehrere historiographische Werke, die er gewissenhaft benannte. Durch die Angabe seiner Informationsquellen machte er die seinen Berechnungen zugrunde liegenden biographischen Daten überprüfbar und nachvollziehbar.32 Keplers sorgfältiger Umgang mit astronomischen und biographischen Angaben war offenbar weithin bekannt, so dass der angesehene Astronom als eine regelrechte Auskunftei für biographische und astronomische Daten fungierte: Aus Keplers Briefwechsel mit verschiedenen Gelehrten und astrologisch Interessierten ist bekannt, dass sie häufig von Kepler Geburtsdaten von Persönlichkeiten erbaten, zusandten und mit ihm über bestimmte Details oder über die Richtigkeit von Berechnungen diskutierten.33 Die Untersuchung der astralen Ursachen oder Zeichen der irdischen Ereignisse erwies sich dabei als eine Art kollektives Unternehmen, das auf einem regen Austausch von Horoskopen beruhte, die in Druckform, aber mehr noch in Manu-

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Vgl. Johannes Kepler, Manuscripta astrologica, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XXI, 2.2., bearb. von Friederike Boockmann et al., München 2009, S. 5–507. »Die Sammlung liegt zum ersten Mal ohne Kürzungen vor und ist dennoch nicht vollständig, da man davon ausgehen kann, dass Kepler weit mehr Horoskope erstellt und gedeutet hat. In Briefen und Schriften erwähnt Kepler viele Horoskope bzw. zitiert Aspekte von Horoskopeignern, von denen in der Sammlung keine Spur zu finden ist.« (Friederike Broockmann, »Astrologica«, in: Johannes Kepler, Gesammelte Werke, Bd. XXI, 2.2., bearb. von Friederike Boockmann et al., München 2009, S. 551–633, hier S. 577) Neben Brosseder hat auch John North einige private, unpublizierte Horoskopsammlungen ausfindig gemacht, etwa jene Simon Formans, William Lillys, John Bookers und Richard Napiers. Vgl. John North, Horoscopes and History, London 1986, S. 161. Vgl. Broockmann, »Astrologica«, S. 578. Ebd., S. 579.

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skript- und Briefform zirkulierten.34 Die Horoskopsammlungen fungierten als ebenso dezentrale wie private Archive biographischer und astronomischer Daten, die sich durch eine Beziehung der Zirkulation und Weitergabe zu einem informellen Netzwerk verbanden. Dabei bildeten die gedruckten Sammlungen und namhafte Korrespondenten wie Kepler oder Morandi gleichsam inoffizielle Auskunfteien, die nur den sichtbarsten Teil des Zirkulationsnetzes für astronomische und biographische Daten darstellten, das sich größtenteils der Öffentlichkeit entzog. Bei dem Projekt der Entzifferung der Sternenbotschaften war die Zirkulation der Daten also mindestens ebenso wichtig wie ihre Erhebung und Archivierung. So war es im Fall der ungünstigen Prognose Morandis für Urban VIII. nicht die bloße astropolitische Datenerhebung, die ihr eine politische Sprengkraft verlieh, sondern erst die weite Verbreitung. Die dezentrale und überwiegend private Archivierung astronomischer und biographischer Daten beruhte nicht auf dem Prinzip der Abschließung und Geheimhaltung, sondern ganz wesentlich auf jenem des Austauschs und der Weitergabe. Es handelte sich gleichsam um ein expansives Archiv, das ungeachtet seiner informellen Organisationsstruktur nach größtmöglicher Vollständigkeit strebte. Morandis inoffizielles Archiv astropolitischer Daten und Analysen mit ekklesiastischem Schwerpunkt hatte ersichtlich ein beachtliches herrschaftskritisches Potential, auf das der Papst prompt und gewaltsam reagierte. So dienten die privaten archivalischen Unternehmungen des Mönches nicht nur der Erforschung astral vorgezeichneter Gewalt, sondern riefen die politische und juristische Gewalt in Form der päpstlichen Anklage regelrecht ins Leben. Sowohl die astrologischen Spekulationen Morandis als auch die päpstlichen Ängste besaßen im Übrigen einen realen Hintergrund, der der Todesprognose Kredit verlieh. Denn in Rom fürchtete man spätestens seit 1629 den Ausbruch jener Epidemie, die im Lauf des Jahres 1630 in einer Vielzahl von italienischen Städten wie etwa Mailand und Florenz grassierte und bei der es sich um die verheerendste Seuche handelte, von der Italien im 17. Jahrhundert heimgesucht wurde.35 Dass Rom 1630 verschont und erst 1656 wieder von einer großen Seuche heimgesucht würde, konnten weder Urban VIII. noch Morandi noch die römische Gesundheitskongregation ahnen, die wie die meisten ihrer Zeitgenossen den Ausbruch der Seuche für imminent hielten:

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»[G]enitures were widely collected, and many of them entered fairly wide circulation. Like many other system of communication in early modern Europe, the exchange system among astrologers used handwriting, rather than printing, as its normal means of transmission.« (Grafton, »Geniture Collections«, S. 54) Vgl. Sheila Barker, »Poussin, Plague, and Early Modern Medicine«, in: The Art Bulletin 86, 4 (2004), S. 659–689, hier S. 659.

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The great pandemic of bubonic plague of 1630 to 1635 that worked its way across most of Italy spared Rome in the end, although the city lived in acute terror for more than a year while watching her neighbors on the peninsula succumb to the apocalyptically destructive disease.36

Da die in Rom zwischen 1629 und 1631 implementierten politischen Pestmaßnahmen außerhalb von Pestzeiten ergriffen wurden, sind sie im Kontext von Morandis Todesprognose für den Papst übersehen worden, und somit auch, dass sie einen politisch-sozialen Hintergrund besaß.37

Placido Titis astropolitische Krisenanalyse der neapolitanischen Revolte 1647–48 Nicht nur der Fall Morandi legt nahe, dass astrologische Vorhersagen und Analysen in konstitutivem Zusammenhang mit ganz konkreten historisch-politischen Umwälzungen standen. So war auch der englische Bürgerkrieg von einer Flut astrologischer Prognostik begleitet.38 Dabei fungierten astrologische Krisenprognosen und -analysen als allgemein anerkanntes Mittel der Verständigung über politische Krisen. Auch Placido Titi äußerte sich vorzüglich im Modus der astrologischen Analyse über gewaltsame politische Umwälzungen. Seine retrospektive Untersuchung der neapolitanischen Revolte von 1647–48 »Indicativi, et Critici Dies in commoto tumultu Neapolitanae Plebis Anni 1647«39 war so gründlich in seinem astromedizinischen Traktat De diebus decretoriis et aegrorum decubitu (1600/1665) versteckt, dass sie bis heute noch gar nicht im Zusammenhang des politischen Aufstands rezipiert wurde.40

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Franco Mormando, »Pestilence, Apostasy, and Heresy in Seventeenth-Century Rome«, in: Franco Mormando, Thomas Worcester (Hg.), Piety and Plague from Byzantinum to the Baroque, Kirksville (MO) 2007, S. 237–304, hier S. 241. Brendan Dooley erwähnt zwar eine astrologische Spekulation Morandis über den Ausbreitungsweg der Pest seit Ende 1629 kursorisch. In seiner ausführlichen Schilderung des historisch-politischen Kontextes von Morandis Prognose werden die zeitgleich in Rom getroffenen Pestmaßnahmen zur Abwehr der imminenten Pestgefahr allerdings überhaupt nicht diskutiert. Vgl. Brendan Dooley, Morandi’s Last Prophecy and the End of Renaissance Politics, Princeton, Oxford 2002, S. 143. Zur astropolitischen Prognostik während des Bürgerkriegs vgl. Patrick Curry, Prophecy and Power. Astrology in Early Modern England, Cambridge 1989, S. 19–44. Titi, De diebus decretoriis I, S. 250–259. Es gibt, soweit ich sehe, keinen wissenschaftlichen Text, der Titis astromedizinische Analyse der Revolte des Masaniello erwähnt. Die einzigen, die diesen Text zu kennen scheinen, sind zeitgenössische Astrologen. Einem von ihnen, Giuseppe Bezza, ist die Übersetzung des Kapitels ins Italienische zu verdanken. Die Übersetzung ist verlässlich und mit Hinblick auf die technischen Aspekte

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Ähnlich unrezipiert ist Titis auf mehrere Werke verteilte Horoskopsammlung. Der Traktat De diebus decretoriis, dessen erster Band 60 Horoskope umfasste, gefolgt von 40 Horoskopen im zweiten, erschien wie Titis astronomische Tafeln, die Tabulae primi mobilis (1657),41 die weitere 30 Geburtshoroskope enthielten, mit der ausdrücklichen Zustimmung des Ordensgenerals,42 was die Werke jedoch nicht davor bewahrte, bald darauf indiziert zu werden. Titis De diebus decretoriis war ein spätes Beispiel für das kleine Genre astromedizinischer Horoskopsammlungen, das maßgeblich von drei Traktaten repräsentiert wurde, namentlich von Thomas Bodiers De ratione & usu dierum criticorum (1555),43 Giovanni Antonio Maginis De astrologica ratione, ac usu dierum criticorum, seu decretiorum (1607)44 und Andrea Argolis De diebus criticis et de aegrorum decubitu libri duo (1639/1652).45 Diese Horoskopsammlungen standen untereinander in engem Zusammenhang – Magini übernahm zahlreiche Horoskope von Bodier, Argoli von Magini und Titi übernahm sie von allen anderen, insbesondere aber von Argoli.46 Auch von Morandis 85 Nativitäten für den hohen römischen Klerus fand eine beträchtliche Anzahl Eingang in dieses Genre, namentlich in die Sammlung seines Freundes Argoli,47 darunter auch das fatale Horoskop für Urban VIII.48 Wohlweislich nahm Argoli das Horoskop des Papstes nicht in der ersten Ausgabe von 1639, sondern erst nach dessen Tod im Jahr 1644 in die erweiterte Fassung von 1652 auf. Titi übernahm wiederum eine Vielzahl von Horoskopen – sowohl Geburts- als auch Krankheitshoroskope – von Argoli. Von den 30 Nativitäten der Tabulae stammten immerhin 24 von Argoli, von denen sieben mit jenen Morandis übereinstimmten, so dass sich hier eine direkte Linie der Weitergabe der Nativitäten von Morandi über Argoli bis hin zu Titi erstreckte.

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der Astrologie kompetent. Vgl. Placido Titi, La rivolta di Masaniello, übers. von Giuseppe Bezza, http://www.cieloeterra.it/testi.masaniello/masaniello.html, letzter Zugriff am 06.04.2011. Placido Titi, Tabulae primi mobilis, Padua 1657. Titi, De diebus decretoriis I, Titelblatt, o. S. Thomas Bodier, De ratione & usu dierum criticorum, Paris 1555. Vgl. die hier benutzte Ausgabe Giovanni Antonio Magini, De astrologica ratione, ac usu dierum criticorum, seu decretorium, Frankfurt 1608. Andrea Argoli, De diebus criticis et de aegrorum decubitu libri duo. Padua 1639. Die zweite, um zahlreiche Horoskope erweiterte Edition von 1652 vgl. Andrea Argoli, De diebus criticis et de aegrorum decubitu libri duo, Padua 1652. Übernahme bedeutet nicht, dass die Horoskope in allen Details identisch waren. Oft wurden sie neu berechnet, wobei der Gebrauch unterschiedlicher astronomischer Tafeln und Häusersysteme zu abweichenden Ergebnissen führte. Von den 39 Horoskopen für hohe Kleriker in der Ausgabe von 1639 deckten sich 20 (vier Päpste und 16 Kardinäle) mit jenen bei Morandi. Alle vier Papsthoroskope stimmen in jeder Hinsicht mit jenen Morandis überein. In der Ausgabe von 1652 kamen 25 Kardinäle und ein Papst – Urban VIII. – hinzu. Davon konvergierten erneut fünf Kardinalsnativitäten mit jenen Morandis. Vgl. Argoli, De diebus criticis 1652, S. 156.

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Titis Untersuchung des Verlaufs der sogenannten Revolte des Masaniello anhand der astronomischen Ereignisse war allerdings originell. Es handelte sich um eine äußerst komplexe und technisch anspruchsvolle astrologische Analyse eines politischen Ereignisses, die das gesamte Repertoire astrologischer Techniken virtuos instrumentierte und weiterentwickelte. Die Rede von der sogenannten Revolte des Masaniello verweist bereits auf ein grundsätzliches Problem hinsichtlich der Einschätzung der historischen Dimension des neapolitanischen Aufstands von 1647– 48. Die Wahrnehmung und Rezeption des Aufstands wurde stark von dem Mythos um die Gestalt des amalfitanischen Fischers Tommaso d’Aniello bestimmt, der während der ersten zehn Tage des Aufstands der charismatische Anführer der Volkserhebung und Oberbefehlshaber über ihre Streitkräfte war. Die Konzentration auf die Anfangsphase, die bereits nach zehn Tagen drastisch mit Masaniellos Ermordung endete, führte nicht selten zu einer Reduktion des Aufstands auf ein isoliertes städtisches Phänomen, in dessen Zentrum der Mythos des folkloristischen Volkshelds Masaniello stand. Doch die Revolte endete keineswegs nach zehn Tagen und wies zu diesem Zeitpunkt auch keine Auflösungserscheinungen auf.49 Vielmehr setzte sie sich, gestützt auf einen breiten Konsens zwischen den Vertretern verschiedener Stände und eine solide militärische Organisation, noch beinahe ein Jahr lang fort.50 Am 17. Oktober 1647 riefen die Aufständischen mit dem Manifesto del Fedelissimo Popolo di Napoli die Republik aus. Dies war eine Reaktion auf die Anforderung spanischer Truppen durch den Vizekönig. Nach mehrmonatiger Belagerung durch die spanische Flotte endete das kurze Leben der neapolitanischen Republik schließlich mit dem Einzug des neuen spanischen Vizekönigs, Don Juan d’Austria, im April 1648. Die stärksten Argumente gegen eine folkloristische Interpretation hat der Historiker Rosario Villari vorgelegt, der den Aufstand im Kontext der seit 1500 währenden politischen Konflikte in Neapel und Süditalien zwischen italienischer Bevölkerung und spanischer Herrschaft verortete, die in gravierenden administrativen, juristischen und finanziellen Schwierigkeiten resultierten. Als Höhepunkt der politischen und ökonomischen Entwicklung in Süditalien war die Revolte zugleich eng mit den Machtverschiebungen im gesamteuropäischen Raum im Zuge des Niedergangs der spanischen Monarchie verbunden. Damit gehört die neapolitanische Revolte in das Spektrum der zeitgenössischen Erhebungen gegen die spanische Herrschaft, etwa in den Niederlanden, in Katalonien und Palermo.

49

50

So etwa Peter Burke, »The Virgin of the Carmine and the Revolt of Masaniello«, in: Past and Present 99 (1983), S. 3–21, hier S. 18. Zur Kontroverse zwischen Burke und Villari vgl. auch die folgende Fußnote. Vgl. Rosario Villari, »Masaniello: Contemporary and Recent Interpretations«, in: Past and Present 108 (1985), S. 117–132, hier S. 118. Burke hat sich gegen Villaris Argumentation zur Wehr gesetzt. Zu Burkes Replik vgl. Peter Burke, »Masaniello: A Response«, in: Past and Present 114 (1987), S. 197–199.

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Den eigentlichen Anlass der neapolitanischen Revolte von 1647–48 bildete nicht zuletzt eine schwere Finanzkrise, in der sich das von einem spanischen Vizekönig regierte Königreich Neapel um 1645 befand, der sich nicht zuletzt den zahlreichen militärischen Einsätzen der spanischen Monarchie schuldete. Die militärisch bedingte Finanznot führte einerseits zu einem regelrechten Ausverkauf des Vizekönigreichs an den einheimischen Adel,51 andererseits zu einem gewaltigen Anstieg der Abgaben seit den 1630er Jahren.52 Die unablässige Einführung neuer Steuern und außerordentlicher Abgaben mündete am 7. Juli 1647 unter dem Eindruck der ähnlich motivierten Aufstände in Palermo vom 20. Mai 1647 schließlich in der neapolitanischen Volkserhebung.

Die Vorzeichen der Krise Interessanterweise konzentrierte sich Titis Analyse der Revolte von 1647–48 keineswegs auf die ersten zehn Tage des Aufstands, sondern führte astronomische Ursachen und Vorzeichen ins Feld, die dem eigentlichen Ereignis chronologisch weit vorangingen. So hielt Titi mehrere Sonnen- und Mondfinsternisse zwischen 1645 und 1647 für entscheidend: 1. 2. 3. 4.

10.02.1645 21.08.1645 30.01.1646 20.01.1647

partielle Mondfinsternis partielle Sonnenfinsternis totale Mondfinsternis partielle Mondfinsternis

23° Löwe 28° Löwe 12° Löwe 1° Löwe

Das wichtigste dieser Himmelsereignisse war für Titi die totale Mondfinsternis des Jahres 1646, die er als richtungsweisend für die politischen Ereignisse des Jahres 1647 betrachtete: Unter den oben genannten Eklipsen war jene, die sich am 30. Januar 1646 noctis sequentis ereignete, die bedenklichste und einflussreichste, deren Wirkungen sich bis in die ersten Monate des Jahres 1647 erstreckte.53

Die Entscheidung für die besondere Relevanz dieser Mondfinsternis fiel wohl schon deshalb leicht, da sie unter den genannten die einzige totale Finsternis war,

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52

53

J.H. Elliott, »Revolts in the Spanish Monarchy«, in: Robert Forster, Jack P. Greene (Hg.), Preconditions of Revolution in Early Modern Europe, Baltimore 1970. S. 109–130, hier S. 124 f. »[F]rom 1636, Spain’s demand for aid in money, soldiers and arms grew uncontrollably.« (Rosario Villari, The Revolt of Naples, Cambridge 1993, S. 75) Titi, De diebus decretoriis I, S. 252. Die Zeitangabe noctis sequentis bedeutete, dass nach dem Sonnenuntergang, der freilich ortsabhängig war, gerechnet wurde.

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denn partielle Mondfinsternisse waren keineswegs außergewöhnlich. Auffallend war indes, dass sie allesamt im Zeichen des Löwen stattfanden. Dieses herrschte nach Auffassung Titis, der sich auf die ptolemäischen Thesen zur astrologischen Geographie stützte, über Italien.54 Deshalb zeigte der astronomische Ort, an dem sich die Eklipsen ereigneten, unfehlbar auch das irdische Gebiet an, in dem der Eintritt gravierender politischer Ereignisse zu erwarten war: Zudem, da in diesen Jahren sehr zahlreiche Finsternisse der Himmelskörper im Zeichen des Löwen zu sehen waren, das über Italien herrscht, handelt es sich um Vorzeichen eines schweren Schadens in einigen Gebieten Italiens.55

Da Titi die genannten Sonnen- und Mondfinsternisse in astronomischer Perspektive nicht exzeptionell genug waren, machte er für die herausragende Bedeutung der totalen Mondfinsternis des Januars 1646 zusätzlich geltend, dass diese von einem sehr speziellen Himmelsphänomen begleitet war, nämlich einem Paraselenium oder Nebenmond: gegen die dritte Stunde noctis sequentis am 29. Januar, [jener Nacht, S.K.] die der folgenden Mondfinsternis voranging, beobachtete ein Gelehrter der Astronomie, der sich in Imola befand, um den Vollmond herum einen Lichtkreis mit einem Durchmesser von ungefähr 40 Grad.56

Dabei handelte es sich um eine Haloerscheinung, ein optisches Phänomen, das sich in der Atmosphäre zeigte, wenn Eiskristalle in der Luft den Mond reflektierten und so ein ›zweiter‹ Mond in Erscheinung trat. Diese Haloerscheinung war nur bei Vollmond möglich. Dass Eiskristalle in der Luft, zumal in Italien, nicht ganzjährig üblich waren, setzte der Häufigkeit der Erscheinung weitere Grenzen. Die Ausnahmeerscheinung des Paraseleniums sollte also die herausragende Bedeutung der von Titi ins Feld geführten Sonnen- und Mondfinsternisse zwischen 1645 und 1648 beglaubigen, wobei offen blieb, was ein bei Bologna beobachteter Nebenmond mit den politischen Ereignissen in Neapel zu tun haben mochte. Die astralen Konstellationen wirkten dabei nicht nur in besonderem Maße auf bestimmte irdische Regionen ein, sondern interagierten nach Auffassung Titis auch mit jenen astrologischen Faktoren, die in den Geburtshoroskopen von Herrschern angezeigt waren:

54

55 56

Titi führte als Autorität für diese Zuordnung das einschlägige Kapitel zur astrologischen Geographie in Ptolemäus’ Tetrabiblos II, 3 ins Feld. Titi, De diebus decretoriis I, S. 251. Ebd.

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Das feindliche und zwiespältige Verhältnis zwischen den oberen Planeten [Jupiter und Saturn, S.K.] verursacht tatsächlich Kriege und Unruhen, während die günstige Beziehung zwischen ihnen für Frieden und eine ruhige Zeit sorgt, vor allem, wenn die Nativitäten der Fürsten damit übereinstimmen.57

Dabei machte Titi höchst ungewöhnliche astrologische Faktoren geltend und verwendete etwa die von Johannes Kepler im Mysterium cosmographicum (1596) eingeführten neuen astrologischen Aspekte zwischen den bewegten Himmelskörpern wie etwa den Quicunx mit Selbstverständlichkeit.58 So begründete er den Ausbruch der neapolitanischen Revolte just am 7. Juli 1647 genau mit einem solchen ungünstigen Aspekt: Als dann wirklich Saturn und Jupiter auf derselben Deklinationsparallele erschienen und sich am 7. Juli in einem Quicunx befanden, brach die Revolte des neapolitanischen Volkes 17 Stunden und 30 Minuten nach Sonnenuntergang aus.59

Der Verlauf der Revolte Titi machte für den akuten Ausbruch der Revolte am 7. Juli 1647 nicht nur vorgängige Eklipsen und die Konstellation zwischen Saturn und Jupiter verantwortlich, sondern 14 weitere astrologische Faktoren, die er dem eigens erstellten ›Geburtshoroskop‹ der Revolte entnahm.60 So betonte er etwa, dass die Stellung sämtlicher Planeten über dem Horizont die Manifestation konzertierter politischer Aktivitäten anzeigte: Alle Planeten über dem Horizont drängen zum offenen und ungezügelten Auftreten verborgener, okkulter und lautloser Tendenzen, und zwar mit Einmütigkeit.61

In der Tat kam es am 7. Juli auf der Piazza del Mercato, wo sich nicht nur der Obstmarkt befand, sondern gleichfalls die Steuerbehörde, zu massiven Protest57 58

59 60 61

Ebd., S. 252. »He cast an innovative eye over his subject, and singled out for admiration chapter 12 of Kepler’s Mysterium cosmographicum (1596), and the new varieties of planetary aspects there introduced.« (North, Horoscopes and History, S. 181) Kepler hatte die Aspekte mit Hinblick auf ihre Kompatibilität mit den musikalischen Harmonien vermehrt, was in drei neuen Winkelbeziehungen resultierte. So wartete er zusätzlich zu den seit der Antike verbürgten Aspekten von Konjunktion, Trigon, Sextil, Quadrat und Opposition mit einem Quintil oder Quicunx, einem Sequisquadrat sowie einem Biquintil auf. Titi, De diebus decretoriis I, S. 252 f. Vgl. ebd., S. 253. Ebd., S. 254.

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kundgebungen gegen etwas, das sehr viel mit beiden Institutionen zu tun hatte, nämlich die Besteuerung der Früchte. Nicht ohne Witz war Titis Deutung eines Quadrats zwischen Mars und Saturn, das seiner Ansicht nach den Tod von Steuereintreibern anzeigte: »Saturn, der im Quadrat zu Mars und im achten Haus steht, [...] ist lebensbedrohlich für Steuereintreiber«.62 Während der ersten zehn Tage der Revolte wurden annähernd 60 Paläste geplündert. Diese Plünderung, die annähernd 60 Paläste von maßgeblich am spanischen Steuersystem Beteiligten betraf, wurde allerdings nicht nur astral begünstigt, sondern auch durch die Existenz einer Liste der Paläste.63 Günstiger fiel Titis retrospektive Prognose für den spanischen Vizekönig aus, der davon profitierte, dass die Sonne im Horoskop der Revolte ausschließlich positiv aspektiert war: »Die Sonne [...], frei von schlechten Planeteneinflüssen, erhält die Macht des Fürsten«.64 Dabei ordnete Titi die Planeteneinflüsse jedoch nicht bestimmten Bevölkerungsgruppen und Akteuren zu, sondern behandelte die Himmelskörper vielmehr als polyseme Zeichen. So bezog er den Sonnenstand nicht nur auf den Herrscher, sondern deutete ihn auch mit Hinblick auf den Verlauf der Revolte: Die Sonne in einem beweglichen Zeichen, der Mond mit zunehmendem Licht in einem gemeinen gemeinsam mit Mars verweisen auf ein Ereignis, das sehr gewalttätig vonstatten geht, mit Feuersbrünsten und Ermordungen, mit einem äußerst akuten Verlauf, wie es bei Krankheiten der Fall ist; und schließlich, wie ich sagte, da die oberen Planeten untereinander in feindseliger Beziehung standen, drohten die Ereignisse, von einem akuten Verlauf zu einem chronischen überzugehen.65

Da Titis Analyse bereits zum Zeitpunkt des letzten Neumonds vor dem Aufstand einsetzte, schloss er von der Zunahme des Mondes auf diejenige der Menschenmenge, die sich an der Revolte beteiligte: »Der Mond, dessen Licht zunimmt, vergrößert die Menschenmasse, wie es übrigens auch bei Krankheiten der Fall ist«.66 Da die Revolte allerdings trotz abnehmenden Mondes nicht endeten wollte, machte Titi den Einfluss der erdfernsten Planeten Saturn und Jupiter verantwortlich für die Veränderung des Charakters der politischen Krankheit selbst: doch später, aufgrund der Beziehungen unter den oberen Planeten wurde [der Aufstand] chronisch und veränderte seine Form [speciem mutaverit], indem er von dem Volk auf den Adel überging, so wie es oft bei Krankheiten der Fall ist, dass sie von der

62 63

64 65 66

Ebd. Burke verweist auf eine »›hit list‹ of some sixty palaces on which attacks were planned.« (Burke, »Virgin«, S. 14) Titi, De diebus decretoriis I, S. 254. Ebd., S. 255. Ebd., S. 254.

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Galle auf die inneren Organe übergreifen, die nobler und fester sind, so dass sie von einem akuten zum chronischen Verlauf übergehen.67

Mit der These zweier Phasen der Revolte, der zehntätigen initialen Phase und dem nachfolgenden Verlauf bis zum April 1648, gab Titi in politischer Hinsicht zu verstehen, dass er die Revolte keineswegs mit der Anfangsphase, die von der charismatischen Gestalt des Masaniello geprägt war, identifizierte, sondern die anschließende Phase, die von einer breiten Bevölkerungsschicht aus verschiedenen Ständen inklusive des Adels getragen war, politisch sehr ernst nahm. Die Differenzierung zwischen einer ›akuten‹ und einer ›chronischen‹ Phase der Revolte zeugte zugleich davon, dass Titi das Horoskop für den Ausbruch der Revolte wie ein Krankheitshoroskop behandelte, das Aussagen über den Verlauf ermöglichte. Nicht umsonst befand sich seine astropolitische Krisenanalyse in einem Traktat über die Lehre von den kritischen Tagen, einem Kernstück der medizinischen Prognostik und Diagnostik, das aus der griechisch-römischen Antike stammte. So ging bereits Hippokrates davon aus, dass die einzelnen Formen der akuten Krankheiten Krankheitszyklen unterschiedlicher Länge besaßen, wobei anzeigende (dies decretoriis) und kritische Tage (dies criticis) in ein Verweisverhältnis traten.68 In den Aphorismen hieß es: Der vierte Tag zeigt den siebten Tag an, der achte ist der Beginn der zweiten Woche, und da der elfte Tag der vierte der zweiten Woche ist, ist er ebenfalls ein anzeigender Tag, und auch der siebzehnte Tag ist ein anzeigender Tag, da er der vierte vom vierzehnten aus ist, und der siebte vom elften aus gesehen.69

Während die hippokratische Variante der Lehre von den kritischen Tagen auf den pythagoreischen Zahlen basierte, stützte sich diejenige Galens auf den Mondlauf. Im neunten Kapitel des dritten Buches von De diebus decretoriis bezog Galen die hippokratischen Siebentagesfristen systematisch auf den Mondlauf. Dieses Kapitel stellte für die kommenden Jahrhunderte und Jahrtausende das wichtigste Einfallstor für die Astrologie in die Medizin dar.70 Ausgangspunkt war jeweils der Mondstand zum Moment des Krankheitsbeginns, wobei sich die genaue Kenntnis dieses Zeitpunkts empfahl. Der siebte und kritische Tag fiel nunmehr mit der ersten Quadratur des Mondes zusammen. Das heißt, der Mond bildete einen Winkel von 90° im Verhältnis zu seiner Ausgangs-

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69

70

Ebd., S. 258. Vgl. Giuseppe Dell’Anna, Dies critici: La teoria della ciclicità delle patologie nel XIV secolo, Bd. 1 (Dies et crises), Lecce 1999, S. 46. Hippocrates, Aphorisms, in: Hippocrates, Bd. 3, hg. und übers. von E.T. Withington, Cambridge 1968, Nachdruck der Ausgabe The Loeb Classical Library, II, 24, S. 329. Karl Sudhoff, Iatromathematiker vornehmlich im 15. und 16. Jahrhundert, Breslau 1902, S. 16.

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position zum Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs und somit ein Quadrat zu sich selbst. Das war astrologisch gesehen eine ungünstige Konstellation. Nach 14 Tagen befand sich der Mond genau in Opposition zu seinem Ausgangspunkt zum Krankheitsbeginn und erreichte so einen besonders kritischen Punkt, an dem er einen ungünstigen Winkel von 180° zu seiner ursprünglichen Stellung bildete.71 Haly Abenragel (998–1067) führte diesen Ansatz in seinem sehr populären Kommentar des pseudo-ptolemäischen Centiloquium fort und stellte in Form der Figura Sexdecagona eine systematische Konkordanz von Winkelsummen und kritischen Tagen her. Dabei bildete der Mond nun auch an dem anzeigenden vierten und elften Tag jeweils ein Halbquadrat (45°) zu seinem Ausgangspunkt, dessen Wirkung als ähnlich ungünstig galt wie die eines Quadrats. Auf dieser Grundlage ließen sich Krankheitshoroskope erstellen, die wie Geburtshoroskope berechnet wurden, bezogen allerdings auf den Moment des Krankheitsausbruchs. Wegen der Kalkulation des Aszendenten war diese prognostische und diagnostische Praxis astronomisch voraussetzungsreich und vor allem unter den gelehrten Medizinern der Frühen Neuzeit üblich.72 Titi untersuchte insbesondere die zehntägige initiale Phase der Revolte bis zur Ermordung Masaniellos nach Maßgabe des astromedizinischen Krisenmodells. Dabei zeigte er sich mit Halys Variante der Lehre von den kritischen Tagen bestens vertraut: Was den Eintritt der Krise angeht, kann man beobachten, dass man am 10. Juli, dem vierten Tag nach Beginn des Aufstands, als der Mond ungefähr 45° [im Verhältnis zu seinem Ausgangspunkt, S.K.] zurückgelegt hatte, zu Übereinkünften gelangte und die Steuern abgeschafft wurden.73

Historisch gesehen bezog sich Titi an dieser Stelle auf Unterhandlungen zwischen den Rebellen und der spanischen Monarchie. Masaniello verhandelte bereits seit dem 9. Juli als Vertreter der Rebellen mit dem Kardinal Ascanio Filomarino, dem Unterhändler des spanischen Vizekönigs, über die Abschaffung der Besteuerung von Obst und Brot.74 Die Unterhandlungen waren jedoch nur mäßig erfolgreich. Zwar kam man bereits am 10. Juli zu einem Kompromiss zwischen Vizekönig und Rebellen, doch nicht mehr dazu, diesen publik zu machen, da noch am gleichen Tag ein Mordanschlag auf Masaniello verübt wurde, der scheiterte und in einem 71

72

73 74

Für den 21. Tag, der mit der zweiten Quadratur zusammenfiel, galt Ähnliches wie für den siebten Tag. Zur Diagnose und Therapie auf der Basis astromedizinischer Praktiken vgl. insbesondere WolfDieter Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1985, S. 135–175. Titi, De diebus decretoriis I, S. 255. Roberto de Simone et al. (Hg.), Masaniello nella drammaturgia europea e nella iconografia del suo secolo, Neapel 1998, S. 90.

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militärischen Zusammenstoß mündete. Bei diesem wurde mit Giuseppe Carafa, Herzog von Maddaloni, einer der Auftraggeber des Komplotts ermordet. Aufgrund der sich überschlagenden politischen Ereignisse blieben die ausgehandelten Übereinkünfte zwischen Rebellen und Herrschenden zunächst unbekannt und entfalteten daher auch keine Wirkung. Da der vierte Tag gemäß dem hippokratischen Aphorismus den siebten und kritischen Tag anzeigte,75 verwies er in Titis Perspektive sowohl auf die Ereignisse des siebten als auch des 14. kritischen Tags im Verlauf der Revolte: Schließlich war der vierte Tag der die Krise anzeigende Tag, die am siebten Tag eintreten musste, bzw. am 14. Juli, als der Mond 90° weitergerückt war, also jener Tag, an dem Masanello spontan verlangte, die Befehlsgewalt niederlegen zu dürfen und den Verstand verlor.76

Masaniello hatte an diesem Tag zwar die Befehlsgewalt niedergelegt, sich jedoch entgegen der Vereinbarungen rasch wieder anders besonnen. Daher bewirkte sein Verhalten keine Wendung der Ereignisse und konnte kaum als Krisenindikator angesehen werden. Ebenso wie der Versuch der Ermordung Masaniellos am 10. Juli, also am vierten und anzeigenden Tag, erfolglos verlief, zeitigte auch der freiwillige Rückzug Masaniellos als Kommandeur des Aufstands am 14. Juli, dem ersten kritischen Tag, keine entscheidende Wendung im Verlauf der Revolte. Unglücklicherweise konvergierten die zentralen Ereignisse der Revolte also zahlentechnisch nicht mit den traditionell anzeigenden und kritischen Tagen. Daher erklärte Titi den vierten, anzeigenden Tag kurzerhand für unvollständig krisenhaft aufgrund eines Mangels an Krisensymptomen: Und weil die Zeichen des vierten anzeigenden Tages unvollkommen waren, fand auch die Krise des siebten Tages unvollkommen statt, da auch die früheren Zustände erhalten blieben.77

So resultierte der unvollkommen krisenhafte vierte Tag in einer unvollkommenen Krise am siebten Tag. Dabei übertrug Titi das komplexe Verweissystem der astromedizinischen Krisenlehre auf die politische Analyse, was allerdings nicht erklärte, warum die Krise, anzeigt durch die Ermordung Masaniellos am 16. Juli, auf den zehnten Tag nach Krankheitsbeginn und damit auf einen nicht kritischen Tag fiel. Titi behalf sich, indem er von der Analyse des vierten einfach zum fünften Tag überging, den er zum anzeigenden Tag bezüglich des zehnten kritischen Tags erklärte. Am fünften Tag der Revolte, dem 11. Juli 1647, waren die Übereinkünfte 75 76 77

Hippokrates, Aphorismen, II, 24, S. 329. Titi, De diebus decretoriis I, S. 255. Ebd.

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zwischen Herrscher und Rebellen erneuert und publik gemacht worden, was zu einer vorübergehenden Besänftigung der Aufständischen führte.78 Mit der unorthodoxen Postulierung eines fünften anzeigenden und zehnten kritischen Tages gelang es Titi schließlich, die historischen Ereignisse, insbesondere die Ermordung Masaniellos, mit der Lehre von den kritischen Tagen und den Mondaspekten in Einklang zu bringen: An diesem Tag [dem 11. Juli, S.K.] hatte der Mond sein Sextil erreicht und zeigte den zehnten Tag an, den 16. Juli, an welchem der Mond das Trigon zu seinem Ausgangspunkt zu Beginn der Revolte erreichte und an dem Masanello am Morgen ermordet wurde, als die Sonne die Stellung des Mars in mundo einnahm und der Mond zu ihr in Opposition stand.79

Das Verhältnis zwischen anzeigendem fünftem und kritischem zehnten Tag war zwar grundsätzlich plausibel – es handelte sich um eine Übertragung der Logik des Verhältnisses von viertem zu siebtem Tag –, aber nirgends verbürgt. Sehr wahrscheinlich resultierte die unorthodoxe Erklärung des fünften und zehnten Tages zu Krisentagen aus der Vertrautheit des Mathematikers und Astronomen mit dem Dezimalsystem.

Die Krise des Masaniello Titi analysierte die astralen Konstellationen nicht nur mit Hinblick auf den allgemeinen Verlauf des Aufstands, sondern räumte der Person Masaniellos einen besonderen Platz ein, indem er auch dessen Geburtshoroskop in den Blick nahm. Dabei erklärte er die astralen Konstellationen der Nativität Masaniellos zur speziellen Ursache der politischen Ereignisse: Hier endet unsere Erörterung der allgemeinen Ursachen. Gehen wir nun zu den speziellen über. In diesem Zusammenhang erscheint uns das Geburtshoroskop Masanellos.80

Titi datierte Masaniellos Geburt auf den 19. Juni 1620 um 5.29 Uhr post meridiem.81 Obwohl Masaniellos Nativität nicht ohne auffällige Züge war, zog Titi aus ihr kaum Schlüsse, sondern wandte sich gleich der Suche nach den astralen Ursa-

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 256. Vgl. ebd.

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chen seines plötzlichen Todes zu.82 Wie viele Zeitgenossen Masaniellos hielt Titi dessen charismatische Wirkung für besonders erklärungsbedürftig. Vor dieser zog sogar Kardinal Filomarino, der Unterhändler des spanischen Vizekönigs, seinen Hut: Dieser Masaniello hat innerhalb dieser wenigen Tage eine solche Autorität, Macht, Respekt und Gehorsam erhalten, dass die ganze Stadt vor seinen Befehlen erzitterte, die von seinen Gefolgsleuten mit größter Zuverlässigkeit und Strenge ausgeführt wurden [...]. Kurz gesagt, er ist der König in dieser Stadt geworden, und zwar der ruhmvollste und siegreichste, den die Welt gesehen hat [...] Wer ihn nicht gesehen hat, kann sich keine Vorstellung davon machen, und wer ihn erlebt hat, kann ihn anderen nicht treffend beschreiben.83

Mühelos fand Titi astrale Gründe für Masaniellos Charisma und kometenhaften Aufstieg zum Anführer der Revolte. Eine wesentliche Ursache erblickte er in der Konkordanz des individuellen Horoskops mit den kollektiv wirkenden Gestirnspositionen: Man kann darüber hinaus die Übereinstimmung der Nativität Masanellos mit den allgemeinen Ursachen beobachten, durch die er von einer niederen Herkunft bis zur Herrschaft gelangte.84

Dabei konzentrierte sich Titi auf die Sonnen- und Mondfinsternisse, die der Revolte vorausgegangen waren. Er stellte fest, dass die Venus in Masaniellos Nativität im Löwen und damit genau an jenem Ort stand, an dem alle vier Finsternisse stattgefunden hatten. Zudem habe Jupiter während der Eklipsen vom 21.08.1645 und am 30.01.1646 in 29°, bzw. 27° Grad der Zwillinge gestanden, genau an jenem Ort, an welchem sich die Sonne in Masaniellos Nativität befand – nämlich in 28° 32‘ Zwillinge.85 Diese Wechselbeziehung zwischen kollektiven und individuellen astralen Faktoren nannte Titi Tausch (permutatio) und hielt sie dafür verantwortlich, dass »der universelle Einfluss auf die einzelnen dafür empfänglichen Individuen übergeht«.86 Diese Art der Konvergenz von Planetenständen in der Nativität Masaniellos mit jenen zu astral auffälligen Zeitpunkten unmittelbar vor der Revolte hielt Titi für

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84 85 86

Diese untersuchte er mittels komplizierter astrologischer Verfahren wie der Berechnung von Primär- und Sekundärdirektionen. Ascanio Filomarino an Innozenz X., 12.07.1647. Ascanio Filomarino, Lettere al pontefice Innocenzio X sulla sommossa di Masaniello, Florenz 1843, S. 14. Titi, De diebus decretoriis I, S. 258. Vgl. ebd. Ebd., S. 259.

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absolut zentral für die wirkmächtige Verschmelzung kollektiver und individueller Kräfte und postulierte: Es werden in der Tat jene von schlimmen Ereignissen überrascht, bei denen es eine Austauschbeziehung zwischen den unheilvollen Planeten und Sonne und Mond gibt, und ebenso sind jene begünstigt vom Glück, bei welchen es eine Austauschbeziehung zwischen Sonne und Mond und den glücksbringenden Planeten gibt.87

Bei Masaniello fand Titi unschwer eine Vielzahl dieser äußerst wirkmächtigen permutationes. So beschloss Titi seine komplexe Krisenanalyse mit den anerkennenden Worten: »Und ich habe einen anderen Mann mit einer ebensolchen permutatio gesehen, der in einer anderen Revolte Fürst genannt wurde«.88 Die geheimnisvolle Äußerung zeugte nicht nur von Titis Wohlwollen gegenüber der neapolitanischen Revolte von 1647–48, sondern verwies zugleich auf einen anderen Rebellen, nämlich auf Oliver Cromwell. Dieser hatte gleichzeitig mit Masaniello eine ungleich erfolgreichere Revolte angeführt und, wie Titi korrekt erläuterte, den Herrschertitel angenommen. Tatsächlich wurden Masaniello und Cromwell von ihren Zeitgenossen häufig assoziiert, und die mit ihnen verbundenen Aufstände als verwandte politische Phänomene wahrgenommen. Davon zeugte nicht nur das große zeitgenössische englische Interesse an der neapolitanischen Revolte, sondern auch die Prägung mehrerer Medaillen um 1658, die auf der einen Seite das Konterfei Masaniellos, auf der anderen dasjenige Cromwells zeigten.89 Wer Titis Traktat aufmerksam las, fand Cromwell wenige Seiten später sogar namentlich erwähnt, allerdings an einem Ort, an dem man schwerlich suchen würde – mitten in der Analyse des Geburtshoroskops des Königs Karl Gustav von Schweden.90 Titi brachte also die beiden politischen Figuren im Kontext der zeitgenössischen Aufstände ebenso gezielt wie im Verborgenen in Zusammenhang. Nicht nur war ein medizinisches Traktat ein ungewöhnlicher Ort für eine astrologische Analyse eines politischen Ereignisses, auch formale Gründe erschwerten ihre Ortung innerhalb des Traktats. Im Anschluss an 29 theoretische Kapitel fanden sich 60 Krankheitshoroskope,91 dann brach die Zählung ab und es folgten ohne Nummerierung zwei andersartige Untersuchungen – die Analyse der neapolitanischen Revolte92 und diejenige der Nativität des Königs Karl Gustav von

87 88 89

90 91 92

Ebd. Ebd. Vgl. zu den verschiedenen Medaillen Villari, »Masaniello«, S. 125 f. Mitunter diente der Vergleich, anders als bei Titi, zur Herstellung des Kontrastes zwischen den beiden historischen Gestalten. Vgl. Titi, De diebus decretoriis I, S. 259. Nur in einem Fall fügte Titi ein Geburtshoroskop mit ein, vgl. Titi, De diebus decretoriis I, S. 234. »Inidicativi, et criticis dies in commoto tumultu neapolitanae plebis anni 1647« (Titi, De diebus decretoriis I, S. 250–259).

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Schweden.93 Mitverantwortlich für dieses Versteckspiel war sehr wahrscheinlich die Tatsache, dass es kaum positive oder auch nur neutrale Stellungnahmen zur neapolitanischen Revolte von 1647–48 aus Italien in Druckform gab.94 Die in Italien ausgeprägte Zensurpraxis unterdrückte nicht nur zustimmende Äußerungen zu den Revolten im eigenen Land, sondern auch zu ausländischen Aufständen, namentlich in England und in den Niederlanden. Wahrscheinlich richtete sich die Zensur von Titis Werken nicht gegen dessen Ergründung der astralen Ursachen der neapolitanischen Revolte, sondern vielmehr gegen dessen analytische Verfahren im Allgemeinen, die ungewöhnlich komplex waren. Mittels des Abgleichs der Sonnen- und Mondfinsternisse vor der Revolte, dem (Krankheits-)Horoskop des Aufstands und der Nativität Masaniellos schuf Titi eine Fülle astronomischer Momentaufnahmen, die er wie Folien arrangierte und dadurch ganz neuartige und komplexe Beziehungen zwischen Individual- und Kollektivhoroskopen aufzeigte. Die mathematisch und astronomisch komplexe Vorgehensweise wies den Mönch Titi als Vertreter einer elitären und gelehrten Astrologie der späten Frühneuzeit aus,95 die vor allem in England großen Anklang fand.96 So war Titis Physiomathematica der einzige der frühneuzeitlichen astromedizinischen Traktate, der mit seiner 30 Nativitäten umfassenden Horoskopsammlung noch im 18. Jahrhundert eine Übersetzung in eine moderne Sprache erfuhr und 1789 unter dem Titel Astronomy and Elementary Philosophy in London gedruckt wurde.97 Der Übersetzer Manoah Sibly (1757– 1840) hatte das bei Titi implizit präsente Programm der astropolitischen Analyse und ihre Anwendung auf gewaltsame politische Ereignisse allerdings bestens verstanden. Obwohl er in keiner Weise zu verstehen gab, dass er Titis astropolitische Untersuchung der neapolitanischen Revolte überhaupt kannte, ergänzte er das Werk zielstrebig um eine Horoskopanalyse, die geradezu das englische Pendant zu Titis Nativität für Masaniello bildete, nämlich das Geburtshoroskop Oliver Cromwells, angefertigt von dem englischen Astrologen und Anhänger Titis John Partridge.98 93 94

95

96

97 98

»Natalis Caroli Gustavi Svevia Regis« (Titi, De diebus decretoriis I, S. 259–263). Die wichtigste prorevolutionäre Darstellung Partenope liberata (1647) stammte von dem Mediziner Giuseppe Donzelli. Sie wurde jedoch rasch nach dem Ende der Revolte unterdrückt. Vgl. Giuseppe Donzelli, Partenope liberata overo racconto dell’heroica risolutione fatta dal popolo di Napoli per sottrarsi con tutto il regno dall’insopportabile giogo degli Spagnoli, Neapel 1647. Positive Stellungnahmen gab es in größerer Anzahl, zur Umgehung der Zensur jedoch fast ausschließlich in Manuskriptform. Vgl. Villari, Revolt, S. 178. Zu den mathematisch und astronomisch komplexen Verfahren der späten Frühen Neuzeit vgl. North, Horoscopes and History, S. 182–184. Einen wichtigen Grund für die englische Rezeption bildete Titis System der Häuserberechnung, das eigentlich von Magini stammte. Dieses Häusersystem erfreute sich großer Beliebtheit unter den gelehrten englischen Astrologen. Noch heute sind die ›Häuser nach Placidus‹ gebräuchlich. Placido Titi, Astronomy and Elementary Philosophy, London 1789. Vgl. Supplement to Placidus de Titus; containing the Nativity of That Wonderful Phaenomenon, Oliver Cromwell. Calculated methodically, according to the Placidian Canons, by the Ingenious Mr. John Partridge, London 1790.

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Darüber hinaus war es wohl kein Zufall, dass Sibly ausgerechnet im Jahr 1789 ein Werk übersetzte und publizierte, das die Methoden der astropolitischen Krisenprognostik und -diagnostik extensiv erläuterte. Denn sein Bruder Ebenezer Sibly (1751–1799) setzte Titis Programm regelrecht fort, indem er auf der Grundlage astronomischer Ereignisse Prognosen über den Verlauf der französischen Revolution und anderer politischer Umbrüche seiner Zeit formulierte. So beanspruchte er etwa, das Schicksal von Ludwig XVI. und Marie Antoinette korrekt vorhergesagt zu haben und prognostizierte den imminenten Untergang des Deutschen Reichs, den er selbst nicht mehr erlebte.99 Noch um 1800 war also die Konsultation des Universalarchivs des Sternenhimmels eine Option, um Informationen über den Verlauf radikaler und gewaltsamer politischer Ereignisse oder deren Ursachen einzuholen. Dabei konnten die Gebrüder Sibly gezielt auf ein ganzes Archiv von astronomischen, biographischen und historischen Daten zurückgreifen, die seit der Frühen Neuzeit vor allem in Form von Horoskopsammlungen, gedrucken wie ungedruckten, tradiert wurden. Die frühneuzeitliche Erhebung, Sammlung und Weitergabe von Horoskopen zur Entschlüsselung der astralen Botschaften erwies sich dabei als ein netzwerkartiges und privates kollektives Unternehmen, dessen archivalische und zirkulatorische Beziehungen nur in Ausnahmefällen öffentlich sichtbar wurden. Das resultierte in einer schwer fassbaren Wirkmacht der Prognosen. Der hier nachgezeichnete Prozess der Weitergabe führte zu dem Ergebnis, dass die englische Übersetzung von Titis 30 Nativitäten umfassender Horoskopsammlung aus dem Jahr 1789 immerhin noch sieben Horoskope enthielt, die aus der Feder Morandis stammten. Die Schwierigkeit der Rekonstruktion eines solchen Rezeptionsverhältnisses verweist zugleich auf ein wesentliches Moment der Gewalt, das einen wichtigen Einfluss auf die Archivierung und Zirkulation astronomischer und biographischer Daten ausübte. Dieses war medialer Natur – durch den Medienwechsel vom Manuskript zum Druck fand eine regelrechte Kassation der handschriftlichen Daten statt. Zwar dürften handschriftliche Daten häufiger in der Weise Eingang in gedruckte Werke gefunden haben, wie es bei den Aufzeichnungen Morandis der Fall war, die von Argoli übernommen wurden, doch wurden sie durch den Medienwechsel quasi unsichtbar. Es steht zudem zu vermuten, dass gedruckte Horoskopsammlungen anders organisiert waren als gedruckte. Da in handschriftlicher Form kein Grund bestand, eine Auswahl zu treffen, waren sie als fortlaufende Datenerhebung angelegt. Erst in publizierter Form stellte sich das Problem der Auswahl und der damit verbundenen Prozesse der Hierarchisierung der Daten sowie der Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Angesichts der rudimentären Erforschung der unpublizierten Horoskopsammlungen kann über die an diesem Prozess beteiligten Formen 99

Vgl. Allen G. Debus, »Scientific Truth and Occult Tradition: The Medical World of Ebenezer Sibly (1751–1799)«, in: Medical History 26 (1982), S. 259–278, hier S. 267.

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der archivalischen Gewalt jedoch nur spekuliert werden. Aufschlussreich wäre in diesem Zusammenhang der Vergleich zu anderen Sammlungen von Beobachtungsdaten des ›Archivs der Natur‹, zumal der astronomischen, die in der Praxis ebenfalls fortlaufend erhoben wurden, jedoch wohl nicht vollständig publiziert oder anderweitig in Umlauf gebracht. Darüber hinaus erblickten die frühneuzeitlichen Astronomen und Astrologen in den Himmelsereignissen Zeichen, welche gewaltsame irdische Ereignisse codierten. So war es nicht verwunderlich, dass die astrologische Zeichenlektüre politische Krisenzeiten und Umbrüche diskursiv wie ein basso continuo begleitete. Die Lektüre der astralen Botschaften am Sternenhimmel erwies sich dabei allerdings nicht zwangläufig als jenes unfehlbare Herrschaftsmittel zur Abwendung politischer Gefahren, als das Titi es so warm empfahl. Denn das Universalarchiv des Sternenhimmels stand auch jenseits des herrschaftlichen Auftrags jeder Privatperson zur Konsultation offen, die sich auf die Lektüre der Zeichen verstand. Die universelle Zugänglichkeit der Daten begründete den potentiell subversiven Charakter der astropolitischen Semiotik, der in der Mehrzahl der hier angeführten Fälle auch realisiert wurde.100 Astronomische wie biographische Daten sowie das Wissen um ihre Interpretation waren darüber hinaus in einem Netz von Privatarchiven organisiert. Die archivalischen Praktiken der Datenerhebung und Speicherung, ihre Deutung und Zirkulation florierten und flottierten außerhalb der Sphäre der herrschaftlichen Gewalt, mit der sie zugleich in einem innigen Verhältnis standen. Denn die gleichermaßen offene wie private Struktur der Zirkulation der Daten übte eine nicht unbeträchtliche Wirkung auf die politische Sphäre aus und veranlasste mehr als einen Potentaten zum gewaltsamen Vorgehen. Sei es, dass die Daten, sei es dass die Herrscher sensibel waren oder beide zugleich – das Archiv des Sternenhimmels war nicht nur eine Informationsquelle für gewaltsame Ereignisse, sondern vermochte diese in Form von politischer Verfolgung, durch Inhaftierung oder Zensur, selbst hervorzubringen.

100

Selbstverständlich gab es jenseits der hier behandelten Fälle auch astrologische Expertisen, die alles andere als subversiv waren – zum Beispiel in Form der astrologischen Panegyrik.

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Das Revolutionsarchiv von 1789 und das Problem der Geschichtsschreibung Gernot Kamecke

Die Frage nach der »Gewalt der Archive« kann als ein Grundproblem der zeitgenössischen Geistes- und Kulturwissenschaften angesehen werden. Einerseits ist die Gewalt als analytisches Kriterium für die Beschreibung der Verfasstheit oder Funktion eines bestimmten Archivs oder Archivdenkens einsetzbar. Andererseits dient das Archiv als begriffliche oder historische Kategorie zur näheren Bestimmung der Gewalt. So markiert der Begriff der Gewalt das Wesen bzw. das »eigentliche Moment« des Archivs, das an den zwei Bedeutungen des Etymons arché festgemacht wird: das unbestimmbar »Archaische« als Anfänglichkeit (commencement) und Autorität bzw. Gesetzeskraft (commandement).1 Der Begriff des Archivs findet dagegen als institutionelles Differenzierungsmoment der »Kritik der Gewalt« Anwendung, wenn es darum geht, den Ebenen der physischen und der symbolischen (strukturellen) Gewalt, deren Aporie vor allem im rechtspolitischen Verhältnis von (legitimer) Macht und Machtausübung durch Gewalt zum Ausdruck kommt, die Ebene einer »transzendenten Gewalt« hinzuzufügen, die eine Unterscheidung zwischen einer unvordenklichen »göttlichen Gewalt« und einer – im Rückgriff auf die Speicher der Überlieferung – zumindest deutbaren »mythischen Gewalt«2 erlaubt. Im Zusammenspiel beider Begriffe verfügt die Philosophie über allgemeine Kategorien des Denkens, die der kritischen Reflexion über die diskursiven und epistemologischen Möglichkeitsbedingungen vor allem der Geschichtsschreibung dienen.

1

2

Jacques Derrida, Mal d’Archive. Une impression freudienne, Paris 1995, S. 11, S. 15–17 und S. 46, Herv. i. O. Sofern nicht anders angegeben, sind die Übersetzungen der fremdsprachlichen Zitate von mir. Walter Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 179–203, hier S. 199 f. Insofern versteht sich das Netzwerk »Gewalt der Archive« als konsequentes Teilstück der Berliner Forschungen zur »Codierung von Gewalt im medialen Wandel«. Vgl. Klaus Scherpe, Thomas Weitin (Hg.), Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik, Tübingen 2003 sowie Daniel Tyradellis, Burkhardt Wolf (Hg.), Die Szene der Gewalt. Bilder, Codes und Materialitäten, Frankfurt am Main 2007.

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1. Gewalt – Archiv – Gedächtnis. Zur Philosophie archivarischer Praxis Im 20. Jahrhundert wurde die philosophische Frage nach der Verknüpfung von Gewalt und Archiv traditionell im Sinne einer Theorie des Gedächtnisses beantwortet. Gemäß den Gründungstexten der zeitgenössischen Archivphilosophie, die aus der Anthropologie und der Psychologie der Jahrhundertwende stammen, enthält die menschliche Erinnerung ein genuines Gewaltmoment: entweder als schmerzhafte Einschreibung von Gedächtnisspuren in den Körper (Nietzsche)3 oder als den Schmerz bekämpfende Verdrängung derselben zum Schutz der Psyche (Freud).4 Das Archiv stellt hier im übertragenen Sinne das Reservoir der sich einbrennenden oder zu vernichtenden Gedächtnisspuren dar. Dieser Begriff des der Gewalt ›verschriebenen‹ Archivs kreuzt sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit einem Archivbegriff, der in einer ebenso metaphorischen Verwendung die Gedächtnisfunktion – nicht im Sinne der körperlichen, sondern der symbolischen Gewalt – als ein »Dispositiv der Macht«5 versteht. Auf der Grundlage einer Verknüpfung beider Metaphern (die es im Übrigen erst erlauben, dass man vom »Archiv im Allgemeinen«6 überhaupt sprechen kann) hat sich die zeitgenössische Archivphilosophie sodann der Archivwissenschaft, die ebenfalls auf eine im 19. Jahrhundert institutionalisierte Diskurstradition zurückblickt, angenähert. So ist der Begriff des Archivs schließlich an die materielle und funktionale Verfasstheit konkreter Archive angepasst worden, wobei sich die Gedächtnistheorie – als technische Variante zur Theorie des »kulturellen Gedächtnisses«7 – in eine Theorie der »Infrastruktur der Macht« bzw. deren Gesetzmäßigkeit transformiert hat. Bei 3

4

5

6 7

Die »Mnemotechnik des Menschen« beruht auf einem Akt der ›unmittelbaren‹ Gewalt: »Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss« (Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 2. Abhandlung, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. V, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 295). Das Bewusstsein des Menschen funktioniert durch eine für die Selbsterhaltung notwendige »Substitution« der (schmerzhaften) »Dauerspuren« des Gedächtnisses. Durch den Prozess der Wahrnehmung muss stets »entweder die aufnehmende Fläche erneut oder die Aufzeichnung vernichtet werden« (Sigmund Freud, »Notiz über den Wunderblock«, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, hg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt am Main 1975, S. 363–369, hier S. 366). Der Referenztext ist Foucaults Archäologie des Wissens, dessen Archivbegriff die »positive Affirmation« eines »historischen Aprioris« erlaubt, d. h. eine grundlegende Kategorie des Denkens für die Möglichkeitsgründe von »Aussagesystemen« bereitstellt, in der die Ordnung des »Erscheinens« von Aussagen (über Gegenstände und Ereignisse) analysierbar wird: »L’archive, c’est la loi de ce qui peut être dit« (»Das Archiv ist das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«) (Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris 1969, S. 170). Ebd., S. 172. Zur Theorie des »kulturellen Gedächtnisses« (in der Folge von Aby Warburg und Maurice Halbwachs), die in die zeitgenössische Archivtheorie einfließt, vgl. Jacques Le Goff, Histoire et mémoire, Paris 1988; Paul Connerton, How Societies Remember, Cambridge, New York 1989 sowie Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

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Wolfgang Ernst z. B. ist das Archiv als eine »Gedächtnismaschine« bzw. ein »Gedächtnismachtapparat« konzipiert, dessen »Aufschreibesystem« auf einer kalkulierbaren (maschinellen) »Logistik« der Präfiguration, Koordination und Administration von »Geschichtserzählungen«8 beruht: Das Archiv ist »das Werkzeug oder Medium einer Produktion namens Geschichtsschreibung«, d. h. »ein ökonomischer Ort der Zirkulation von Symbolen, an dem eine gegebene Gegenwart an die Stelle dessen, was ihr aus diversen Kanälen überkommen ist [...], ein Produkt namens Gedächtnis setzt«.9 Vor diesem theoretischen Hintergrund, der dem zeitgenössischen Archivbegriff eine zentrale Rolle für die philosophische Frage nach den Grundbedingungen europäischer Kulturgeschichte zuweist, ist die Gewaltförmigkeit von Archiven auf drei Ebenen darstellbar: 1.) technisch als Infrastruktur der Speicherung von Wissensdaten, 2.) diskursiv als Quelle und Formvorgabe von Geschichtsschreibung und 3.) politisch als Institution der Macht. Alle drei Ebenen, die heute ganz selbstverständlich als zusammenhängende Paradigmen für die Beschreibung von Archiven und Archivtheorien Anwendung finden, beruhen auf Bedeutungen und technischen Verwendungen, welche ihrerseits Gegenstand einer Theoriegeschichte sind. Die folgende Darstellung der Entstehung des französischen Nationalarchivs aus dem Geist der Revolution von 1789 beruht auf der These, dass sowohl das technische als auch das diskursive und das politische Paradigma des Archivs als Codierung von Gewalt auf epistemologischen Bedingungen beruht, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entweder erst geschaffen oder neu konfiguriert worden sind. 1.) Das technische Paradigma des Archivs als Infrastruktur der Speicherung von Wissensdaten ist das Ergebnis einer im 18. Jahrhundert vollzogenen Neuformierung archivarischer Praxis auf der Basis einer zeitgleich entstehenden systematischen und regelgeleiteten Archivwissenschaft. Die modernen Formen der Organisation und Verwaltung von Archiven beruhen ebenso wie der größte Teil der modernen archivwissenschaftlichen Konzepte und die meisten der heute angewendeten Techniken der Herstellung, Selektion und materiellen Aufbereitung von Archivalien auf »Erfindungen« des 18. Jahrhunderts, die im 19. und 20. Jahrhundert ausdifferenziert wurden. Hierzu gehören die grundlegenden Definitionen der »Archivkörper«, die Unterscheidung in Registraturen, Samm8

9

Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002, S. 23, S. 49, S. 63 und S. 120. Ebd., S. 38. Vgl. auch ders., »Kein Gedächtnis ohne Adresse: Deutsche Archive zwischen Pertinenz und Provenienz«, in: ders., Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – Er/Zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München 2003, S. 564–582. Die skizzierte Entwicklung ist heute eine diskursive Voraussetzung für historisch-archivtheoretische Arbeiten wie z. B. des Bielefelder Forschungsverbunds Archiv–Macht–Wissen, der sich seit 2005 mit dem »Organisieren, Kontrollieren, Zerstören von Wissensbeständen von der Antike bis zur Gegenwart« beschäftigt.

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lungen und Fonds; die Schaffung eines systematischen Registraturwesens durch Archivverzeichnisse, Repertorien, Übersichten und Inventare; die Arten der Lagerung, Ordnung und Signierung (und deren systematischer Strukturierung inkl. der diese bezeichnenden Begriffe der »Tektonik« bzw. der »Architektur«); die Unterscheidung in organisch gewachsene und künstlich geformte Archivabteilungen mit den daraus folgenden Spannungen zwischen Sachprinzip (Pertinenz) und Herkunftsprinzip (Provenienz); sowie schließlich – die vielleicht folgenreichste Erfindung des 18. Jahrhunderts – die Erstellung von Regeln der Kassation. All diese Konzepte und Techniken lassen sich als Folgen eines besonderen wissenschaftsgeschichtlichen Ereignisses darstellen, nämlich der Neugründung des staatlichen Archivwesens in den französischen Archives nationales 1789, das verschiedene Archivfunktionen miteinander vereint. Einerseits beruht die Einrichtung eines zentralen Depots für den »laufenden Geschäftsbedarf« der Revolutionspolitik auf der älteren Praxis der Verwaltungsarchive der Frühen Neuzeit (wobei die Entwicklung des französischen Ancien Régime den Vorläufern des 1540 in Simancas eingerichteten Zentralarchiv der kastilischen Krone und der 1578 geschaffenen State Paper Office in England noch hinterherläuft). Andererseits konzentriert sich die Arbeit der (als Berufsgruppe im 17. Jahrhundert entstehenden) Archivare ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch auf die Zusammenführung und hom*ogenisierung von bestehenden Archivdepots, wobei der ›archivrevolutionäre‹ Moment der durch die »verfassungsgebende Nationalversammlung« vollzogenen Neuschaffung ihres »Zentralarchivs« darauf beruht, dass beide Praktiken an exakt der gleichen Stelle zusammentreffen. Im Verschmelzen zweier Archivprinzipien liegen die technischen Merkmale, die für die »neue Archivperiode nach dem Durchbruch der Französischen Revolution«10 charakteristisch sind. 2.) Das diskursive Paradigma des Archivs als Quelle und Formvorgabe von Geschichtsschreibung ist das Ergebnis eines sich im 18. Jahrhundert vollziehenden Wandels der Funktion archivarischer Praxis. Schon in der Antike wurden zentrale (und im Gegensatz zum Mittelalter sogar zum Teil öffentlich zugängliche) Depots zu Zwecken der Archivierung wichtiger Gegenstände und Schriften eingerichtet, die man für bestimmte Zeiten und ausgewählte politische Gemeinschaften als ›staatliche Archive‹ bezeichnen könnte. Allerdings war deren Funktion entweder ökonomischer Natur (als Sammlung von Kaufverträgen und Urkunden über Land- oder Tierbesitz) – das älteste bekannte Paradigma sind hier die Tontafelarchive aus der dritten Dynastie von Ur – oder aber rechtlicher Natur (als Sammlung von Gesetzestexten und Akten der Rechts10

Adolf Brenneke, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des Europäischen Archivwesens, bearbeitet nach Vorlesungsnachschriften und Nachlasspapieren und ergänzt von Wolfgang Leesch, Leipzig 1953, S. 177. Zu den Begriffen der modernen Archivwissenschaft vgl. ebd. S. 20–43 und S. 90–104.

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sprechung) wie vor allem im Registerwesen der römischen Kaiserzeit.11 Beide Formen der Archivierung unterlagen trotz der für die Zeit Justinians nachweisbaren Unterscheidung in feste und laufende Archive (scrinia statuaria und scrinia viatoria)12 einem reinen »Sachzweck«, der mit der Zeit obsolet werden musste und zur Zerstörung bzw. Weiterverwendung der entsprechenden Gegenstände führte (wodurch die Überlieferung alter Archivbestände überhaupt nur durch besondere ›Unfälle‹ zustande gekommen ist). Im abendländischen Mittelalter verschwinden mit dem Zerfall der großen politischen Mächte auch die Zentralarchive. Im »Zeitalter der Mündlichkeit«13, in dem das gesprochene Wort und durch den Glauben bezeugte Aussagen auch für ökonomische und juridische Angelegenheiten höheren Wert als der geschriebene Text besaßen, war die selten gewordene archivarische Praxis, die lange Zeit nur durch Kirchen und Klöster fortgeführt wurde,14 ohne zentralisierendes oder hom*ogenisierendes Prinzip allein den Geschäftszwecken der die Archive anlegenden Institutionen unterworfen. »Die Lösung der Archive von ihrer Verbindung zur Verwaltung zugunsten der Geschichtswissenschaft«15 ist erst möglich geworden, als die archivarische Praxis auf die (wissenschaftsbasierten) philosophischen Diskurse trifft, die durch das Fortschrittsdenken, das Individualitätsprinzip und eine organische Staatsidee geprägt sind. Spricht man heute von den »drei Zeitaltern der Archive«: »administratif, intermédiaire, historique«,16 so ist die historische Funktion des modernen Archivs erst aus dem Geist des 18. Jahrhunderts 11 12 13

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15 16

Ernst Posner, Archives in the Ancient World, Cambridge (MA) 1972, S. 16 f. und S. 205 f. Jean Favier, Les Archives, Paris 1959, S. 12. Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, S. 370. Der Wert mündlicher Zeugenschaft für die »Geschichtsschreibung« im Mittelalter bleibt von der Tatsache unberührt, dass die mittelalterliche Mündlichkeit, wie man inzwischen weiß, an zentralen Stellen »schriftgestützt« funktioniert haben muss. Vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 72–89. Lange Zeit waren die (geheimnisumwobenen) Archive des Heiligen Stuhls das einzige festansässige »Zentralarchiv« Europas. Die reisenden Könige des Mittelalters hielten sich »mobile Archive« und führten ihre wichtigsten Dokumente stets mit sich. Auslöser für einen Sinneswandel mag in Frankreich die Episode um Philipp II. sein, der 1194 zwischen Tours und Orleans in einen englischen Hinterhalt geraten war und seine Siegeltruhe an Richard Löwenherz verloren hatte. Der Trésor des chartes, der daraufhin provisorisch in der Palastkapelle am Hof von Paris eingerichtet und 1482 zum ersten Mal ›inventarisiert‹ wurde, markiert in gewisser Hinsicht die Wiedergeburtsstunde des staatlichen Archivwesens in Europa, welches jedoch (trotz sporadischer Versuche einiger Gelehrter wie Du Tillet, Dupuy oder Pithou, den Trésor auf königliche Anweisung »in Ordnung« zu bringen) bis ins 18. Jahrhundert vollkommen unsystematisch betrieben worden ist. Vgl. Krzysztof Pomian, »Les Archives. Du Trésor des chartes au Caran«, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire III, 2. De l’archive à l’emblème, Paris 1992, S. 162–233, hier S. 192 f. Ernst, Im Namen von Geschichte, S. 579. Pomian, »Les Archives«, S. 175. Vgl. auch das von der Association des archivistes français herausgegebene Manuel d’archivistique. Théorie et pratique des Archives publiques en France, Paris 1991, S. 103 f.

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heraus denkbar. Vor 1750 wäre ein Geschichtsschreiber (der noch kein Historiker war) kaum auf die Idee gekommen, in einem Archiv nach ›Dokumenten‹ für seine ›Erzählung‹ zu suchen (und nicht in Annalen bzw. vorangegangenen Geschichtserzählungen).17 Ebenso wenig wären jenseits privater Sammlungen Gegenstände allein zu dem Zweck potentieller Nützlichkeit für die Historiographie archiviert worden. Als Prototyp eines historischen Archivs gilt in Frankreich das 1764 eingerichtete Cabinet des Chartes, in dem Urkunden ohne Gebrauchswert allein aufgrund des Alters, das man im 18. Jahrhundert wissenschaftlich wertschätzen lernte, gesammelt wurden. Systematisiert findet sich auch dieses Prinzip erst in den Archives nationales. Der Paradigmenwechsel der Archivfunktion, der die historiographische Quellendokumentation als eigenständigen und für den Historiker nunmehr »unausweichlichen«18 Zweck – neben dem seit 1789 hauptsächlich staatspolitischen ›Geschäftszweck‹ – etabliert hat, ist ein komplexer diskursiver Gegenstand, der nicht allein mit der technischen (sich zentralisierenden, hom*ogenisierenden und Regeln etablierenden) Entwicklung des Archivs zusammenhängt, sondern auch mit der sich in der Zeit ebenfalls vollziehenden Erneuerung der Geschichtsschreibung als Wissenschaft. Reinhart Koselleck hat gezeigt, wie genau in dieser von ihm »Sattelzeit« genannten Epoche, in der wir auch die Veränderung der Archivfunktionen beobachten, überhaupt erst eine »historiographische Erschließung der geschichtlichen Welt« einsetzt. Der epistemologische Wandel der Geschichtswissenschaft hat erhebliche Konsequenzen für die Philosophie und die sich mit ihr institutionalisierenden »neuen Wissenschaften« vom Menschen und seiner Kultur. Seine wichtigsten Errungenschaften waren die Herausbildung eines Begriffs der Geschichte als solcher (im Kollektivsingular) und damit die Herauslösung einer immanent erlebten und durch Menschen gestalteten Zeit aus den Zusammenhängen der Teleologie und der Heilsgeschichte. Hierdurch wurde es möglich, Geschichte als einen durch eigene Kräfte angetriebenen »Prozess« zu begreifen, der sich sodann – auf der Suche nach einem neuen »Sinn« – für die bekannte Bandbreite erkenntnistheoretischer und letztlich politischer Interpretationen geöffnet hat.19 Die neue 17 18

19

Paul Veyne, Comment on écrit l’histoire (1971), Paris 2006, S. 114 f. »Les archives sont devenues [...] la source indispensable de tout travail historique« (»Die Archive sind die unverzichtbare Quelle jeder historischen Arbeit geworden«) (Favier, Les Archives, S. 39). Und umgekehrt: »La mission essentielle de l’administration des Archives est la conservation et la communication de tous les documents qui peuvent servir à écrire l’Histoire« (»Die wesentliche Aufgabe der Verwaltung von Archiven besteht in der Bewahrung und der Kommunikation aller Dokumente, die dazu dienen können, Geschichte zu schreiben«) (Pomian, »Les Archives«, S. 177). »Mit dem Begriff der Geschichte schlechthin wird die Geschichtsphilosophie freigesetzt, innerhalb derer die transzendentale Bedeutung von Geschichte als Bewusstseinsraum und von Geschichte als Handlungsraum kontaminiert werden« (Reinhart Koselleck, »Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt

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Form der Geschichtswissenschaft, die aus einem solchen Geschichtsbegriff erwachsen ist, ist mit dem diskursiven Paradigma des Archivs als dessen technischer Formvorgabe untrennbar verbunden, insofern die »historiographische Erschließung der geschichtlichen Welt« auf einem Prinzip der schriftgebundenen Nachprüfbarkeit beruht und den Begriff der historischen Quelle für Techniken philologischer Textexegese verfügbar macht. Das Archiv ist nunmehr der Ort und das Medium, in dem der Historiker jener »produktiven Spannung zwischen der Theorie einer Geschichte und ihrem Quellenbefund«20 ausgesetzt wird, die zur Grundlage jeder quellengebunden Geschichtserzählung geworden ist. Es reguliert die Quellensprache für die Geschichte, um deren Erkenntnis es geht. 3.) Das politische Paradigma des Archivs als einer Institution der Macht ist schließlich eine unmittelbare Folge der Verschmelzung von technischem und diskursivem Funktionswandel archivarischer Praxis, die mit der Einrichtung des »Nationalarchivs« zu Beginn der Revolution zu einer systematisch strukturierten, an einem repräsentativen Ort zusammengeführten und zentral kontrollierten (und aus diesem Grund sehr treffend »lieu de mémoire« genannten) Institution der Gedächtnispolitik führt. Aus der diskursiven ›Verschaltung‹ einer neuen archivarischen Praxis und einer neuen Philosophie der geschichtlichen Zeit entsteht das Zentralarchiv als politisches Organ einer Nation (gemäß dem ersten Verständnis der französischen Revolutionäre und ihrer Nachfolger) bzw. eines Staates. Das Archiv ist nunmehr der Ort, an dem der Staat über seine Vergangenheit verfügt bzw. deren Verfasstheit reguliert und kontrolliert. Die Gesetzgebung der Gedächtnisinstitution, das »Régime des archives«, das 1789/90 ausformuliert wurde, entspricht in den Grundzügen noch heute in Frankreich geltenden Gesetzen.21 Dementsprechend hat die »Direction des archives de France« die Mission,

20

21

am Main 1989, S. 130–143, hier S. 130). Zur epistemologischen Bestimmung der Sattelzeit vgl. auch ders., »Einleitung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII. Reinhart Koselleck, »Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt«, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 176–207, hier S. 204. Vgl. »Loi n° 79-18 du 3 janvier 1979 sur les archives«, in: Journal officiel, 05.01.1979: »Les archives sont l’ensemble des documents, quels que soient leur date, leur forme et leur support matériel, produits ou reçus par toute personne physique ou morale [...] La conservation de ces documents est organisée dans l’intérêt publique tant pour les besoins de la gestion et de la justification des droits des personnes physiques ou morales, publiques et privée, que pour la documentation historique de la recherche« (»Archive sind die Gesamtheit aller Dokumente jedes Alters, jeder Form und jedes medialen Trägers, die von Personen oder Körperschaften hergestellt oder erhalten werden [...] Die Konservierung dieser Dokumente wird im öffentlichen Interesse durchgeführt und dient sowohl der Verwaltung und des Nachweises privater oder öffentlicher Rechte von Personen oder Körperschaften als auch zur historischen Dokumentation der wissenschaftlichen Forschung«).

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die öffentlichen Archive, die das Gedächtnis der Nation und einen wesentlichen Teil ihres historischen Kulturguts darstellen, zu verwalten und zu kontrollieren, [...] die privaten Archive, die in historischer Hinsicht von öffentlichem Interesse sind, zu bewahren [...] und die Erhaltung, die Sortierung, die Klassifizierung, die Inventarisierung sowie die Bereitstellung öffentlicher Archive zu administrativen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen oder kulturellen Zwecken zu gewährleisten.22

Im Hinblick auf die Zentralisierung und hom*ogenisierung als Grundprinzipien sowohl der Archivtechnik als auch der Rechts- und Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts folgen – trotz aller politischen (oder subtiler: archivtheoretischen) Vorbehalte gegenüber Frankreich, die vor allem in Deutschland, Holland und Österreich vorgebracht worden sind – die übrigen europäischen Zentralarchive einvernehmlich dem Modell der Archives nationales als paradigmatischer Institution. Kein Staat, gleich welcher Regierungsform, wird mehr auf die Errungenschaft verzichten, von einer bestimmten Stelle aus den Gegenstand seiner eigenen Geschichte zu regulieren (oder diese Fähigkeit zu politischen Zwecken zumindest zu suggerieren). Das durch die zeitgenössische Archivphilosophie benannte Machtgefüge, das in der Institution des Zentralarchivs entstanden ist, wird in den (wissenschaftlich optimierten) Regulativen ihrer Verwaltung ersichtlich. Mit der Verwaltung werden seither professionelle (verbeamtete) Staatsdiener betraut, die – an ebenfalls staatlich kontrollierten Lehranstalten dafür ausgebildet – nicht nur für die »Aufbewahrung, Erhaltung, Erschließung« der Archivalien verantwortlich sind, sondern auch den Zugang zur Institution des Archivs regulieren (der trotz des ursprünglich in die Archivgesetzgebung eingeschriebenen Geistes der Öffentlichkeit bis heute bei weitem nicht jedem gewährt wird), wodurch sie faktisch auch die Verfügungsgewalt über die jederzeit begrenzbare Bereitstellung des »Gedächtnismaterials« oder der Quellen der Geschichtsschreibung erhalten. Aus dieser Konstellation ergibt sich der heute geläufige Konflikt zwischen den Archivaren und den Historikern um die

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»De gérer ou de contrôler les archives publiques qui constituent la mémoire de la nation et une part essentielle de son patrimoine historique [...] de sauvegarder les archives privées présentant du point de vue de l’histoire un intérêt public [...] d’assurer la conservation, le tri, le classem*nt, l’inventaire et la communication des archives publiques à des fins administratives, scientifiques, sociales ou culturelle« (Decret du 23 octobre 1979 [1. Artikel], zitiert in: Pomian, »Les Archives«, S. 163). Die technische Definition der Archive aus der heutigen Sicht der deutschen Archivwissenschaft gleicht der französischen im Übrigen bis in den Wortlaut hinein: »Archivierung ist die [...] Ordnung und dauernde Aufbewahrung, Erhaltung, Erschließung und Bereitstellung von Schriftzeugnissen zu historiographischen, juristischen, administrativen und ökonomischen Zwecken« (Axel Behne, »Archivierung von Schriftgut«, in: Hartmund Günther, Otto Ludwig [Hg.], Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin, New York 1994, S. 146–158, hier S. 146).

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Diskurshoheit in der Apparatur der Gedächtnismacht.23 Zugleich ergibt sich aus dieser Rivalität aber auch, wie Sonia Combe herausgearbeitet hat, eine »gefährliche« Verflechtung innerhalb dieses Machtgefüges, die es geradezu ausschließt, »dass historische Wahrheiten aufgeschrieben werden können«: Die Konkurrenz zwischen den beiden »bewaffneten Armen« des Staates, den Archivaren und den Historikern, entspräche letztlich einer Koalition aus einer »Prätorianergarde« von Archivaren, die die Geschichte »konfiszieren« (d. h. über die Regeln der Kassation entscheiden) und einer »Offiziersklasse« von Historikern, die sich noch heute einen privilegierten Zugang zu den Orten dieser Konfiskation durch Obedienz gegenüber dem staatsgefälligen Vergangenheitsdiskurs erkauften.24 Jedenfalls ist unbestreitbar, dass ein »secret des princes«25 – dem revolutionären Ursprungsgeist zum Trotz – das Prinzip jeder Form von zentral organisierter archivarischer Praxis ist, worin sich im Übrigen, wenn man z. B. sensible Teile der jeweiligen Vergangenheiten berührt, die totalitären Staaten von den demokratischen kaum unterscheiden.

2. 1789 und die Archives nationales. Zur Genesis der Archivgewalt Fasst man die Ebenen der Technik, des Diskurses und der Politik als Paradigmen der Archivphilosophie zu einer Gesamtidee der komplexen Gewaltförmigkeit von Archiven als einer Möglichkeitsbedingung europäischer Kulturgeschichte zusammen, so kristallisiert sich bei genauerer Betrachtung der historischen Entwicklungsstränge ein Ursprungsereignis heraus, welches zugleich auslösendes Moment und Katalysator der modernen Archivgeschichte ist. Dieses Ereignis, der Gründungsakt

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Im 20. Jahrhundert hat sich innerhalb des Berufsstands der Archivare (in Frankreich wie in Deutschland) ein besonderes Bewusstsein für die gesellschaftspolitische Bedeutung ihrer vermeintlich nur technischen Tätigkeit herausgebildet. Die (symbolische) Macht der Archivare kommt durch den Anspruch der zeitgenössischen Archivwissenschaft zum Ausdruck, sich nicht länger als Mittler oder Hilfskraft, sondern – unter Verweis auf die notwendige Vorbedingung des Archivs für die Geschichtsforschung – als die ›eigentliche‹ Geschichtswissenschaft zu verstehen: »Überlieferung, das ist die Gesamtheit der vorliegenden Zeugnisse geschichtlichen Geschehens, das sind die aufspürbaren Informationsträger vergangener Ereignisse. Soweit es sich um Texte handelt, die im gesamtgesellschaftlichen – im weitesten Sinne – politischen Prozeß anfallen, sind es Materialien, die in Archiven aufgehoben werden, vorausgesetzt, der Archivar hat es für würdig befunden, für dauernd darin Platz zu finden« (Hans Booms, »Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik archivarischer Quellenbewertung«, in: Archivalische Zeitschrift 68 [1972], S. 3–40, hier S. 7 f., Herv. i. O.). Die »archetypische Tätigkeit des Archivars« sei die »Überlieferungsbildung«, welche letztlich also auf die Entscheidung darüber hinauslaufe, »welche Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens mittels ihrer Informationsträger überliefert werden und damit der Erinnerungsmöglichkeit der Gesellschaft erhalten bleiben« (ebd., S. 12). Sonia Combe, »La loi du silence«, in: dies., Archives interdites. Les peurs françaises face à l’histoire contemporaine, Paris 1994, S. 77–170, hier S. 122–133 sowie S. 145–165. Ebd., S. 80.

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des französischen Nationalarchivs, ist für die Archivgeschichte so gewaltig, dass sich die nachfolgenden Entwicklungen, die während der Zeit der Revolution, der ersten Republik, der großen Schreckenszeit und des Direktoriums bis zum Ende des Konsulats Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen um die Theorie und noch gewaltigerer Eingriffe in Bestand und Organisation des Archivs waren, als erzwungene Folgeereignisse erweisen. Insofern ist die Entstehungsgeschichte der Archives Nationales nicht nur ein zentrales Beispiel für die Frage nach der »Gewalt der Archive«, sondern stellt vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse der Französischen Revolution auch eine besondere archivtheoretische Schnittstelle zwischen den beiden (diese Frage erst ermöglichenden) Paradigmen der Zeit dar: Geschichte machen und Geschichte aufschreiben. Die Form, die Funktion und die Organisation der Archive lassen sich auf eine gemeinsame Szene der »Geburt« zurückführen: »Les Archives nationales [...] sont nées de la Révolution«.26 Nur 15 Tage nach dem Sturm auf die Bastille beschließt die »verfassungsgebende Nationalversammlung«, die erste revolutionäre Institution nach dem Scheitern der Generalstände, die Installation eines eigenen Archivs. Noch vor den Initiativen zur eigentlichen Verfassung (selbst die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erfolgte erst am 26. August) verabschiedete die Versammlung am 29. Juli 1789 – dem Zeitpunkt ihrer urkundlichen Selbstkonstitution – eine »Satzung« in sechs Artikeln, welche die Einrichtung eines »Sekretariats«, dessen Verwaltung und die archivarische Fixierung der eigenen (zukünftigen) Geschichte verankerten: 1. Es wird ein sicherer Ort für die Deponierung aller Originalschriften mit Bezug auf die Geschäftsvorgänge der Versammlung ausgewählt, und es werden verschließbare Schränke aufgestellt, mit drei Schlüsseln, von denen einer dem Präsidenten, der zweite dessen Sekretär und der dritte dem Archivar ausgehändigt wird. Letzterer wird von den Mitgliedern der Versammlung per Mehrheitsbeschluss gewählt. 2. Jede der Versammlung vorgelegte Originalschrift wird zunächst von einem Büroangestellten kopiert [...] Das Original wird sodann im Archiv deponiert und im entsprechenden Register vermerkt. 3. Eines der beiden Originale der Protokolle [der Sitzungen der Versammlung] wird ebenfalls im Archiv deponiert [...]. 4. Die erledigten Schriftstücke und alle Akten, die im Sekretariat deponiert werden, werden dort nach Gegenstand und Datum geordnet und in Bündeln und Kartons aufbewahrt [...]. 5. Einmal im Monat, zum Zeitpunkt der Ablösung der Sekretäre, werden alle Schriftstücke überprüft, die sich im Sekretariat befinden müssen. 6. Vor dem Ende der [laufenden] Sitzung wird über die Auswahl des Depots und über die Sicherheit der nationalen Titel und Papiere entschieden.27 26

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»Die Revolution gebiert [...] das Nationalarchiv« (Lucie Favier, La mémoire de l’Etat. Histoire des Archives Nationales, Paris 2004, S. 9). »1. Il sera fait choix [...] d’un lieu sûr pour le dépôt de toutes les pièces originales relatives aux opérations de l’Assemblée, et il sera établi des armoires fermantes à trois clefs, dont l’une sera entre

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Der Wortlaut dieser ersten Deklaration, in dem die Abstimmungspraxis der neuen Demokratie mit den Topoi der Schatzkammer und der drei Schlüssel noch auf heroisch entrückte Weise verknüpft ist, spiegelt das Selbstbewusstsein und den festen Glauben an die Zukunft der Eigenbehauptung wider. Zudem werden hier die Techniken der Archivierung dieser Zukunft – Verwaltungshierarchie, Objektdefinition, Aufbereitungsmaterial, Verteilung und Registratur – auf folgenreiche Weise vorgezeichnet. Die moderne Idee des »Nationalarchivs« ist hier ex nihilo zum ersten Mal ausgesprochen und aus dem revolutionären Elan heraus sofort in die Tat umgesetzt worden. Noch am 4. August 1789, in der gleichen denkwürdigen Sitzung, in der auch die Abschaffung der Adelsprivilegien und des Feudalrechts beschlossen wurde, wählte die Nationalversammlung ihren ersten Archivar in der Person des 49-jährigen Abgeordneten des Dritten Standes Armand-Gaston Camus. Camus stammte aus einer angesehen Advokatenfamilie, war selbst Jurist und Philologe, Übersetzer von Aristoteles und Epiktet, zudem Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres und arbeitete als Rechtsanwalt am Parlement de Paris, bevor er Abgeordneter der Nationalversammlung wurde. Der neue Archivar der Revolution, der erste Archivar im modernen Sinne überhaupt, behielt seine Funktion durch alle Etappen und politischen Umstürze der revolutionären und postrevolutionären Epoche hindurch bis zu seinem Tod 1804.28 Seine 15-jährige Tätigkeit zeugt von einer bemerkenswerten Kontinuität in dieser extrem instabilen Zeit. Als verbissener Republikaner kämpfte er für die ›Nationalisierung‹ der kirchlichen Besitztümer, war zudem Mitglied des Nationalkonvents und des Wohlfahrtsausschusses, stimmte für die Guillotinierung Ludwigs XVI. und fungierte als Kommissar des Konvents zur Beaufsichtigung der Nordarmee.29 Die Tatsache, dass

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les mains du président, la seconde en celles d’un des secrétaires, et la troisième en celles de l’archiviste, qui sera élu entre les membres de l’Assemblée au scrutin et à la majorité. 2. Toute pièce originale qui sera remise à l’Assemblée sera d’abord copiée par l’un des commis du bureau [...] L’original sera, aussitôt après, déposé aux archives, et enregistré sur un registre destiné à cet effet. 3. Une des deux minutes originales du procès-verbal sera pareillement déposée aux archives [...] 4. Les expéditions de pièces et autres actes qui seront déposés au secrétariat y seront rangés par ordre de matières et de dates, en liasses et cartons [...] 5. Tous les mois, lors du changement des secrétaires [...], il sera fait un récolement des pièces qui doivent se trouver au secrétariat. 6. L’Assemblée avisera, avant la fin de la session, au choix du dépôt et à la sûreté des titres et papiers nationaux« (Jean-Baptiste Duvergier [Hg.], Collection complète des lois, décrets, ordonnances, règlemens et avis du Conseil d’État depuis 1788 jusqu’à 1824, Paris 1834–1845, Bd. 1, S. 32). Die ausführlichste Vita Camus’, dessen Rolle als (vermeintlich nur technischer) Verwalter des politischen Geschäftsverkehrs der Revolution stets unterschätzt worden ist, präsentiert Pierre Préteux, Armand-Gaston Camus, avocat, premier garde général des Archives nationales, membre de l’Institut, 1740–1804, Paris 1932. Auf einer Mission als Kommissar in Belgien wird Camus durch General Dumouriez, den er hätte beaufsichtigen sollen, 1793 gefangen genommen, an die Österreicher ausgeliefert und 1795 im Tausch gegen die Tochter von Marie-Antoinette und Ludwig XVI. wieder freigekauft. Diese Episode zeigt nicht nur den Wert, den der Archivar für die Nation besaß, sondern erklärt – durch die

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Camus noch unter Napoleon als geradezu einziger Republikaner und ›Ideologe‹ (im Sinne von Destutt de Tracy) das Amt behielt, demonstriert die Bedeutung des ersten Archivars für die politischen ›Geschäftszwecke‹ der postrevolutionären Regierungen (für die Jakobiner ebenso wie für Konsul und Kaiser). Camus ist, wie man in Anlehnung an Alain Badiou sagen könnte, ein erzwungenes Subjekt der Treue gegenüber dem Archivereignis. Ihm allein traute man zu, durch Beharrlichkeit und Improvisation den durch die revolutionäre Archivpolitik immer chaotischer werdenden Zuständen des Archivs Herr zu werden. Die große Herausforderung war nicht die Organisation der laufenden Archive, deren technische Implementierung in der Satzung vom 29. Juli 1789 festgeschrieben worden war, sondern der Umgang mit bestehenden Archiven (bzw. archivähnlichen Sammlungen) des Ancien Régime, deren Papiere zum Gegenstand der revolutionären Geschäftsinteressen wurden. Mit der Abschaffung des Feudalrechts und der Adelsprivilegien entstand in kürzester Zeit ein großer politischer Druck, über die im ganzen Land verstreuten Titel und Landbesitzurkunden des ehemaligen Adels und Klerus zu verfügen, sei es zu Zwecken der Besitzaneignung oder aber – mit zunehmender Radikalisierung der regierenden Kräfte – auch der »Ausmerzung aller Spuren eines verhassten Regimes«.30 Die Notwendigkeit einer regelgeleiteten Realisierung dieses politischen Desiderats, die sich als (besonders schmerzhafte) Geburtsstunde der historischen Funktion des Archivs erweisen sollte, wird dadurch deutlich, dass der Archivar der Revolution bereits 1790 ein Dekret in die Nationalversammlung einbrachte, das die in die Hauptstadt transportierten »Archive« hom*ogenisieren, Grundsätze zur »Verwendung, Aufbewahrung, Überschreibung oder Kassation« aufstellen und zumindest die in Paris befindlichen Depots an einem Ort zusammenfassen sollte.31 Es ist unbekannt, wie viele ›Archivalien‹ in den ersten Revolutionsjahren transportiert, geschweige nach welchen Kriterien sie getrennt, verwertet oder zerstört worden sind. Man kann über die Menge nur Mutmaßungen anstellen und die Improvisationskünste bewundern, mit denen Camus und seine vier, später sechs Sekretäre versuchten, gesetzeskonforme ›Bündel‹ und ›Kartons‹ zu schnüren und das angestrebte Zentralarchiv an den verschiedensten Orten einzurichten: zunächst in einem Saal der Constituante in Versailles, dann in Camus’ eigener Pariser Kanzlei, ab Oktober 1790 im ehemaligen Kapuzinerkloster

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vorübergehende Abwesenheit der ordnenden Kraft – auch einen Teil der gerade in dieser Zeit besonders desaströsen Geschichte des Revolutionsarchivs. Henri Bordier, Les Archives de la France ou Histoire des Archives de l’Empire, des Archives des Ministères, des Départements, des Communes, des Hôpitaux, des Greffes, des Notaires etc. contenant l’inventaire d’une partie de ces dépôts, Paris 1855 (Reprint Genf 1978), S. 6. Das Vorhaben wurde im Dekret vom 7. August 1790 (mit der Zusammenlegung der Pariser Depots) nur teilweise umgesetzt. Insbesondere die geordnete Erforschung und Zusammenführung der Depots außerhalb von Paris wurde hier noch nicht durchgesetzt, vermutlich weil die Zuständigkeit nicht der Nationalversammlung, sondern unmittelbar dem Zentralarchiv (Camus) zugewiesen sein sollte.

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der Rue Saint-Honoré, ab April 1793 zusammen mit der gesetzgebenden Nationalversammlung im Tuilerien-Palast.32 Während die Organisation der »laufenden« Geschäftsarchive vergleichsweise problemlos durchgeführt und mit dem Gesetz vom 12. September 1790 bis in die Einzelheiten – Archivdefinition, Name, Stempel, Öffnungszeiten, Wohnort und Bezahlung des Archivars etc.33 – festgelegt werden konnte, dauerte die gesetzliche Implementierung der Zentralisierung, hom*ogenisierung und damit der Sichtung, Inventarisierung und Kassation der bestehenden »Fonds« trotz verschiedenster Vorlagen Camus’ bis zum berühmten Dekret des 7. Messidor des Jahres II (25. Juni 1794). Mit diesem Gesetz, das die 1789 eingeführte Praxis des Umgangs mit den »titres et papiers« des Ancien Régime sanktioniert – und zugleich Funktionsweise sowie Ausmaß des ›Nationalisierungsprozesses‹ der Archive zum ersten Mal aktenkundig werden lässt –, wird eine Agence temporaire des titres eingerichtet, die (nach der Rückkehr Camus’ aus der österreichischen Gefangenschaft) mit dem Arrêté du 5 floréal an IV (24. April 1796) den Namen Bureau du triage des titres erhält und die zukünftige, zentral gesteuerte Verfahrensweise mit allen bestehenden Archiven (oder als solchen definierten ›Sammlungen‹) des ganzen Landes durch einen einzigen, im Prinzip sehr einfachen Dreischritt festlegt. Zunächst nur auf die in Paris befindlichen (bzw. nach Paris transportierten) Titel angewendet, verfügt der Beschluss, »sämtliche Dokumente« systematisch zu durchforsten und sodann drei verschiedenen Kategorien zuzuordnen. Die erste Kategorie ist die der »nützlichen Papiere«: »des papiers utiles, destinés à entrer dans les sections domaniale et judiciaire des Archives de la république« – dies ist das seit 1789 fortlaufende Geschäftsarchiv der Revolution (dem die ökonomisch interessanten Rechtstitel des Ancien Régime einverleibt werden); die zweite Kategorie ist die der »nutzlosen Papiere«: »des papiers sans aucun intérêt pour les propriétés de l’Etat et des particuliers, ou purement féodaux, destinés à la destruction« – dies ist das zur Vernichtung bzw. zur Wiederverwertung von wertvollen Schriftträgermaterialien freigegebene ›Archiv‹ (welches für immer der ›Geschichte‹ entzogen wird); die dritte Kategorie ist die der »Dokumente von historischem Interesse«: »des chartes et manuscrits appartenant à l’histoire, aux sciences et aux arts, ou pouvant servir à l’instruction«34 – dies ist die zukünftige Abteilung der »monuments historiques« (Séries K–KK) des heutigen Nationalarchivs. Die letzten beiden Kategorien, »nutzlose Papiere« bzw. »Dokumente von historischem Interesse«, schreiben den Binärcode einer legislativen »Verfügungsgewalt«

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Im Jahr 1800 wurde das Nationalarchiv in den Palais Bourbon (Place de la Concorde) transportiert, bevor es 1808 im Hôtel de Soubise unterkam. Vgl. Bordier, Les Archives de la France, S. 26 f. Im Hôtel de Soubise, das heute das Musée de l’Histoire de France beherbergt, blieben die Archives nationales bis zur Neustrukturierung von 1988. Duvergier, Collection complète des lois, S. 362 f. Loi du 7 messidor an II (Artikel 15–28), zitiert in: Bordier, Les Archives de la France, S. 9.

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über die vor 1789 entstandenen Archivalien, die bis weit in die Zeit des Napoleonischen Kaiserreichs hinein über die Existenz oder Nichtexistenz von historischen Quellen aus dem Ancien Régime entscheiden wird.35 In der Praxis muss man sich eine Handvoll ›Experten‹ vorstellen, die unter dem Einfluss antagonistischer Direktiven aus den unterschiedlichsten politischen Richtungen Tag für Tag provisorisch verstaute Dokumente durchforsten und unter starkem Zeitdruck festlegen, ob ein Papier in der Zukunft von wissenschaftlichem, künstlerischem oder allgemein ›historischem‹ Interesse sein wird und im Archiv zu deponieren ist (1) oder ob es vernichtet wird (0). Die Kriterien, nach denen die Festlegungen getroffen werden, sind trotz der methodischen Strenge – die das Frühstadium der ›regelgeleiteten‹ Archivwissenschaft als eine besondere, den Umständen der Zeit geschuldete Konfrontation von Theorie und Praxis ausweist – unausweichlich einem bestimmten Grad der pragmatischen Improvisationskunst, besser: der Willkür geschuldet.36 Die Konstitutionsgeschichte des historischen Archivs beruht in ihrem Gründungsmoment auf notwendiger Gewalt. Das Ausmaß der nunmehr ›Kassation‹ genannten Zerstörungen, die den Archiven tatsächlich zugefügt worden sind, ist bis heute Gegenstand heftiger und häufig vorurteilsbehafteter Auseinandersetzungen unter Historikern und Archivwissenschaftlern. Mit Sicherheit weiß man nur, dass bestimmte Fonds wie der alte Trésor des chartes und die Archive des Parlement de Paris gar nicht ›sortiert‹ worden sind. In der Epoche von 1789 bis 1794 ist die (meta-archivische) Quellenlage so spärlich, dass man nur indirekte Berichte von unbeteiligten Zeugen heranziehen kann, die allerdings, vor allem in den Jahren des »Terrors«, auf erhebliche Zerstörungen z. B. durch öffentlich veranstaltete Titelverbrennungen37 hinweisen. Für die Epoche zwischen 1794 und 1801, dem Jahr, als das Bureau du triage des titres mit dem 35

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Vgl. Pierre Santoni, »Archives et violence. A propos de la loi du 7 messidor an II«, in: La Gazette des archives 146–147 (1989), S. 199–214. Der Binärcode der Existenz bzw. Nichtexistenz historischer Archive ist gleichsam eine ›Sprache des Rests‹, die dem ursprünglichen Dreischritt eingeschrieben ist und über den Grad der Nutzlosigkeit von Geschäftsarchiven befindet. Das Problem von »Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall« ist hier auf ursprüngliche Weise mit der »Maßstäblichkeit der historischen Erkenntnis« verknüpft. Vgl. Arnold Esch, »Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers«, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570, hier S. 529. Auf ein solches ›archivoklastisches‹ Massenereignis lässt z. B. der folgende Bericht eines Graveurs namens Wille vom 19. Juni 1792 schließen: »Ce jour, une immense quantité de volumes de noblesse fut brûlée, à la place Vendôme, devant la statue de Louis XIV. J’y allais le jour et vis encore la cendre ardente. Il y avait beaucoup de monde à l’entour qui s’y chauffait les pieds et les mains, car il faisait un vent du nord très froid, et je m’y chauffai comme les autres« (»An diesem Tag wurde auf der Place Vendôme vor der Statue von Ludwig XIV. eine riesige Menge adeliger Bücher und Papiere verbrannt. Ich bin bei Tag dorthin gegangen und sah noch die glühende Asche. Viele Leute standen darum herum und wärmten sich die Hände und die Füße, denn es herrschte ein sehr kalter Nordwind. Ich wärmte mich wie die anderen«) (François Souchal, »Le vandalisme contre les archives«, in: ders., Le vandalisme de la Révolution, Paris 1993, S. 262–272, hier S. 263).

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Arrêté du 5 pluviôse an IX aufgelöst wurde – dessen Personal sodann mit der Einrichtung des Bureau des monuments historiques (der späteren Section historique) der Archives nationales beauftragt wurde –, stehen zumindest die Berichte des Kassationsbüros selbst sowie einige Beschwerdepetitionen und entsprechende Gutachten zur Verfügung, die wir dem fortwährenden Streit zwischen Camus und seinen Angestellten verdanken. Daraus ließ sich errechnen, dass allein in Paris 392 »dépôts, archives ou chartriers«38 sortiert, also ihre Elemente dem Geschäftsarchiv, dem historischen Archiv oder dem Nichts überantwortet worden sind. Das Problem der Quantifizierung der revolutionären Archivgewalt besteht aber vor allem auch darin, die Zahl der existierenden Archive (»dignes de ce nom«) für das ganze Land anzugeben – die Archivistik des 19. Jahrhunderts geht von bis zu 10.000 aus39 – und die von Paris dirigierte, aber unzureichend kontrollierte Vorgehensweise des triage in den Zentren der neu geschaffenen Départements nachzuvollziehen. In jedem Fall ist festzuhalten, dass die gewaltförmige Konstitutionsgeschichte der Archives nationales auch eine Spaltung des archivhistorischen Diskurses mit generiert hat. Die eine Seite hebt das »schmerzliche Spektakel eines schändlichen Vandalismus« hervor und beschreibt ideologisch indoktrinierte Kassateure, die Archivalien ›massenweise‹ dem Feuer überlassen hätten und deren »revolutionärer Zerstörungswut« fast das gesamte »Patrimonium der jahrhundertealten Geschichte Frankreichs« zum Opfer gefallen sei.40 In dieses Lied der Destruktion stimmen auch die einflussreichen Historiker des 19. Jahrhunderts gerne ein, allen voran Jules Michelet, der – trotz seiner grundsätzlichen Sympathie für die Epoche – die Archivpolitik der Revolution als die inkompetenteste und korrupteste aller Politiken der Revolution beschreibt: »Die Pergamente hatten ebenfalls ihr Revolutionstribunal, Bureau du triage des titres genannt, ein Tribunal der Schnellverfahren, das schreckliche Urteile fällte. Eine Unzahl von Denkmälern wurde durch ein Wort zum Tod verurteilt: Feudaltitel, kaum so genannt, schon vernichtet«.41 Die Gegenposition, die ebenfalls im 19. Jahrhundert von den politischen Verteidigern 38

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Davon gehörten »142 der Verwaltung, den Gerichten und Kanzleien, sowie den Ausbildungsstätten; 124 den Klöstern, Ordensgemeinschaften und Abteien, 100 den Pfarrgemeinden, Fabriken, Kapiteln, Kapellen, Seminaren und den 26 Hospizen und Hospitälern« (Pomian, »Les Archives«, S. 186). Eine wertvolle Quelle ist das Tableau indicatif des Dépôts, Archives et Chartriers existant à Paris, o. D. (1794 oder 1795), Archives nationales AB VC 1. Léon de Laborde, »Introduction«, in: ders., Jules Tardif (Hg.), Archives de l’Empire: Inventaires et documents publiés par ordre de l’Empereur: Monuments historiques, Paris 1866 (Reprint »avec la permission de la Direction des Archives de France«, Nendeln [Liechtenstein] 1977), S. I–CXIV, hier S. V. Im Durchschnitt seien in den durchforsteten Depots (von Paris) auf tausend Dokumente nur ca. ein Dutzend erhalten worden. Vgl. ebd., S. LXIII f. »Les parchemins eurent aussi leur tribunal révolutionnaire sous la dénomination de Bureau du triage des titres; tribunal expéditif, terrible dans ses jugements; une infinité de monuments furent frappés d’une qualification meurtrière: titre féodal; cela dit, c’en était fait« (Jules Michelet, Histoire de France, Paris 1852–1863, Bd. 2, S. 700, zitiert in: Bordier, Les Archives de la France, S. 326).

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der Revolution vorgebracht wird42, aber auf eigentümliche Weise mit dem bis heute maßgeblichen Diskurs der französischen Archivwissenschaft zusammentrifft, hebt die wegweisende Genialität und die Präzision der beginnenden Archivwissenschaft hervor, der es unter widrigsten Umständen (dank der Tatkraft und Standhaftigkeit Camus’) gelungen sei, das historische Patrimonium nicht nur zu retten, sondern der Nachwelt für immer verfügbar zu machen: »Es war notwendig, in die Masse der verstaatlichten oder vom Ancien Régime geerbten Archive ein wenig Ordnung zu bringen. Viele Dokumente konnten zu Recht zerstört werden und wären auch ohne die Revolution zerstört worden«.43 Es ist es allerdings gar nicht erforderlich, die »physische« Gewalt der revolutionären Archivpolitik in ihrem Ausmaß genau zu bestimmen, um die »symbolische« Gewalt des Nationalarchivs aus dem Geiste der Revolution zu ermessen, deren Sprache die Schnittstelle von Archiv und Historiographie (auf den Ebenen der Technik, des Diskurses und der Politik) codiert. Das Gewaltmoment im Gründungsakt des historischen Archivs, wie wir es heute kennen, liegt in der Definition selbst, die sich aus der frühen archivlogischen Praxis des triage44 ergibt: ›Historisch‹ sind diejenigen ›Papiere‹ (Archivalien), die zwar (für die Geschäfte der Regierung) ›nicht nützlich‹, aber auch nicht vollkommen nutzlos sind: Es wäre aus künstlerischen, wissenschaftlichen oder ›illustrativen‹ Gründen schade, sie wegzuwerfen. Die Archivquellen der Geschichte sind ursprünglich ein Rest (bzw. ein Kompromiss mit) der Nutzlosigkeit. In der Folgezeit der archivwissenschaftlichen Konsolidierung – etwa seit der Gründung der Ecole des chartes 1821 – ist die historische Funktion des Archivs auch positiv formuliert und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend ausdifferen-

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Vgl. etwa Vallet de Viriville, »Documents retrouvés dans les magazines de l’artillerie«, in: Moniteur du 5 octobre 1854, zitiert in: Laborde, »Introduction«, S. VIII: »C’est un préjugé assez généralement accrédité que nos grandes pertes de documents historiques sont dues à la Révolution française. La vérité est que les travaux législatifs de la Révolution ont, sans relâche, de 1789 à 1794, centralisé, organisé pour l’étude les dépôts jusque-là inaccessibles et morcelés, dont nous jouissons quotidiennement, et que la loi du 7 messidor an II, qui résume ces travaux, sert encore aujourd’hui de base à la législation sur cette matière« (»Es ist ein allgemeines Vorurteil, dass unsere großen Verluste an historischen Dokumenten der Französischen Revolution zuzuschreiben seien. Die Wahrheit ist, dass die legislativen Arbeiten der Revolution zwischen 1789 und 1794 viele Depots zentralisiert und für Studienzwecke eingerichtet hat, die vor dieser Zeit unzugänglich und zerstreut waren, [...] und dass das Gesetz vom 7. Messidor des Jahres II, das diese Arbeiten zusammenfasst, hinsichtlich dieses Gegenstands noch heute als Grundlage für die Gesetzgebung dient«). »Dans la masse d’archives nationalisée ou héritée de l’Ancien Régime, il était nécessaire de mettre un peu d’ordre. Nombre de documents pouvaient, légitimement, être détruits et l’auraient été, même sans la Révolution« (Favier, Les Archives, S. 33). Wolfgang Ernst versteht den Begriff des triage (als einer Sortierung in ›drei Teile‹) treffend im Sinne der »ambulanten Schlachtfeldmedizin«: Gesunde, heilbar Kranke und hoffnungslose Fälle. Wolfgang Ernst, »Archivtransfer«, in: Michel Espagne et al. (Hg.), Archiv und Gedächtnis. Studien zur interkulturellen Überlieferung, Leipzig 2000, S. 63–88, hier S. 70.

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ziert worden. Die Kriterien des ›historischen Interesses‹ wurden (durch entsprechend ausgebildete Experten) genauer definiert, Klassifikation, Inventarisierung und Registratur wurden optimiert, neue Archive zu ausschließlich historischen Zwecken eingerichtet, Archivalien zur Ergänzung bestehender Fonds (durch Kauf oder Eroberung) hinzugewonnen etc.45 Alle diese nachfolgenden Versuche der Erweiterung, Differenzierung und Optimierung, die zu der heute gültigen Struktur des (zentralisierten) französischen Archivwesens geführt haben, mussten sich jedoch zwangsläufig – nach einem Vierteljahrhundert der (mannigfaltigen und kontradiktorischen) Applikation der revolutionären Archividee – auf die ursprüngliche Vorgabe des triage historique beziehen. Nachdem einmal eine kritische Menge historischer Fonds auseinander genommen, sortiert, kassiert und neu klassifiziert worden war, konnte der status quo ante nicht mehr wieder hergestellt werden. So bildet der Etat général des fonds der Archives nationales, den man erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fertig gestellt hat, in seiner komplexen Struktur und seinen Kompromissen zwischen Provenienz (nicht berührte Fonds, die man seither »respektiert«) und Pertinenz (sortierte Fonds, deren Klassifikationskriterien fortgeschrieben werden mussten) das Gewaltmoment seiner Ursprungsgeschichte ab.

3. Die Lücken des Archivs Die Codierung von Gewalt, die das Nationalarchiv zum technischen, diskursiven und politischen Paradigma des (historischen) »Übergangs vom Gedächtnis zur Geschichte«46 macht, hat in der Praxis für die nunmehr auf die Quellen des Archivs angewiesene Historiographie weitreichende Konsequenzen. Das archivgestützte Schreiben von Geschichte muss – noch vor der Sichtung, Analyse und Interpretation der Quellen, deren Freiheit nur immanente Grenzen gesetzt sind, und ungeachtet der politischen Kämpfe um den (privilegierten) Zugang zu den Orten der Archive – den durch die Revolution vorgegebenen Kriterien sowohl der Existenz als auch der strukturellen Einordnung als historisch definierter Gegenstände fol45

46

Die Kaiserzeit muss insofern als eine Zeit des fortgesetzten Ausnahmezustands gelten (die dem Geist der Revolution auf frappierende Weise treu geblieben ist), als das historische Archiv der Französischen Nation unter Napoleon in ein ›Universalarchiv‹ verwandelt werden sollte, zu welchem Zweck »massenweise Kulturgüter und Schriftstücke für eine Dokumentation europäischer Kultur« aus allen unterworfenen (oder alliierten) Hauptstädten nach Paris transportiert wurden. Die Bewältigung dieser Archive – u. a. 30 Wagenladungen aus Simancas, 3.139 Archivkartons aus Wien, 12.147 Schachteln aus dem Vatikan (vgl. Matthias Middell, »Archiv und interkulturelles Gedächtnis«, in: Espagne et al. [Hg.], Archiv und Gedächtnis, S. 7–35, hier S. 28) – und deren Rückgabe beschäftigte den Nachfolger Camus’, Pierre Daunou (Chefarchivar von 1804 bis 1816 und von 1830 bis 1840), in seiner ersten Amtszeit mehr als die notwendige Fortführung und Reform der Revolutionsarchive. Pomian, »Les Archives«, S. 174.

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gen.47 Die Exegese geschichtlicher Quellen rekurriert notgedrungen auf die archivischen Herstellungsbedingungen und Findekriterien. Insofern ist die Wissenschaft der Geschichte immer auch ein Stück weit Wissenschaft der Archive, Wissen über Entstehungszusammenhänge, Bestände und Verfasstheit des Archivguts, die Techniken der Erschließung, die Schemen der Klassifikation und Registratur, die Bedeutung von Einträgen und Vermerken, die mäandernden Strukturen der Archivverzeichnisse. Der greifbare Teil der symbolischen Gewalt, die dem Historiker aus dem Archiv entgegenschlägt, beruht auf der – mit der Zeit zunehmenden und sich ihrerseits als Wissenschaft verstetigenden – Komplexität der Lokalisierung von Quellen. In Frankreich, dessen Nationalarchiv das von der Revolution ererbte zentralistische Prinzip trotz aller Komplexitätssteigerungen bis heute beibehalten hat, existiert mit dem Etat général des fonds ein zentrales, für Archivare und Historiker gültiges ›Gesetzbuch‹, das den Code dieser Gewalt in einem neunbändigen ›Findekompendium‹ festschreibt.48 Die eigentliche (dafür aber weniger greifbare) Gewalt des Archivs, der kein Historiker entkommen kann, beruht jedoch nicht in der vorgezeichneten Findung der Quellen, die zumindest theoretisch immer erbracht werden kann, sondern in der schieren Existenz derselben, die nach wie vor durch die Kassation vorherbestimmt ist. Zwar sind die Regeln der Sortierung seit der Zeit des revolutionären Dreischritts (administrativ – historisch – Abfall) erheblich verfeinert, differenziert und wissenschaftlich objektiviert worden, so dass über die Kassationspraxis heutiger Archive auch von Seiten der Historiker kaum Kritik zu vernehmen ist. Auf der anderen Seite ist es aber unmöglich – dies gestehen auch die Archivare zu –, absolut objektive, archivimmanente Kassationsregeln zu entwickeln. Die Entscheidung darüber, ob ein Archivdokument nach Ablauf seines administrativen Geschäfts47

48

Die Erweiterung des Quellenbegriffs auf administrative Archive und andere vom historischen Archiv ›nicht vorgesehene‹ Dokumente in der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts – in der Folge der Annales-Schule – lässt sich somit auch als eine kritische Revanche der Historiographie gegenüber dem archivwissenschaftlichen Apriori begreifen. Vgl. Jean Favier (Hg.), Archives Nationales. Etat général des fonds, 5 Bde., Paris 1978–1988 sowie ders. (Hg.), Etat des inventaires, 4 Bde., Paris 1985–2000. Da man sämtliche Archive gleich welcher Herkunft (Paris, Départements, Kolonien, Ausland) und in gleich welchem Zustand (unberührt, teilweise sortiert, vollständig sortiert) in einer gemeinsamen Klassifikation nach »Serien« zusammenfasste und bis heute weiterführt, hat sich aus dem Dreischritt des revolutionären triage – in der Fortschreibung der Buchstabencodierung, die von Camus eingeführt wurde – ein komplexes System aus mehrfachen Buchstabenkombinationen ergeben, beginnend mit dem (in ein historisches Archiv umgewandelten) Geschäftsarchiv der Revolution von 1789 (Buchstaben A bis D) über die allgemeine Administration (F bis H), den Trésor des chartes (J), die Monuments historiques (K) bis zu den Juridictions spéciales (Z) etc. Erschwert wird der Prozess der Quellenfindung zudem durch die Tatsache, dass bestimmte Archive – die Notariatsarchive, die Archive der Marine, der Verteidigung (bis 1980 auch der Kolonien) – nicht in die Archives nationales eingegliedert wurden, obwohl sie ebenfalls über historische Quellen verfügen, die (gemäß der Pertinenz) zu bestimmten Serien gehörten.

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zweckes (potentiell) von historischem Interesse sein kann, ist nicht zu 100 Prozent auf einer rein technischen Grundlage zu treffen, sondern folgt – vor allem im Umgang mit älteren Beständen – immer auch archivexternen, d. h. politischen Beweggründen. Dies zeigt sich z. B. sehr deutlich an den über 165 Jahre (1815– 1980) immer wieder neu sortierten, am Ende vollkommen zerklüfteten und in »séries factices« sowie »rubriques arbitraires«49 zerstreuten Archiven der Marine und der Kolonien, deren Verfasstheit sich als besonders lückenhaft erweist.50 Die Lücken der Archivbestände, deren Entstehungsgeschichte sich als Institutionalisierung der wissenschaftlichen Archivorganisation aus dem Geist der Französischen Revolution nachzeichnen lässt, sind in ihrer Faktizität unwiderruflich und stellen den unauslöschlichen Teil der (mythischen) Archivgewalt dar. Das Nichts bzw. das potentiell Gewesene ist seit der Erfindung der Kassation 1789 ein nicht vollständig auszumerzender Bestandteil moderner quellenbasierter Geschichtsschreibung. Wenn man also das Archiv-Apriori verteidigt und annimmt, dass die Geschichte nur aufschreiben kann, was ihr die Archive als Material überlassen, wie sind dann die (selbst geschaffenen oder durch Unglück erlittenen) Leerstellen der Archivbestände diskursiv zu fassen? Die Lücken des Archivs weisen somit auf eine Schwierigkeit der zeitgenössischen Kulturtheorie des Archivs als ›Katalysator‹ der Geschichtsschreibung hin. In einer bestimmten (pragmatisch-materialistischen) Fortführung von Foucaults Archäologie ist das Archiv zum universellen Grundbegriff nicht nur von geschichts-, sondern auch literatur- und kulturwissenschaftlichen Theoriemodellen geworden. Paradigmatisch hierfür ist Moritz Baßler, der eine allgemeine »textualistische Theorie« der Analysierbarkeit von Literatur und ihrer kulturellen Kontexte auf einem Archivbegriff aufbaut, der zur diskursiven Voraussetzung und »Ausgangsbedingung jeder kulturwissenschaftlichen Arbeit« wird.51 Je weiter der Archivbegriff in einer solchen Orientierung der Theorie gefasst 49 50

51

Favier, Etat général des fonds, Bd. 3: Marine et outre-mer, Paris 1980, S. 9 (Vorwort). Das Kolonialarchiv ist ein Ort, an dem die Gewalt des Ursprungsmoments des französischen Archivwesens besonders lange gewirkt hat. Waren die Provenienzen schon zum Zeitpunkt der Revolution sehr heterogen – die historischen Archive stammen aus den Verwaltungsakten der Vizekönigtümer, der Compagnies des Indes, der Generalintendanzen für Navigation und Kommerz, des Ministeriums für Marine und Kolonien, dem Bureau des Colonies u. a. m. –, erweist sich der Prozess der Zentralisierung des französischen Kolonialarchivs als besonders langwierig und verlustreich, da die Dokumente (unter ganz eigenen Bedingungen des verspäteten Ausbruchs der Revolution in diesen Gebieten) aus Afrika, Asien und Amerika nach Paris gebracht werden mussten, wobei sie z. T. schon vor der Einschiffung sortiert worden waren. Sofern sie heil angekommen und vor Ort (aus politischen, mit den Unabhängigkeitskämpfen zusammenhängenden Gründen) nicht kassiert oder umfunktioniert worden sind, wurden sie sodann auf die verschiedensten Depots verteilt. Die Zusammenführung zu einem eigenen Archiv unter dem Sachgesichtspunkt »Kolonialgeschichte« ist erst im 20. Jahrhunderts begonnen und 1994 mit der Einlagerung in das neue Gebäude des Centre des archives d’outre-mer in Aix-en-Provence abgeschlossen worden. Den Ansatz des New Historicism auf eine materielle Ebene überführend, konzipiert Baßler eine heuristische Parallelisierung zwischen einem als Text funktionierenden Archivbegriff und einem als

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wird, desto deutlicher tritt das konzeptuelle Problem zutage, welches damit zusammenhängt, das Archiv als vollständige Einheit denken zu müssen. Haben Texte und Kontexte (ohne Unterschied der Gattung oder der Wertigkeit) die »Gestalt eines Archivs« und enthält das Archiv alle »virtuell unendlichen möglichen Bedeutungen eines [textuellen oder kontextuellen] Ausdrucks«52, so gibt es jenseits der ArchivKorpora nichts, was analysierbar oder (hermeneutisch) interpretierbar wäre. Was nicht archiviert ist, gehört nicht zum »Objektbereich« der Theorie. Das Attribut der Vollständigkeit besitzt das Archiv aufgrund seiner Herkunft allerdings notwendigerweise nicht. Dies ist die Lehre aus der Entstehungsgeschichte des modernen Staatsarchivs. Da seine Funktion als kulturelles Gedächtnis einer Nation ursprünglich auf einer negativen Definition von Geschichtlichkeit (als ›aussortierter‹ Abfall politischer Administration) beruht, ist das konzeptuelle Verhältnis der Begriffe Archiv und arché insofern zu präzisieren, als das Archiv keinen absoluten Anfang (commencement) darstellen kann, sondern nur dessen (historische) Konstruktion. In der theoretischen Suggestion der Anfänglichkeit zeigt sich das Gewaltmoment der archivgestützten Gesetzeskraft (commandement).53 Für die theoretische Reflexion der Geschichtsschreibung bedeutet dies, dass ihr Einsatz – als anthropologischer Faktor im technischen Dispositiv der Vergangenheitsspeicher – auch an den Stellen zu situieren ist, wo die Lücken des Archivs imaginär aufgefüllt werden müssen. Historiographie ist notwendig auch ein »Fingieren« an den Leerstellen, die die Gewalt in die Archive geschlagen hat: »Der Historiker hat nur zu einem minimalen Anteil jenes Konkreten Zugang, das sein Gegenstand ist, nämlich zu dem Anteil, den ihm die Dokumente liefern, über die er verfügen kann. In Bezug auf alles Übrige muss er Löcher stopfen«.54 Dies ist die Pflicht und die Freiheit des Historikers, das Schweigen des Archivs als ein »Rumoren« hörbar werden zu lassen und auch die Leerstellen der »registrativen Textur« durch Figuration in »sinnhafte Muster«55 zu verwandeln. Das Archiv-Apriori des historiographischen Diskurses ist nicht mächtig genug, um auszuschließen, dass schon im Ursprung auch poetologische Fragen übrig bleiben.

52 53 54

55

Archiv funktionierenden Textbegriff: Beide Begriffe sind »gespeicherte, lesbare und synchrone Gebilde« mit »kultureller Gedächtnisfunktion«, die Vergangenheit festschreiben. Grundbegriff der Text-Kontext-Theorie ist der Archiv-Korpus als »die Summe aller Texte einer Kultur«, deren Orte sich angeben, d. h. wiederfinden und immer wieder neu lesen lassen. Vgl. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 176–205. Ebd., S. 195. Derrida, Mal d’Archive, S. 11. »L’historien n’a directement accès qu’à une proportion infime de ce concret [qui est son objet], celle que lui livrent les documents dont il peut disposer; pour le reste, il lui faut boucher les trous« (Veyne, Comment on écrit l’histoire, S. 194). Ernst, Das Rumoren der Archive, S. 11, S. 53 und S. 106.

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Zeugnis, Archiv, Gewalt Die ungarische Staatssicherheit und Péter Esterházys Verbesserte Ausgabe Csongor Lrincz

Unmittelbar nachdem Péter Esterházy Ende 1999 seinen großen Familien- und Geschichtsroman Harmonia Caelestis beendet hatte, nahm er Einsicht in die Akten des Historischen Amtes. Er wollte hiermit im Nachhinein überprüfen, ob er seitens der Geheimpolizei während der kommunistisch-sozialistischen Diktatur beobachtet worden war. Tatsächlich stellte sich heraus, dass er selbst zwar nicht unter Beobachtung gestanden war, dafür aber sein eigener Vater zwischen 1957 und 1978 mehr oder weniger regelmäßig Berichte für die Staatssicherheit verfasst und als sog. III/III Agent gearbeitet hatte (wie übrigens einige zehntausend Andere in Ungarn, wenn auch bei weitem nicht so viele wie z. B. in der DDR). Für Péter Esterházy bedeutet diese Entdeckung den absoluten Schock, galt ihm doch sein eigener Vater, Nachfahre einer der wichtigsten aristokratischen Familien in Ungarn (mit zahlreichen europäischen Verwandtschaften) als der beispielhafte »freie Verlierer«,1 dessen Charakter und gesellschaftliches Verhalten zu brechen und zu korrumpieren der stalinistisch-kommunistischen Diktatur nicht gelungen war. Die Lektüre und das Abschreiben gewisser Teile der drei Dossiers von Berichten wird auch als Tagebuch gestaltet, öfters vermittelt mit dem historischen Hintergrund der Zeit, in der die Spitzeltätigkeit des Vaters stattfand, und mit Reflexionen moralischer, historischer, gesellschaftlicher und ästhetischer Art versehen.2 Der Erzähler der Verbesserten Ausgabe3 – der 1 2

3

Péter Esterházy, Verbesserte Ausgabe, aus dem Ungarischen von Hans Skirecki, Berlin 2003, S. 20. Zur textuellen Beschaffenheit und gattungspoetischen Lesart der Verbesserten Ausgabe vgl. István Dobos, »Az értelmezés lezárhatatlansága. Mediális játékterek az önéletírásban« [»Die Unabschließbarkeit der Interpretation. Mediale Spielräume im autobiografischen Schreiben«], in: Gábor Bednanics et al. (Hg.), Identitás és kulturális idegenség [Identität und kulturelle Fremdheit], Budapest 2003, S. 389–402. Ferner vgl. die Rezensionen von János Bányai und Anna Menyhért in der Zeitschrift Holmi 2003/3: »Derű vigasz nélkül« [»Heiterkeit ohne Trost«], S. 255–259; »Trafik«, S. 260–266. Auf Deutsch vgl. den Lexikonartikel von Péter Szirák im neuen Kindlers Literatur Lexikon (http://www.kll-online.de). Dieser Text ist anlässlich der Konfrontation mit der Geschichte seines Vaters entstanden und trägt den Untertitel: »Anlage zu Harmonia caelestis«, vgl. Javított kiadás – melléklet a Harmonia caelestishez, Budapest 2002. Zitate aus dem Original im Folgenden mit der Sigle ›JK‹ und Seitenzahl. (Der Untertitel fehlt aus unbekannten Gründen in der deutschen Übersetzung von Hans Skirecki, vgl. Verbesserte Ausgabe, im Folgenden mit der Sigle ›VA‹ und Seitenzahl. Zitate aus Harmonia caelestis nach der deutschen Ausgabe Berlin 2001 mit der Sigle ›HC‹.)

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mit dem Autor identisch sein soll – gerät in eine ethische Krise, in eine moralische Unsicherheit, und versucht verzweifelt, mit diesem desorientierenden Schock zurecht zu kommen. Er nimmt letztlich die Rolle des Zeugen auf sich, der Äußerungen und Verhaltensweisen des Vaters, bestimmte familiäre Szenen usw., die in den Berichten erwähnt bzw. in ihrem Stil widergespiegelt werden, beglaubigt. Von der Handschrift bis hin zur Ausdrucksweise und Stimme des Vaters, die er öfters zu hören meint, werden eine Reihe von vertrauten (hier vor allem: sprachlich-kommunikativen) Zügen des Vaters gegenwärtig (wenn auch auf quasi-halluzinatorische Art), die aber auf krasse Weise konterkariert werden vom unpersönlichen, politisch und machttechnologisch codierten Vokabular der Berichte. Die Kreuzung des persönlich-idiomatischen mit dem bürokratisch-aktenführenden Diskurs, mit der Gewalt des Archivs also, erzeugt den Effekt des Unheimlichen und führt (nach einer maschinellen Logik) zu einer Desubjektivierung des Persönlich-Individuellen.4 Dieser Verschränkung entspricht die Doppelstellung des Erzählers als Kopist und Zeuge, die zu einer gewissen performativen Ambiguität führt. Zur menschlichen und ethischen Enttäuschung, zur traumatischen Relation des Persönlichen und Unpersönlichen gesellt sich eine eigentümliche literarische Kontaminierung: die Hauptfigur in Harmonia Caelestis (HC) ist nämlich der Vater selbst (wobei diese Figur sich im Roman auch signifikant auflöst bzw. vervielfältigt), und nun steht er in einem äußerst befremdlichen Licht da, das den gesamten Text des Romans imprägniert. Die Verbesserte Ausgabe stellt somit eine quasi-philologische Fiktion auf, die gewissermaßen den Roman berichtigt oder eine bestimmte referentielle Emendation an diesem vornimmt. Der (nachträgliche) Verlust der moralischen Integrität des Vaters schlägt sich auch auf der textuellen Ebene nieder, im Verlust der semantischen Unschuld des Romans (und der Verfügungsgewalt des Autors über diesen, wie freilich schon über die Akten). All das geschieht während des Lesens und partiellen Abschreibens der Akten und Berichte von »Csanádi« (so der Deckname des Vaters als Agenten), zusammen mit einer Reihe von Befindlichkeitsmitteilungen, Reflexionen, empirischen Szenenbeschreibungen aus dem lebensgeschichtlichen Umfeld des Erzählers und Autors Péter Esterházy. Die Philologie des Archivs geht mit der Philologie des eigenen Textes einher, die Auswirkungen der archivarischen Gewalt der Akten der Staatssicherheit sind sowohl lebensweltlich-empirischer als auch textueller Natur. Dieser doppelte Effekt spiegelt gleichsam auch die doppelte – sprachliche wie referentielle und ethische – Gewalt der ursprünglichen Berichterstattung wider. Die Gewalt des Archivs zeigt sich hier 4

»Wahrscheinlich ist es aus Selbstverteidigung, aber ich kann diesen Menschen immer weniger als meinen Vater ansehen. […] in mir beginnen, ich spüre es, diese Spitzelmaschine und mein Vater auseinanderzugehen. Meine Hand spricht: ich sehe, daß sie immer weniger gern ›mein Vater‹ hinschreibt, sondern lieber: ›der Agent‹. Wie Herz und Seele (+Stilgefühl) schlau vorgehen, um alles zu überleben. […] Die Verachtung spüre ich auch. Aber meine Gefühle schrumpfen. Das Persönliche meines Vaters schrumpft …« (VA 203 f., vgl. auch den »Menschen« als einen »Fall«, in Bezug auf Sascha Anderson vgl. ebd., 176, 262).

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auf eine markante Weise, sowohl auf der referentiellen als auch auf der textuellen Ebene, in einer Vorzeitigkeit wie in der Nachträglichkeit. Die deskriptive Beschreibung dieser Umstände, Machtdispositive und Praktiken (und ihrer institutionellen Hintergründe) würde dennoch nicht ausreichen, denn die Konstellationen in diesem mehrfachen Textarchiv sind zu kompliziert, um daraus einmal mehr das schon zur Genüge bekannte Prinzip des archivarischen Apriori ableiten zu können. Es ist nämlich nicht restlos zu entscheiden, »was« die VA eigentlich archiviert: Die Akten des Vaters, die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der damaligen Epoche (die mit dieser Art von geheimer Tätigkeit zusammenhängen) oder eine bestimmte textuelle Anomalie der HC? Ist die VA ein Archiv oder ist es der philologische Kommentar zum Archiv im Historischen Amt oder aber zur HC? Welche Rolle übernimmt der Erzähler und Autor der VA in Bezug auf dieses Verhalten seines Vaters, mehr noch: auf sein lebenslanges Schweigen über die Tatsache der geheimen Berichterstattung? Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass die archivarische Tätigkeit weitgehend von einer ethischen Problematik – des Geständnisses, der Beichte usw. – eingefärbt und beeinflusst wird, dass man es hier mit genuinen »Archiven des Geständnisses« zu tun hat,5 auch wenn diese Geständnisse gelegentlich nur als merklicher Mangel vorhanden sind. Ferner spielt noch der literarische Text (HC) in den archivarischen Sachverhalt hinein, was hier aber nicht einfach figural und poetologisch zu verstehen ist, sondern gewissermaßen als eine Instanz fungieren kann, die dem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen imstande sein könnte, über die krude Tatsache der Berichterstattung hinaus. Die Kreuzungen zwischen HC und VA, zwischen Trope und Referenz, Fiktion und Faktualität sind zu vielfältig, um noch zuverlässig eine Grenze zwischen ihnen etablieren zu können. Überhaupt scheint hier die Archivierung gewisser Tatbestände noch nicht viel zu bedeuten (manchmal bedeutet sie in der Tat so gut wie gar nichts, wie das vom Erzähler beim Lesen der Berichte erfahren wird, was auch von den Auftraggebern von Csanádi vermerkt wird), vielmehr ist ihre Wertung und Codierung bzw. ihre Interpretation ausschlaggebend und das Machtdispositiv der Archivierung richtet sich auch auf die Determinierung (und natürlich Konstituierung) der referentiellen und semantischen Zusammenhänge in den Berichten. Die Gewalt des Archivs ist in diesem Sinne die Verfügungsgewalt der bzw. über die Interpretation, eine Praktik der Interpretation von einem bestimmten Code her – und ein Aspekt dessen, was Derrida »Konsignation« genannt hat.6 Die Gewalt des Archivs besteht in der gewaltsamen Codierung, die nicht einfach über die Akten 5

6

Vgl. Jacques Derrida, »Das Schreibmaschinenband. Limited Ink II«, in: ders., Maschinen Papier, Wien 2006, S. 35. Vgl. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, S. 13. Vgl. aus einem anderen Kontext: Angela Keppler, Thomas Luckmann, »Beredtes Schweigen. Kommunikative Formen familiärer Geheimnisse«, in: Aleida Assmann, Jan Assmann (Hg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997, S. 220.

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und Daten, sondern auch über deren Interpretation verfügen will.7 Im Folgenden wird versucht, den referentiell-textuell-performativen Knoten in diesem mehrfa7

Diese Herrschaft des Codes im Archiv, des archivarischen Codes, ist dasjenige Dispositiv, das aus »Unordnung« erst »Ordnung« herstellt (vgl. Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002). In dieser Hinsicht ist aber der zur paradigmatischen Differenz ernannte Unterschied zwischen »Statistik« und »Narration« (vgl. wiederum Ernst, »Das Archiv als Gedächtnisort«, in: Knut Ebeling, Stephan Günzel [Hg.], Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 188–189) eher formal: ob über einer »Datenmenge« (ebd., S. 195) oder einem Geschehenszusammenhang (schon diese beiden sind alles andere als austauschbar) mithilfe eines narrativen oder eines Erfassungscodes verfügt wird, ist wohl von sekundärer Bedeutung – wichtig ist die Herrschaft oder Gewalt des Codes (dass das Archiv definitionsgemäß als »kodierter Speicher« anzusehen ist, wird von Ernst ja seinen Überlegungen zugrunde gelegt, ebd., S. 184). So kann man konsequent sagen: »[was] mit dem Archiv geschaffen wird, sind nicht Zitate, sondern Zitierbarkeit« (Knut Ebeling, »Das Gesetz des Archivs«, in: ders./Günzel [Hg.], Archivologie, S. 85), freilich nicht im Benjamin’schen Sinne, und auch nicht allgemein, sondern durch das Dispositiv der Codierung, müsste man hinzufügen (so stellt Ebeling zwei Seiten später auch fest: »Was hier aufgezeichnet wurde […] waren weniger Namen auf einer Liste, sondern das Gesetz, das die Aufzeichnung der Namen überhaupt erst dekretierte: also eher eine Codierung als eine Repräsentation«, ebd., S. 87). In dieser Hinsicht trennt sich das Archiv durch eine fundamentale Differenz vom Literarischen, dessen Interesse nicht einfach in einer kulturtechnischen und institutierenden Bearbeitung der Unordnung zwecks Ordnung besteht, sondern einen Präsentations- und Mitteilungsanspruch zeitigt (vgl. etwa den Begriff des »Ausdrucks«, der gerade für die unpersönliche Poetologie eines Gottfried Benn wichtig war), der nicht in einem Codierungsdispositiv aufgeht, ein solches vielmehr subvertiert. Zur Thematisierung von (oftmals nicht archivierter) Geschichte und Archiv: Reinhart Koselleck hat deutlich gemacht, dass eine hermeneutisch gesinnte Historik nie einfach von Quellen (oder medientheoretisch gesprochen: von »Daten«) ausgehen kann. Diese werden erst in der Interpretation zu Quellen im Sinne von Zeugnis. »Es geht in der geschichtlichen Erkenntnis immer um mehr als um das, was in den Quellen steht. Eine Quelle kann vorliegen oder gefunden werden, aber sie kann auch fehlen. Und doch bin ich genötigt, Aussagen zu riskieren. [...] Jede Quelle, genauer jeder Überrest, den wir erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandeln, verweist uns auf eine Geschichte, die mehr ist oder weniger, jedenfalls etwas anderes als der Überrest selber. Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt. Sonst wäre jede klar fließende Quelle selber schon die Geschichte, um deren Erkenntnis es uns geht« (Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 204 f.) Daher sind die Quellen einerseits auch zukünftig, stellen also Versprechen dar – Derrida hat das Archiv bekanntlich mit dem Versprechen und der Zukunft in Verbindung gebracht (Dem Archiv verschrieben, S. 57, S. 60 und S. 65). Andererseits ist die Archivierung nie ganz zum ontologischen Ersten Beweger zu verklären (was im ansonsten vorzüglichen Buch von Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, passiert, aus einer rechtswissenschaftlichen Sicht gewiss auf legitime Weise), eignet ihr doch eine konstitutive Nachträglichkeit und Lückenhaftigkeit (vgl. dazu Ernst, ebd., S. 198–199). Die Frage stellt sich, wie denn die Vorgängigkeit und die Nachträglichkeit des Archivs zusammen zu denken seien (beide Momente werden jeweils von verschiedenen AutorInnen stark gemacht). Auch auf diese Frage bieten vor allem die Arbeiten von Derrida Antworten: Im vorliegenden Zusammenhang könnte eine solche Antwort darin bestehen, darauf hinzuweisen, dass der dem Archiv intrinsischen Gewalt ein Exzess innewohnt, infolgedessen archivierendes und archiviertes Ereignis nicht zusammenfallen können (vgl. Derrida, »Das Schreibmaschinenband«, S. 83), eine Gewalt, die sich selbst auch destruiert und gewissermaßen sowohl vor dem Archiv als auch nach ihm wirksam ist.

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chen Archiv offenzulegen, wobei die Analyse sich niemals gänzlich auf den Text der VA verlassen kann, scheint diese Komplexität doch gerade diesen zu überfordern und zu mehreren Inkonsistenzen zu führen. Es ist paradox, aber es scheint so, als ob die VA den von ihr aufgedeckten intertextuellen und interarchivarischen Zusammenhängen oft nicht gewachsen wäre. Bevor aber diese Probleme angegangen werden, sollen die Techniken der Berichterstattung, die die innenpolitische Staatssicherheit prägten, grob skizziert werden. Deren Art von Archivierung ist mit Foucault der Ordnung (Verwaltung) bzw. Disziplinierung und nicht dem (öffentlichen) Recht zuzuordnen. Diese Archive waren nämlich Medien und Funktionen des Überwachens – und ggf. des Strafens. Dadurch emblematisieren sie auf besonders markante Weise das moderne gouvernementale Auseinandergehen der Dispositive des Rechts und der Verwaltung und eine (asymmetrische) Internalisierung der Machtverhältnisse in der Gesellschaft als politische Technologie.8 Das Codesystem der gouvernementalen Macht bestimmt die Berichte bereits in ihrer Konstitution: in ihrer Sprachlichkeit, Logik, Denkweise und Perspektive bzw. in ihrem Informationsgehalt.9 Die Informationen dienten vordergründig der Verifizierung der Überzeugungen und Meinungen innerhalb der Institution. Die primäre, via sprachlicher und inszenatorischer Gewalt erzwungene und aufrechterhaltene Referenz der Berichte ist so letztlich die Institution selbst: Die Gespräche zwischen dem Berichterstatter und seinen Bekannten, die dann als Bericht fixiert wurden, sind in dieser zweiten Form bereits »Teil eines anderen Diskurses, Abdrücke der Kommunikation zwischen dem Agent des Netzes und der Institution, der Organisation der Staatssicherheit«.10 Der Bericht als Text wird also zum Archiv, insofern er nicht einfach alltägliche, vertrauliche, intime usw. Konversationen wiedergibt, sondern indem er den kommunikativen und machttechnologischen Code der Institution selbst archiviert.11 In den Berichten werden Situationen, Mitteilungen, Informationen usw. der »Welt« aufs Papier gebracht, 8

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10 11

Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976. Kap. III und IV. Zum Folgenden vgl. János M. Rainer, Jelentések hálójában. Antall József és az állambiztonság emberei [Im Netz der Berichte. József Antall und die Agenten der Staatssicherheit], Budapest 2008, S. 17. Zur Organisierung des Staatssicherheitsdienstes in der Rákosi-Ära vgl. György Gyarmati (Hg.), Államvédelem a Rákosi-korszakban. Tanulmányok és dokumentumok a politikai rendőrség második világháború utáni tevékenységéről [Staatssicherheit in der Rákosi-Ära. Studien und Dokumente über die Tätigkeit der politischen Polizei nach dem zweiten Weltkrieg], Budapest 2000 und ders., A politika rendőrsége Magyarországon a Rákosi-korszakban – Die Polizei der Politik in der Rákosi-Ära in Ungarn (ungarisch-deutsch), Pécs-Fünfkirchen 2002. Rainer, Jelentések hálójában, S. 17. Nach der Rekrutierung des neuen Angehörigen des Netzes (des Agenten) haben der Agent und sein Führungsoffizier »die neue Welt des Ersteren gemeinsam aufgebaut, die nunmehr nicht von Kollegen, Freunden, Bekannten bevölkert wurde, sondern von in verschiedene Klassen eingereihten potentiellen Zielpersonen. Die eigene Mikrowelt des Netzangehörigen wurde nach den begrifflichen und sprachlichen Kategorien der Staatssicherheit geordnet und hat neue Bedeutungen er-

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doch ist der Interpretant dieses Materials die in der auftraggebenden Institution etablierte politisch-semantische Perspektive selbst. Diese Selbstreferenz der Institution geht natürlich mit einer restlosen Politisierung des gesellschaftlich-alltäglichen Lebens einher: »[D]ie Berichte versuchten den politischen – oder der Perzeption des Staatssicherheitsdienstes entsprechend durchpolitisierten – Gehalt meistens alltäglicher Unterhaltungen zu fixieren«.12 Die Tätigkeit und Selbstdefinition bzw. Funktion dieser Netze waren mit dem politischen Tauwetter vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Schwankungen unterworfen, die gerade die systemische Selbstreferenz der Gewalt dieses Berichterstattungs- und Archivierungssystems unterstrichen. Im Zuge des »Paktes« zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – ein ungeschriebener und verschwiegener Vertrag, der als Folge des Volksaufstandes von 1956 gewertet wird13 – rückte das Organ der Staatssicherheit in eine zwiespältige Position. Es hat sich die Rolle des wahren Verteidigers der Staatsordnung angeeignet, dabei war es von sekundärer Bedeutung, »wie sich die beobachteten Personen zur sozialistischen Staatsordnung verhielten. Viel wesentlicher war es, dass man die Maschine mit der nötigen Intensität in Gang halten konnte«.14 Dies war so oder so notwendig aus der Sicht der Staatssicherheit: Wenn die Anzahl der gegnerischen Personen abnahm, so hat dies »die Kraft und Legitimität des Systems bewiesen, konnte jedoch auch auf Mängel in der Effizienz der Wachsamkeit und der operativen Arbeit hindeuten. Aus der Sicht des Organs war sogar die erste, positive Perspektive nicht ungefährlich: so wie die Akzeptanz des ganzen Systems steigt, so sinkt die eigentümliche Legitimität der

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halten« (ebd., S. 74). Zur Aufzeichnung des Gesetzes selbst im Archiv vgl. Ebeling, ebd. und Vismann, »Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft«, in: Ebeling/Günzel (Hg.), Archivologie, S. 89–103. Ebd., S. 203. »Das grundlegende Motiv der Entstehung dieser Texte war, dass die Institution [der Staatssicherheitsdienst, Cs.L.] wissen wollte, wie denken die beobachteten Personen über das weiteste System ihres Lebens: über das politische System, in dem sie lebten«. Hier gab es »drei Hauptprotagonisten: die Institution, die die Textentstehung beauftragt hat, die Personen in der Institution, die die Texte verfasst haben, und schließlich die Person, von der die Berichte handeln und die sie in dieser Weise konstruieren« (ebd., S. 14). Das wird auch in der VA angedeutet (158–159), in Bezug auf den Essay von Péter Nádas über Sascha Anderson (auf Deutsch: »Armer Sascha Anderson«, in: Kursbuch 108 [Juni 1992], S. 163– 188). Zu diesem Pakt – der in den berühmten Worten von Kádár angedeutet (oder besser: diktiert) wurde: »Wer nicht gegen uns ist, ist für uns« (ein Satz, der natürlich auch eine zynische Lesart erlaubt) – vgl. Holger Fischer, Kleine Geschichte Ungarns, Frankfurt am Main 1999, S. 217 f. Zur Problematisierung der Paktfigur im Zeichen einer historischen Kontingenz (die aber gewollt oder ungewollt auch eine entschuldigende Volte hat) vgl. Péter Kende, Eltékozolt forradalom? [Verschwendete Revolution?], Budapest 2006, S. 202–208. Zu den »langen« sechziger Jahren in Ungarn vgl. János M. Rainer, »A ›hatvanas évek‹ Magyarországon. (Politika)történeti közelítések« [»Die ›sechziger Jahre‹ in Ungarn. (Politik)geschichtliche Perspektiven«]«, in: ders. (Hg.), ›Hatvanas évek‹ Magyarországon [›Sechziger Jahre‹ in Ungarn], Budapest 2004, S. 11–30. Rainer, Jelentések hálójában, S. 68.

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Staatssicherheit«.15 Diese Annahme war freilich insoweit fiktiver Natur, als bis zum Ende der siebziger Jahre in Ungarn keine politische Opposition existierte. Etwa vor diesem Hintergrund sind bestimmte diskursive Phänomene und (deren) referentielle Effekte in der VA bzw. im von ihr vermittelten Archiv zu sehen. Der Text von Esterházy präsentiert sich selbst auch als Bericht – »Dies ist kein Bekenntnis: es ist ein Bericht« (VA 30) – und etabliert somit eine Art Gesetz der Gattung in Bezug auf den eigenen Text.16 Ein (gleichsam philologischer) Bericht über die Berichte des Vaters sollte das sein, was freilich nicht ganz stimmt: Der Text von Esterházy ist – ob gewollt oder ungewollt – auch als eine Art öffentliche Beichte anstelle des ausgebliebenen Bekenntnisses des Vaters zu lesen (das ist eine mögliche Bedeutung der »verbesserten Ausgabe«, neben der Angabe des neuerlich entdeckten referentiellen Hintergrundes vom Vater).17 Gerade als Überlebender zeugt er für jenen Zeugen, der aus welchem Grund auch immer über das eigene Vergehen, über den eigenen »Verrat« (ein Wort, das in der VA mehrmals vorkommt) nicht zeugen konnte.18 Er bezeugt das Faktum der Berichte noch vor jeglichem Inhalt und zweifelt damit die oben aus historischer und metasprachlicher Sicht angenommene pure Selbstreferenz der Beobachtungsmaschinerie an (bzw. betont diese mit einem anderen Vorzeichen), da – wie man sagen könnte – diese Annahme Gefahr läuft, nur die latente (institutionsgebundene bzw. rechtserhaltende), nicht aber die potentielle (referentielle bzw. rechtsetzende) Gewalt jener Maschinerie19 in Rechnung zu stellen: Papa sieht hier so aus wie eine Marionette. Als würde er sich auf ein Gespräch nur einlassen, um diese schäbigen Berichte schreiben zu können, die nur aus wenigen Zeilen bestehen, selbst in dieser Hinsicht wertlos sind, nichtssagend. Oder klein. Nichtse.

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Ebd. Das steht gleichsam im Zeichen von arché im nomologischen Sinne (als Gebot). Vgl. Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 9. Der Ausdruck »Beichte« oder »beichten« taucht in der VA des Öfteren auf, meistens auf den Vater bezogen, aber auch auf den Sohn (siehe VA 104, 247, 260), einmal kommt es zum Abschreiben einer katholischen Beichte (siehe VA 301 f.). Die folgende Stelle beleuchtet diesen Zusammenhang auf ökonomische Weise, mithilfe eines Eigenzitats: »Über das Ausmaß des Verrats könnte der Verräter berichten, aber er kann nicht. Gerade über Tar und seine Novellen habe ich einmal geschrieben: Für die, die nicht reden können, muß der reden, der es kann« (VA 159). (Sándor Tar, ungarischer Schriftsteller, der auch über Bekannte und Freunde berichtete und als sich dies herausstellte, Selbstmord begangen hat.) Vgl. noch Dobos, Az értelmezés lezárhatatlansága, S. 400. Menyhért spricht sogar von »Trauerarbeit«, vgl. »Trafik«, S. 262. Man erinnert sich, dass Walter Benjamin in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt gerade die Institution der modernen Polizei als Beispiel dieser »gespenstischen Vermischung« interpretierte (hier sind Latenz und Potentialität gewissermaßen identisch), vgl. Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt am Main 1977, S. 189.

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Nicht Nichtse. [Ein Bericht ist nie nichtssagend. Nie sagt er nur nichts. Auch wenn er leer ist, sagt er etwas aus. – Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren schrieb ich in der ›Spionnovelle‹, ohne zu wissen, daß ich zwischen den Hörnern das Euter traf: ›Was im Bericht ist, ist zweitrangig. Wichtig ist das ist. Die Ist-heit …‹ (VA, 67).20

Die Spionnovelle war eine der Novellen im zweiten Buch von Esterházy, Pápai vizeken ne kalózkodj! (»Lass das Kapern auf päpstlichen Gewässern!«). Und dieser Text schreibt sich nachträglich auch in den Zusammenhang der Berichte ein. Die neutrale Philologie bleibt jedenfalls eine Illusion angesichts des Zeugenstatus des Erzählers in der VA, ferner der semantischen Verflechtungen mit den eigenen Texten (Spionnovelle; Harmonia Caelestis). Das gouvernementale Dispositiv des Spitzelsystems kommt gerade darin zum Ausdruck, dass die Führungsoffiziere und andere Angestellten der Staatssicherheit die Reaktionen des Spitzels, die psychologischen Prozesse, die Entwicklung seiner Kompetenz der Berichterstattung aufs Schärfste beobachten. Sie sind an der individuellen Disposition seiner Tätigkeit, überhaupt an der Herausbildung dieser Disposition sehr interessiert und eng in sie involviert. Das ist also im Sinne Foucaults eine gouvernementale und disziplinierende Technologie der Subjekte selber21 und nicht einfach eine praktische Kompetenz, wie vom Historiker banalisierend sugge-

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So wird die Meinung von Historikern, wie etwa Rainer, die in den sechziger Jahren die Milderung der Diktatur – auf der Folie des erwähnten »Paktes« zwischen Staat und Gesellschaft – als positive Errungenschaft einzustellen versuchen (Rainer, A ›hatvanas évek‹ Magyarországon), doch etwas ambivalent. Dieses Manöver versteht die Geschichte in ökonomischen Mustern, als ob das politische Tauwetter der sechziger Jahre eine Kompensation wäre für die Opfer von 1956. Ganz zu schweigen davon, dass das System die Aufständischen mit krasser Gewalt verfolgte (vgl. hierzu Kende, Eltékozolt forradalom?, S. 187–196). Und aus der Sicht der Gegenwart wäre dieser Pakt (oder die gleichsam kontingente, doch asymmetrische Balance) erst recht unter die Lupe zu nehmen, da die schon seit 1990 andauernde politische, moralische, gesellschaftliche, mentalitätsmäßige – und sich immer wieder verschärfende – Krise in Ungarn sehr viel mit den Folgen dieses Paktes und seinen Kontexten zu tun hat. Vgl. jüngst eine Reihe der diesbezüglichen Vorlesungen von Foucault im Band Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, hg. von Ulrich Bröckling, Berlin 2010, S. 9–145. Foucault bezeichnet den »Osten« als Raum der »unbestimmt ausgedehnten Gouvernementalität« (ebd., S. 140). Ferner macht er darauf aufmerksam (mit Blick auf »das sozialistische Projekt«), dass die »Milderung« nach dem Terror gerade keine Lockerung der Disziplinierung, sondern auch ihre Verstärkung (wirkungsvollere Implementierung) bedeuten kann: »Sie sagen, der Terror habe nachgelassen. Das ist sicher richtig. Doch im Grunde ist der Terror nicht der Gipfel der Disziplin, sondern deren Scheitern. […] Der Terror ist stets umkehrbar; er fällt fatalerweise auf diejenigen zurück, die ihn ausüben. Die Furcht ist zirkulär. Doch von dem Zeitpunkt an, da die Minister, die Polizeikommissare, die Akademiemitglieder und all die Verantwortlichen der Partei unabsetzbar werden und für sich selbst nichts mehr befürchten, wird über sie die Disziplin voll funktionieren, ohne dass es auch nur die vielleicht ein wenig schimärische, aber stets gegenwärtige Möglichkeit einer Verkehrung gäbe. Herrschen wird die Disziplin, ohne Schatten und ohne Risiko« (ebd., S. 329).

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riert wird.22 Die erwähnte Disposition in Bezug auf die Berichterstattung, die Textproduktion ist laut dem Zeugnis der VA nämlich (auch) eine modale: P. fragt, wie lange das Kind dort bleibt. … Zu Beginn des Schuljahres will ich ihn nach Hause holen lassen, in Anbetracht dessen, daß ich noch 3 Söhne habe, denen ich diese Möglichkeit nicht beschneiden möchte. Als ›sorgender Vater‹ stellte ich die Frage, ob nicht doch angesichts der Eskalation der Lage in Berlin irgendwelche Feindseligkeiten während des Auslandsaufenthaltes meines Sohnes zu befürchten seien. Wie ekelhaft duckmäuserisch. – Der Agent wird immer besser. Wie ein guter postmoderner Autor […] vermischt er das Fiktive mit dem Realen, er schafft eine reale Situation und fiktionalisiert darin nach Belieben. Immer komplizenhafter wird der Tonfall; als sorgender Vater zwinkert er dem Führungsoffizier zu. (VA 206 f.)

Der Pakt zwischen System und Spitzel soll oder muss also auch von der Modalität besiegelt, der Bericht auch modal codiert sein (auf der Ebene der Adressierung und Verarbeitung des archivierten Materials). Diese Modalität zeugt wiederum nicht einfach von der Einrichtung eines Codes, sondern vielmehr von der inneren (individuellen) Disposition des Spitzels, seiner Ergebenheit den Aufgaben und dem System gegenüber. Die Gewalt der Archivierung greift also in die Subjekte selber hinein. Man könnte sagen, die Tatsache, dass »ein Bericht nie nichtssagend« ist, auch wenn er inhaltlich nichts wirklich Relevantes auszusagen scheint, bezeichne oder bezeuge doch den Meineid, den Verlust der Wahrhaftigkeit. Der Bericht erscheint in dieser Funktion als Lüge, als Missbrauch des Vertrauens des Anderen, als eine implizite Kontamination der Kommunikation bzw. ihrer Bedingung, die in einem Ja-Sagen, dem (immer schon) gegebenen Wort gründet. Das jeweilige, zum Zwecke der Berichterstattung initiierte oder generierte Gespräch ist von vornherein an einen Dritten adressiert, von dem der Gesprächspartner nichts weiß. Zudem wird dieses Gespräch auch aufgezeichnet und medial umgeformt, was seine bestimmte Codierung und Lesart, seine Übersetzung in einen anderen Kontext ermöglicht.23 Hier ist noch Folgendes anzumerken: die Einführung oder Rekrutierung des Agenten in das »Netz« hat den Kandidaten vor allem zu einer belastenden Aussage gezwungen, um ihn nachher, mit Hilfe dieses Belastungsmoments, für die Organisation gewinnen zu können.24 Ein scheinbarer performativer Akt also, dessen Insinuierung auch im Archiv der VA auftaucht: »Auswertung: Sein Bericht ist gut, obgleich wir die Aussage bereits auch an anderer Stelle überprüfen konnten. Aber dennoch wertvoll, da wir sehen, daß Agent einen gewissen Willen zur Arbeit zeigt. Vielleicht ist das der Augenblick des Sichabfindens.« (VA 87) In diesem Lichte wird die 22 23 24

Vgl. Rainer, Jelentések hálójában, S. 75. Beispiele für die im Vorhinein erstellte Choreografie der Gespräche siehe VA 261 f. Zur Methode dieser »Gewinnung« siehe Rainer, Jelentések hálójában, S. 73 f.

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Erwartung unterminiert, dass solche Agenten von sich aus ohne weiteres ein Zeugnis über ihren Verrat oder ihre Tätigkeit in der Nachgeschichte ablegen sollten, sind doch zumindest einige von ihnen bereits von einem »Bekenntnisakt« gezeichnet oder stigmatisiert. Die Funktion des Philologen bleibt aber mindestens zweifach in Geltung: Der Erzähler bezeugt die sprachliche Kompromittierung des Vaters als Subjekt und Objekt der Berichterstattung. Das wird auch in der »Immanenz« des Berichtes, in der Relation zwischen Bericht als Text und als Produkt der archivarischen Macht (mit politischer Codierung) wiederholt (wo auch eine Differenz zwischen den beiden erscheint, ohne freilich die Bedeutung des Faktums der Berichterstattung aufzuheben). Dieser Aspekt wiederum bildet eine Parallele zur referentiellen Kontamination der erwähnten eigenen literarischen Texte, vornehmlich der Harmonia Caelestis. Eine paradoxe Parallele: So wie die Gespräche im Bericht mehrfach transponiert werden, so wird die Beichte der VA von den früheren literarischen Texten gewissermaßen gelesen und umgekehrt. Eine neutrale Beichte oder ein Zeugnis scheint nicht möglich zu sein, und das nicht nur aus persönlich-inneren (emotionalen), sondern auch aus sprachlich-textuellen Gründen. Zunächst ist aber der erste »philologische« Aspekt zu beleuchten: darüber hinaus, dass überhaupt berichtet wird, wiederholt die sprachliche Art und Weise der Archivierung den kompromittierenden »Sündenfall«, wie das in Orthographie und bestimmten Formulierungen dem professionellen Leser-Autor Esterházy unmittelbar auffällt (VA 52 und 56: »Kontakte weiterentwickeln: Wie er diese viehischen Ausdrücke gelernt hat!«). Zuvor hat sich ihm – wiederum noch vor jeglichem Inhalt – die unverwechselbare, ihm nur zu gut bekannte Handschrift seines Vaters aufgedrängt (VA 15), ein traumatisierendes Moment, das auch später noch wirksam bleibt (VA 236): Der idiomatische Zug der Handschrift (als einer – mit Freud gesprochen – »sachlichen Erinnerungsspur«) wird mit dem unpersönlichen, technisch-bürokratischen Vokabular (als »Wortbesetzungen«)25 kontrastiert, und so entfaltet diese Verdopplung ihre verheerende Wirkung auf den Sohn.26 Der Zeuge steht hier in einer selbstaufhebenden Kreuzung: Er ist Kopist einer unverwechselbaren Handschrift, zugleich eines hochgradig machtbedingten und inszenierten Diskurses und die Frage stellt sich, welche(n) er denn bezeuge. Die Handschrift im Modus des gedruckten Textes zu bezeugen, ist bereits durch den medialen Wechsel von einem potentiellen Meineid erkauft, und so kann sich der Zeuge auch seinem eigenen Zeugnis entfremden. Durch dieses Zeugnis hindurch zu sprechen »gelingt« dem Vater aber immer wieder, in den halluzinatorischen Momenten, wo der Sohn 25

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Vgl. Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: ders., Studienausgabe, 10 Bde., hg. von Alexander Mitscherlich u. a., Bd. 3, Frankfurt am Main 1975, S. 210. Der plötzliche Anblick der väterlichen Handschrift tritt in Parallele mit dem Anblick des Flugzeugs, als dieses in den Turm des World Trade Center rast (VA 298 f.). Zum Trauma in der VA vgl. Menyhért, »Trafik«, S. 265.

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seine Stimme zu vernehmen meint, in Entsprechung zum visuellen idiomatischen Charakter der Handschrift, von dem er sich auch nicht loslösen kann. Dieser traumatische Effekt kreist weiter im Sachverhalt, dass Esterházy in Hinsicht auf Harmonia Caelestis zu seinem eigenen Philologen wird und der Text des eigenen Romans an vielen Stellen (selbstverständlich vor allem in Bezug auf den Vater) wörtliche Bedeutungen zu suggerieren scheint, eine quasi-referentielle Funktion erhält. Der für bekannt gehaltene Text zeigt plötzlich an, dass er im Prinzip immer schon von diesen gespenstischen Referenzen kontaminiert war und dass er semantisch-referentiell unverfügbar ist, was gerade auch an der Nachträglichkeit des referentiellen (vom Archiv bedingten) Effekts ablesbar ist. Der literarische Text wird von der Referentialität der archivarischen Sprache wie von einem Parasiten kontaminiert, Text und Außertextliches kommen in der VA auf eine Weise in Berührung, die Esterházys seit jeher dezidierte intertextuelle Poetik zu verunsichern scheint. Zitate aus Harmonia Caelestis erhalten plötzlich eine literale Bedeutung: Wenn zum Beispiel der Sohn meines Vaters seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, daß sie eine Familie waren, ein bißchen Goethe, ein bißchen Bonaparte, mit Helden unter ihnen und Verrätern, bat es sich mein Vater empört aus, was denn für Verräter?! Wer denn konkret?! Konkret, f*ck it, du. So darf man doch nicht reden!! Offensichtlich hielt er die Existenz eines solchen prinzipiell für ausgeschlossen. […] Hier, von den Seiten 57 und 58, könnte ich durchgehend abschreiben. Im übrigen ist ausgerechnet mein Vater ein gutes Beispiel für den sog. Verräter-Meinvater. Der Autor als Prophet – schon wahr, in vollstem Maß in seinem eigenen Land. (VA 130)

Oder: »[Wieder habe ich einen Satz aufgeblättert, der einen neuen Sinn erhält: Mein Vater war im Grunde genommen ein schlechter Mensch, eine gemeine Wanze, aber im wesentlichen kam das nie heraus, es kam nicht dazu. – Doch.]« (VA 346)27 Interessanter sind die selteneren Fälle, wo es zu einer Dekanonisierung der Harmonia kommt, nämlich eine Ambivalenz des Romans zutage tritt, die auch den Verfasser überrascht und ratlos macht:

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Ähnliche Beispiele aus dem Roman ließen sich noch finden, die in der VA nicht erwähnt werden (z. B. HC 196). Wichtig ist noch die längere Stelle im Roman über die »Einsamkeit« des Vaters nach 1956, die im Lichte der geheimen Agentenrolle eine weitere Sinnkonkretisierung erfährt, wie der Erzähler der VA eingangs überrascht feststellt, vgl. VA 26 f. Ferner der Schluss des Romans, der auch semantisch entlarvt wird: »… sitzt mein Vater schon an der Hermes Baby, die ununterbrochen rattert, wie eine Maschinenpistole, er schlägt und drischt auf sie ein, und die Wörter fließen, fließen nur so aus ihr heraus, fallen aufs weiße Papier, Wörter, mit denen er nichts, aber auch gar nichts zu schaffen hat, niemals hatte und auch niemals haben wird. Reden wir nicht um den heißen Brei herum, es ist eine schöne Szene, einer der schönsten Romanschlüsse, vielschichtig, schmerzvoll und erhebend. Nur: Der Spitzel schreibt seinen Bericht« (VA 145).

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S. 307: Ein Glück, daß er es nicht erzählt hat, denn das wäre dann wieder für meine Mama zuviel gewesen. Und mein Vater, bei dem alles zusammenlief, wie das Wasser in den Ozean, dachte sich (als er noch lebte), es gibt sicher auch jemanden, einen Jemand, der mir nicht alles erzählt, damit es auch für mich nicht zuviel wird. Was bedeutet das jetzt? Wie gut für mich, die Götter passen auf mich auf, oder daß immer noch nicht alles gesagt ist? (Als ob sich im Buch selbst ein vor mir verstecktes Wissen verborgen halten würde, so lese ich es. Wenn das kein Hochmut ist, weiß ich nicht, was.) (VA 137 f.)28

In diesem Fall macht die VA den Text von Harmonia Caelestis unlesbar, gerade der referentielle Kommentar potenziert die Mehrdeutigkeit des ›Mastertextes‹. Dieses Verhältnis kennzeichnet auch die anstelle des Täters abgelegte Beichte, die nicht unbedingt zu einer ethischen Balance führt, sondern die Unkenntlichkeit oder Unerkennbarkeit des Vaters steigert.29 Denn Harmonia caelestis könnte beinahe als eine unbewusste Beichte aufgefasst werden, bar des Wissens des Autorsubjekts, wo der Text gleichsam von sich aus, zwischen den Zeilen die unterlassene Beichte, das Bekenntnis, für den Vater ablegt, ohne diese aber als einen eigenen performativen ›Akt‹ auszuführen. Vielmehr fungiert er wirklich als Archiv eines Geständnisses, wenn auch aus der Perspektive der Nachträglichkeit. Das ist natürlich vom Lesen – von der nachträglichen Perspektive der VA – bedingt, und hier kommt die genuin literarische Dimension des Romans – über Klartexte der wörtlichen Bedeutung hinaus – zum Vorschein, in dieser quasi-performativen Eigenschaft, die aber alles andere als eine ›Handlung‹ oder eine ›Performanz‹ ist, vielmehr erst in einer Lektüre- und Zitationsfigur und ihrer Verunsicherung – auch der Relation von Text und Außertextlichem – sich ereignet.30 Die literarische Performativität findet also zwischen zwei Texten, zwischen Text und Kommentar bzw. Zitat statt, was aber im gleichen Zuge auch eine Dekanonisierung des »Originals«, des Mastertextes mit 28

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Die Frage »und was heißt das also alles?« wiederum ist ein Zitat aus Harmonia caelestis (HC 21) und suggeriert die intrinsische Ambivalenz des Romantextes. Vgl. hierzu eine Bemerkung Gottfried Benns: »Es ist zu vermuten, daß in jedem bedeutenden Werk Stellen sind, die dem Autor selber unklar bleiben« (»Roman des Phänotyp«, in: ders., Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 2006, S. 161). »Eines [– alles! alles! –] begreife ich nach wie vor überhaupt nicht – wieso unser Vater auf uns keinerlei Angst ausgestrahlt hat. […] Daß es gut wäre wegzutauchen. Warum haben wir nur Ruhe und Unanfechtbarkeit gesehen? Und ein wenig Geheimnis« (VA 273). »Er verbreitete sie nicht. Er selbst war diese Servilität. Aber wenn er etwas verbreitete, so war es deren Gegenteil. Man möge fragen, wer ihn kannte. Ich sage es nicht zu seiner Entschuldigung. Und ich begreife auch nicht, wie es möglich war. Kann es sein, daß mein Vater ein großer Schauspieler war?« (VA 297) Vgl. das Gespräch mit Roberto in HC, das die »Komplexität« der Vaterfigur auf subtile Weise andeutet (HC 823–924). Vgl. hierzu eine selbstreflexive Bemerkung in HC: »Auch wenn es aus der Wirklichkeit geschöpft wurde, sollte man es lesen, als wäre es ein Roman, und nicht mehr und nichts weniger davon erwarten, als ein Roman zu geben vermag (alles)« (427).

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sich bringt und aufdeckt, dass dieser nie mit sich selbst identisch war.31 Da der Kommentar auf Zitierung, also auf einem anderen Text basiert (»Verbesserung« meinte im Vokabular von Esterházy seit jeher Zitierung),32 ist der Bezug zwischen Text und Referenz nicht einer interpretatorischen Subjektivität, sondern Texten zu verdanken. Ferner wird die performative Qualität der »gelungenen« Beichte gerade verunsichert. Zwar kann man von der Kenntnis der verschwiegenen Agentenrolle des Vaters nicht abstrahieren und (wohl nicht nur) bestimmte Passagen des Romans in dieser Lesart auffassen, doch ist in diesem letzten Beispiel gerade die Problematik der Beichte und a fortiori der Vergebung adressiert, die erst recht zu einem Dilemma interpretatorischer und »ethischer« Art avancieren. Dadurch wird aber auch der »Bericht« der VA zu einem Text, zu einem hybriden Diskurs, nicht nur der Roman wird von der Referentialität, von der wörtlichen Bedeutung heimgesucht – gerade dadurch, dass er die nicht-identische Textualität des Romans aufdeckt. Hier sieht man, dass die rhetorische Flexibilität und die referentielle Ausgeliefertheit der Literatur identisch sind. Das Literarische ist demnach nicht einfach eine technisch-instrumentell konstruierte Sprache, sondern die Entbindung der Sprache von ihren kulturellen, ideologischen, semantischen, pragmatischen usw. Konventionen, Codierungen und Autorisierungen, was aber auch bedeutet, dass gerade die so freigesetzte Sprache für die Intervention (oder den re-entry) solcher Semantisierungen und Autorisierungen anfällig wird. Jedenfalls wird die ideologiekritische Funktion der Literatur bei Esterházy problematisiert – sie ist der expliziten ideologischen Gewalt gegenüber letztlich ohnmächtig. Zur Kontamination der Literatur durch unvorgesehene Referenzen gesellt sich nämlich auch ihr spiegelsymmetrisches Gegenteil: wo die Referentialität gerade die Kraft der Worte oder Texte bestätigt. Nicht nur wird der Text vom Außertextuellen tangiert, auch das Außertextuelle erscheint als eine Art Zitat der Textualität, deren performative Kraft aber erst dadurch schockartig erfahren wird. Und zwar bereits von Anfang an: »Nicht das Herz ist mir schwer, sondern der Magen. Haargenau wie in HC [S. 890]: ›Am Morgen beim Aufwachen packte mich die Angst an der Gurgel. Das war was anderes, als was ich bis dahin kannte.‹ Nur daß ich dies aus dem Kopf geschrieben habe, aus der Phantasie. Ich hinke meinem Buch hinterher.« (VA 20)33 Der Text wird wiederum erst aus der Nachträglichkeit zum Archiv; im

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32 33

Das ist die dekonstruktive Figur, die Paul de Man in der Relation von Original und Übersetzung im Anschluss an Benjamin aufzeigt, vgl. »Schlußfolgerungen: Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Alfred Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997, S. 196–197. Vgl. Bányai, Derű vigasz nélkül, S. 257. In HC erfolgte ein ähnlicher Effekt mit einem Zitat aus János Aranys Toldi (der in Ungarn berühmte Auftakt des Werkes): »Ich preßte meinen Kopf auf die warme Erde. Es geschah, wie es geschrieben steht: Sengend brannte die Sonne auf die kahle Heide. Wortwörtlich. Man kann unmöglich nicht glauben, was ich da sage. Undenkbar« (HC 608).

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Zuge einer Lektürefigur, eines Wiederlesens,34 das in einer virtuellen textuellen Vorgängigkeit der Referenz gegenüber gründet. Das sprachlich-textuelle Zitat hingegen erhält einen quasi materiell-indexikalischen Charakter. Ferner wird nicht nur der Roman von der archivarischen Macht und ihrer referentiellen Gewalt kontaminiert, sondern die Sprache selbst, z. B. auf der Ebene des Eigennamens und verschiedener metaphorischer Ausdrücke – etwa der Name des Vaters in einem Spruch, dessen kalendarischer Sinn eine auf die Agentengeschichte bezogene Bedeutung erhalten kann: »Das Radio ist an, eine idiotische Stimme sagt gerade: Wenn Matthias kein Eis findet, macht er welches.« (VA 177) Hier kehrt die übertragene, körperlose, unpersönliche Stimme eine potentielle Gewalt der Sprache selber – aber vielleicht nur in dieser Übertragung? – hervor, ihre semantische Unschuld erweist sich als illusorisch. Ähnliches gilt für den Ausdruck »tégla« (»Ziegel«), der im Slang »Spitzel« bedeutet: »Er bot sofort an, bestimmte Aufgaben für uns zu erledigen. Er betonte, nicht emigrieren zu wollen, da er seine Frau und seine 4 Kinder nicht hier läßt. Die Einheit der Familie, wie schön! Die Familie als wertebewahrender Baustein [tégla] der Gesellschaft. [Und darauf ein Satz, der in der Übersetzung von H. Skirecki fehlt:] Der Scherz ergibt sich von selbst.« (VA 177, JK 137) In diesen Beispielen wird die referentielle Bedeutung metaphorisch in ein anderes Bezeichnetes, die metaphorische Bedeutung via Slang-Semantik in eine referentielle gekehrt. Der Verlust der Verfügbarkeit der Sprache verstärkt sich aber in Fällen, wo der Erzähler/Abschreiber seine eigene Sprache, ihre kognitive und performative Dimension nicht beherrschen kann: er kann auf Fragen nicht die Wahrheit sagen (VA 228) bzw. seine Motivation zur Antwort wird fahl, indem sie ausgesprochen wird,35 ferner muss er die Verselbständigung der Sprache registrieren.36 Und so ist es fast schon folgerichtig, dass der Erzähler und Kopist der VA in seinen traumatischen Symptomen nicht umhin kann, gewisse Struktureigenschaften des Vaters als Subjekt und Objekt der Berichterstattung und ihrer Gewalt zu reproduzieren oder zu spiegeln. Die grundlegende Verdopplung in seiner textuellen Rolle – Leser und Scriptor zugleich zu sein – wiederholt gewissermaßen die Situation des Berichterstatters, der seinen Text von vornherein unter der Schirmherrschaft eines bestimmten politischen bzw. Adressierungscodes zu schreiben und zu lesen hatte. Der Erzähler der VA unterliegt dieser Schwankung dermaßen, dass er dem gelesenen Material oft verzweifelte Bemerkungen hinzufügt bzw. die kompromittierende Lage mit Reflexionen versieht, die manchmal etwas unbeholfen, aber 34 35

36

Vgl. Dobos, Az értelmezés lezárhatatlansága, S. 400. »Sie fragten im übrigen, warum ich schreibe, aber ich konnte darauf nicht antworten, gab nur kleinere Blasiertheiten von mir. Ich hätte sagen sollen, daß mich ein ständiges inneres Feuer vorwärtstreibe, die Geheimnisse des Kosmos auszuspähen, das verbrennende Feuer der Neugier und des Ehrgeizes. Das ist auch wahr, nur daß es falsch wird (und lächerlich, aber das zählt jetzt nicht), wenn ich es ausspreche« (VA 174). Vgl. Dobos, Az értelmezés lezárhatatlansága, S. 396.

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auch hyperbolisch, reduktiv wie generalisierend zugleich klingen, oft ihre Funktion auch nicht ermittelt werden kann. Abgesehen von dieser durchgehenden Eigenschaft der VA gibt es doch Momente der erwähnten Verdopplung von grundlegender Tragweite. Das Wichtigste ist möglicherweise die Kreuzung von persönlicher Involvierung und unpersönlicher Perspektive, die die mediale Situation des »Erzählers« figuriert, Kopist und Kommentator zugleich zu sein. »Wiederholung: Ich beschreibe, was ich vorfinde, und beobachte mich wie ein Tier – soviel kann ich tun, bis hierhin reicht es.« (VA 185)37 Einerseits die maschinelle Prozedur, eine regelrechte Aktenführung, als materialer Prozess bar jeder anthropomorphen Perspektive, andererseits die emotionale und moralische Verbundenheit, die nicht auszuschalten ist, um ein reines mediales oder archivarisches Apriori zu affirmieren.38 Diese letzte Operation wäre schlichtweg die Entschuldigung des Vaters und aller anderen Spitzel. Man sieht also, dass noch so sehr begründete kulturtechnische Beobachtungen und Überlegungen die performative (»ethische« und politische) Perspektive nicht außer Kraft setzen können, was eben heißt, dass sie nicht bloß »Beobachtungen« sind. Freilich könnte man die »Ethik« (mangels eines besseren Wortes) auch als Anthropomorphismus abtun, dieses Verlangen ist aber ein menschliches, allzumenschliches Begehren, wie man befürchten muss. Diese Maschinalität und ihre das Persönliche auslöschende Wirkung kommt am eindrücklichsten im Abschreiben von »k« (»könny«, »Träne«) zum Vorschein, wo auch das Signal der direktesten, auch körperlichen Betroffenheit des Sohnes39 nach einer Weile dem mechanisch-unpersönlichen Aufzeichnen, besser: Abschreiben weicht und gleichsam zum indifferenten Glied einer seriellen Aktenführung wird.40 Einen weiteren Effekt des Abschreibens (nicht einfach Aufschreibens) stellen solche Momente dar, wo der Zeuge und Erzähler sich gerade auf der Ebene der archivierten Sprache in die Position des bezeugten Vaters stellt: »Daß ich seinen Platz eingenommen habe S T, ich bin das Familienoberhaupt, ich bin fortan der Mann, der aus der E.-Straße (über die B-Straße) mit seiner Aktentasche stadteinwärts zieht. Ich betrachtete meinen Schatten wie meinen Vater. Der Schatten als Vater. Plötzliche

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Im Original: »bis hierhin reiche ich« (JK 143). Eine ähnliche Strategie wird von Vismann auf erhellende Weise analysiert (Akten, S. 312 f., wo gar – horribile dictu – die »Subjektwerdung« im Aufschreibesystem 1800 unter postarchivarischen Bedingungen aufgegriffen wird), diese Optik scheint freilich die Kittler’sche Perspektive, jede literarische Operation sei die unbewusste Kopie gegebener Aufschreibesysteme, zu modifizieren. Die Hermeneutik des Selbstverständnisses scheint doch nicht ausrottbar zu sein, solange Menschen und nicht einfach Maschinen im Spiel sind. Zur Spannung zwischen der unverfügbaren, automatischen Körpersprache und der verbalen Sprache vgl. Menyhért, »Trafik«, S. 265. »Ein schöner, großzügiger, hilfsbereiter Mann, [...] der mit heroischer Kraftanstrengung seine vielköpfige Familie unterhielt [T]. ›Blasiert schreibe ich die Ts auf.‹« (VA 214) Im Original steht: »schreibe ab« (JK 165). »T« ist das Zeichen für »Träne«, wo der Sohn in der Konfrontierung mit der Vergangenheit seines Vaters wider Willen weint.

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Wut kam in mir hoch, ich will nicht an diesen … an dieses Neue denken.« (VA 275) Auf der selbstreflexiven Ebene des Textes verschmelzen gar die Perspektiven des Berichts und des literarischen Werkes.41 An einem Punkt kommt es im Zuge dieses Alles-Sagens sogar zu einem »Wirklichkeitseffekt« im Sinne Barthes’, also zu einem nicht-codierten Effekt, gar zu einem »punctum« (oder Anakoluth?): »Sie zeigte mir eine schöne ungarische Briefmarke (Specht), die sie zurechtgelegt hatte, um sie auf den Brief für ihren Sohn zu kleben. Mehr sage ich nicht, aber diese Spechte lassen mich ausflippen. Schlagen, kotzen usw. könnt’ ich.« (VA 283) Dabei könnte diese Stelle im Bericht des Spitzels fast schon ironisch gelesen werden. Gegen Ende der VA kommt es dann zu einer merkwürdigen Szene mit dem Zeugen, die zwischen Traumbeschreibung und Halluzination (oder Zitat?) oszilliert, auch ein eindrückliches Beispiel einer traumatischen Halluzination, die die szenographische Codierung und den referentiellen Wert der Beschreibung verunsichert.42 Der Zeuge sieht sich vom Bezeugten gesehen (ihre Perspektiven lassen sich voneinander nicht trennen), der/das die Zeit(phas)en subversiv durcheinanderbringt. Und dem entspricht, dass im Zuge des Wiederlesens der HC andere Stimmen oder semantische Effekte zum Vorschein kommen, über deren zeitliche Zugehörigkeit keine definitive Entscheidung möglich ist. Diese Kreuzung zwischen maschineller Wiederholung und persönlicher Betroffenheit ist aber die grundlegende Bedingung der Möglichkeit des Zeugnisses, der Zeugenschaft selbst.43 Die beiden Merkmale stehen in wechselseitiger Spannung, 41

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Die Perspektive des literarischen Autors: »Vermerk: Agent erstellt seine Berichte viel zu oberflächlich. Deshalb müssen die Treffs so ausgewählt werden, daß wir uns mit ihm befassen und ihn seine Berichte umschreiben lassen können. Was er dann noch erzählt, muß man ihn aufschreiben lassen, da er seine Aufgabe erfüllt, aber nichts aufschreibt. Das zum Beispiel unterscheidet ihn klar von mir, ich schreibe alles auf. Gerade das wäre ja meine Aufgabe.« (VA 78) Die Perspektive des Berichterstatters, freilich aus der Sicht des Zeugen: »Plötzlich [...] erkannte ich: Mein Vater hat mit seinen sog. ›anständigen‹, seinen ›guten‹ Sätzen nicht nicht schaden wollen, hat nicht den durch ihn in Not Geratenen helfen wollen, sondern er war nur – aufrichtig. [Also auch das von ihm geerbt …] Aufrichtig zum Verbindungsoffizier. Oder nicht einmal das, er schreibt einfach alles auf. Er schreibt, X. sei unschuldig, weil er dachte, daß X, unschuldig sei. Nur das. Hätte er gedacht, er sei ein Vaterlandsverräter, hätte er geschrieben: ein Vaterlandsverräter. Ganz und gar Flaubert. Eher Stendhal« (VA 190 f.). »[In einem Fahrstuhl in Paris – ich reise ›Harmonia‹ hinterher – sind rundum Spiegel, von überall her gucke ich zurück, ich kann nicht widerstehen, trete näher, starre mir ins Gesicht, als ich darin plötzlich das meines Vaters erkenne. Ich sehe, da ist mein Vater, er ist erschienen, als wäre er auferstanden, ich rühre mich nicht, um ihn nicht zu verscheuchen. Ich sehe in meinem Auge sein Auge, Papika, ich seufze auf (irgendwoher aus frühester Kindheit), ich sehe seinen blinzelnden, lustigen, zweifelnden Blick, als er noch zeushaft gut gelaunt war, doch wenn er darauf noch einen trinken wird, braucht es dann nicht mehr allzu lang … Diese Unsicherheit entdecke ich in meinem Gesicht, diese Unzuverlässigkeit, die ich jetzt so nahe spüre wie ihn, samt und sonders, jetzt, in diesem reichlich funkelnden französischen Fahrstuhl. – Die Dossiers sind weit weg, ich habe sie lange schon nicht gesehen, man sieht es mir an.]« (VA 351) Vgl. Jacques Derrida, Bleibe. Maurice Blanchot, Wien 2003, S. 44 f.

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die maschinelle Iterabilität droht die ethische Perspektive des Zeugen auszulöschen, seine testimoniale Fähigkeit und Kompetenz – die ihn als Subjekt begründen oder kennzeichnen würde – zu problematisieren. Die Gewalt des Archivs und der Archivierung kommt in dieser Bedrohung zutage, die nicht einfach vom Bericht, sondern auch vom eigenen Text her erscheint (wenn die Perspektiven der beiden nicht mehr ganz zu trennen sind). Da der Zeuge eine metasprachliche Distanz zum Bezeugten nicht aufrechterhalten kann (sonst wäre sein Testimonium kein Zeugnis, sondern Beschreibung oder eben Bericht), ist die Zeugenschaft wesensverwandt mit der Wiederholung, die auch technisch-maschinelle Züge in sich birgt oder impliziert. Daher ist der Zeuge sowohl persönlich-singulär als auch unpersönlich, da sein Zeugnis auf Wiederholung hin angelegt ist. Gerade der technische Aspekt bedroht aber die Singularität, die ethische Entscheidung und Urteilsfindung des testimonialen Subjekts. Dieser Aspekt erscheint in der Gewalt des Archivs, die sich als ein Überfluss auftut (»alles sagen/niederschreiben«), dadurch sich aber gegen sich selbst kehrt und gerade das Archiv – seine nomologische und codierende Verfügungsgewalt – schwächt (vgl. das Beispiel »Specht«). Das Zeugnis resultiert aus der Gewalt des Archivs in der Form ihrer Wiederholung, das Zeugnis ist also an den Exzess der archivarischen Gewalt (die sich dadurch schwächt) gebunden (der Exzess als die Passion, die das Zeugnis hervorruft44 oder in ihm wirkt, als eine Intensität). Wie zu sehen war, sind gerade an diesem Punkt der ›archiviolithische‹ und literarische Diskurs, Archiv und Zeugnis nicht ganz voneinander zu trennen. Das ist der Zusammenhang, von dem sich die VA irritiert zeigt, vielleicht gerade weil sie die Symptome und Momente dieser grundlegenden – nicht einfach nur ›irritierenden‹ – Verflechtung aufzeigt oder enthält. Welche Bewandtnis hat es mit der supplementären Beichte und der potentiellen Entschuldigung (oder Beschuldigung) des Vaters seitens des Zeugen angesichts dieser Verschränkung? Wie schon dargestellt, ist der Sohn der beglaubigende Zeuge vieler Äußerungen, Verhaltensweisen usw. des Vaters und legt an seiner Statt bzw. für ihn seine Beichte ab (er wiederholt die einst ausgebliebene Beichte und zeichnet sie auch gegen), wo diese beiden Richtungen von den medialen Funktionen des Abschreibens und des Kommentierens modelliert werden. Diese beiden Momente lassen sich nicht zur Einheit verschmelzen, auch wenn sie öfters nicht auseinanderzuhalten sind, sie können nicht in die Form einer Gegenwart gebracht werden. Bereits aufgrund dieser Verdopplung wird es sowohl nötig als auch unmöglich, den Vater in welcher Weise auch immer zu ent- oder zu beschuldigen (für das Erstere sind die Bezugnahmen auf die Kádár-Epoche, die auf der instituierten Lüge basierte, für das Zweite die Berufung auf die Freiheit des Menschen – als anthropologische Konstante, auch im Schluss der VA – das Beispiel). Beide Strategien überzeugen eigentlich nicht ganz. Bei einem gewissen Generalisierungsgrad werden die beiden Perspektiven gar identisch: Etwa bei der doch hyperbolischen Parallelisie44

Vgl. ebd., S. 25.

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rung des 11. September mit den Taten des Vaters auf der Achse der »Brutalität der Schöpfung« (VA 298) ist es nur noch eine rhetorische Frage, ob das nun Be- oder Entschuldigung ist (wohl beides) … Denn hier droht der »Mensch« wieder zu einem »Fall« zu werden (wie in Bezug auf Sascha Anderson konstatiert, vgl. VA 176), zumindest wird er dergestalt determiniert, dass damit die Gewalt der Archivierung reproduziert wird – wie dies bei dem brennenden Interesse gewisser Leute an der Vergangenheit anderer auch heute noch, lange nach dem Systemwandel in Ungarn der Fall ist, wo also nach »Fällen« gesucht wird (so setzt sich also die Beobachtungslogik in Bezug auf die Vergangenheit nun fort).45 Tiefer geht hingegen die Erwägung der Möglichkeit, dass die Zeugenschaft hier in einer Scham für den Vater bestehen könnte: »Es ist leichter, sich zu schämen, als die Scham in seinem Gesicht zu ertragen. Es ist leichter, für ihn zu beten, obschon Beten schwer ist, als mit ihm zu brüllen oder verächtlich zu schweigen.« (VA 229) Das ist die Situation, in der man sich, wie Walter Benjamin sagt, für andere schämt: nicht nur seiner selbst wegen, sondern im Sinne einer »gesellschaftlich anspruchsvolle[n] Reaktion des Menschen«, weshalb für Benjamin die Scham auch »die stärkste Gebärde Kafkas« darstellt.46 Diese für andere gefühlte Scham steht möglicherweise im Zeichen der erwähnten Unpersönlichkeit, die Scham für sich selbst ist zwar intersubjektiv-gesellschaftlich bedingt, aber verbleibt im Kreise der eigenen Subjektivität. Die Scham für den Spitzel vereinigt in sich also die Momente der persönlichen Involviertheit und des Unpersönlichen – nur eine solche subjektivierte wie zugleich desubjektivierte Scham entspricht der gerechten Zeugenschaft. Diese Zeugenschaft vergibt nicht einfach aufgrund von ökonomischen Modellen oder aus Verdrängung: Das Ausagieren der Iterabilität des Berichts als eines Zeugnisses ist an eine Materialität gekoppelt, die aber auch Vergessen meint. Noch weniger autorisiert sie sich zur Schuldzuweisung und dann zur inszenierten Aufhe-

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Vgl. Heideggers Bemerkung: »Das Miteinander im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske der Füreinander spielt ein Gegeneinander« (Sein und Zeit, Tübingen 1986, S. 175). Zur Freigabe der Archivbestände und zu deren rechtlich-politischen und kollektiv bedingten mentalen Anomalien in Ungarn vgl. János Kenedi, K. belügyi iratfelmérő jelentése a Kastélyból [Der Bericht des Aktenvermessers K. aus dem Schloß], Budapest 2000. Ferner György Gyarmati, A közelmúlt feltárása és az ügynökkérdés [Die Aufdeckung der neueren Vergangenheit und die Agentenfrage], Mozgó Világ 2007/9 (hier mit kurzer Anspielung auf die VA.) Zu rechtlichen Umständen der Akteneinsicht (Stasi-Unterlagen-Gesetz) in Deutschland und zu etwaigen diskursiv-literarischen Begleiteffekten und Thematisierungen vgl. Vismann, Akten, S. 300–318. Walter Benjamin, Franz Kafka, in: ders., Gesammelte Schriften II.2, Frankfurt am Main 1977, S. 428. »So ist Kafkas Scham nicht persönlicher, als das Leben und Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: ›Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie […] Wegen dieser unbekannten Familie […] kann er nicht entlassen werden‹«.

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bung der von ihr selbst eingeführten Schuld, da eine solche, sich nicht als Zeugen in Vordergrund stellende Wiederholung gewissermaßen bar jeder Intention ist. Hinsichtlich der Scham ist an dieser Stelle eine Hypothese in Bezug auf die durchpolitisierte gesellschaftliche Dimension der Kádár-Ära naheliegend: In einer Kollektivität, die auf der institutionalisierten Lüge basierte (resultierend aus dem »Auseinandergehen von öffentlicher und privater Rede«47), tauschen die Scham seiner selbst wegen und die Scham anderer wegen die Plätze und höhlen vor allem den Begriff der Verantwortung (für die Gemeinschaft) aus. Man schämt sich für sich selbst wie für andere, um sich selbst zu entschuldigen, und schämt sich für andere, wie gleichsam für sich selbst, um sie beschuldigen zu können: ein Meineid oder eine Selbstlüge der Scham. In beiden Fällen wird die Verantwortung umgangen, und so kommt es in der Nachgeschichte einer solchen Ära zu einer tiefgreifenden moralischen, gesellschaftlichen und politischen Krise, die Ungarn in den letzten beiden Jahrzehnten kennzeichnet (und der Reduktion der – in der ungarischen Geschichte und Kultur im Vergleich zu westlicheren Gegenden begrifflich und mentalitätsmäßig weniger stark ausgeprägten – Individualität im Zuge des Kollektivismus entspricht). Es kommt zu Momenten, wo die Scham anderer wegen ganz und gar ohne Rückhalt ist und von Berufungen auf allgemeine habitualisierte Präzedenzen gerechtfertigt bzw. bagatellisiert wird, wie dies gerade Esterházy (und noch vielen ungarischen Intellektuellen) unterlaufen ist.48 Gerade die gelegentliche Ununterscheidbarkeit der Perspektiven von Bericht und abschreibendem Kommentar birgt in sich die Chance, den »Fall« des Vaters auf gerechte Weise zu bezeugen, gerade jene Dimension, in der der Zeuge seine vorgängige ethische, ideologiekritische, metasprachliche und ästhetische Kompetenz verliert, dort, wo Iterabilität und Singularität des Zeugnisses voneinander nicht zu trennen sind (nur so kommt es zur Benjamin’schen Scham für andere, die auch Scham vor der Sprache oder ihrer Benutzung ist, der die Gewalt – der Benennung etwa – wohl intrinsisch eignet).49 Das könnte ein Name für Fiktion sein, eine 47 48

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Vgl. Kende, Eltékozolt forradalom?, S. 213. Eine der Bemerkungen in einem Interview Esterházys zur skandalösen Rede von Őszöd (in 2006) des damaligen Ministerpräsidenten Gyurcsány, in der dieser die auf schamlosen Lügen basierende Politik seiner Partei und der Regierung »eingestand« (aber wohlgemerkt nicht vor der Öffentlichkeit, sondern im geschlossenen Kreis seiner Parteigenossen), war folgende: »[N]un hat der König selbst eingeräumt, dass der König nackt ist. Daher gelingt es uns nicht, so gerne zu lachen, wie im Märchen.« (Tageszeitung Népszabadság, 26.09.2006) Gerade im Lichte der VA ist das natürlich eine höchst problematische »Stellungnahme« gewesen: Er wirft dem Vater vor, dass bei ihm »Anzeichen von aktiver Feindseligkeit« nicht zu erkennen seien (VA 278, vgl. dazu noch ebd. 302 f.), was aber auf ihn selbst anlässlich der Gyurcsány-Rede potenziert zutrifft (er wurde zu seiner Stellungnahme ja nicht gerade gezwungen). In welchem Verhältnis steht denn die Entschuldigung, gar Exemplarisierung des Lügners im Interview mit dem Schock der VA? Vgl. hierzu eine Szene aus Harmonia caelestis, die die Sprache als Gewalt, den kompromittierenden Charakter der Worte thematisiert, im Zusammenhang eines privaten Archivs der Mutter in Bezug auf den Vater: »In diesen Notizen traute sich meine Mutter nicht, die Wörter auszuschreiben, sie

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Fiktion,50 die die Referenz und vor allem ihre Unvorhersehbarkeit nicht negiert. Das kann aber auch das Moment des höchsten Verrats sein, wo gerade die Gewalt des Archivierungscodes bestätigt oder gegengezeichnet wird, da zwischen Vergessen und Reproduktion einen Unterschied zu markieren letztlich unmöglich ist (wie zwischen rechtserhaltender und rechtsvernichtender Gewalt).51 Die Lüge – und vor allem die Selbstlüge – wäre in dieser Sicht nicht einfach eine kognitiv-intentionale Operation, sondern läge einer solchen voraus: als Übernahme, Aneignung oder Wiederholung bestimmter sprachlicher Rollenmuster und Codes, die zum Spitzelbericht, ferner zum Meineid der Scham (zur Schamlosigkeit) unerlässlich sind.52 Wenn im Zeugnis Singularität und Iterabilität voneinander nicht zu trennen sind, so meint das die Gabe: etwas, das das Eigene des Beschenkten betrifft, doch von ihm nicht zu beherrschen oder anzueignen ist (vgl. etwa die sprachlichen und spiegeleffektgebundenen Identifikationen von Vater und Sohn). In dieser Exposition ist das Subjekt weder einfach frei noch unfrei wie das die VA vorauszusetzen scheint,53 sondern jenseits von dieser Alternative, sofern man frei und unfrei als Attribute (von Subjekten) versteht. Freiheit ist hier kein Attribut (und erst recht nicht das eines unpersönlichen Subjekts), sondern Effekt einer Gabe, die das Subjekt auf unvorhersehbare Weise zum Zeugen macht. Dennoch war das Subjekt immer schon der Zeuge dieser Gabe (wie der Roman auch von den dunklen Seiten des Vaters Zeugnis abgelegt hat), sofern diese ihn als sein Eigenes betrifft oder heimsucht (auch als Fremdes), gar im eigenen literarischen Text (dem Roman). Das ist also nicht als Eigenschaft vorauszusetzen, Freiheit und Unfreiheit kreuzen sich hier auf eigentümliche Weise, so wie in HC von der »Ehrlichkeit« gesagt wird, sie sei »keine Eigenschaft, sondern eine Gabe«.54 Hier vermutet der Erzähler zwischen

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hatte sichtlich Angst vor den Wörtern, vor der Festschreibung durch Wörter, und sie hatte auch Angst vor den leeren Zeilen, dem gähnenden Nichts, dem Selbstbetrug. Z. B. stur: das bedeutete sturz, sturzbesoffen; lip: daß er Lippenstift am Kragen oder am Körper hatte« (HC 735 f.). Vgl. Derrida, Bleibe, S. 84 f. Zu diesem Zusammenhang bei Benjamin (und über ihn hinaus überhaupt zur Rolle des Gewaltexzesses, die auch in vorliegender Arbeit einen wichtigen Stützpunkt bedeutet) vgl. jüngst Zoltán Kulcsár-Szabó, »Die Politik der reinen Mittel: Walter Benjamin«, in: Csongor Lőrincz (Hg.), Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten, Bielefeld 2011, S. 261–305. Vgl. die weitreichende Beobachtung in Bezug auf das Lügen während der Kádár-Ära und nach dem Systemwandel: »Die Menschen sind fähig, die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie es so wollen. Ich muß sagen, der Zynismus der Kádár-Ära hat nicht soviel Hüfteschwingerei erfordert. Hier und jetzt müssen wir selbst uns schon ehrlich betrügen – sofern das das Ziel ist« (VA 258). Die Schlussthese der VA, »Das Leben meines Vaters ist ein unmittelbarer (und abstoßender) Beweis für die Freiheit des Menschen« (VA 365), ließe sich im Sinne der hier ausgeführten Überlegungen auch umgekehrt verstehen: »Beweis für die Unfreiheit des Menschen«. Es ist aber fraglich, die Geschichte des Vaters unbedingt als Beweis zu verstehen, wird so doch das Schema von Einzelfall und allgemeinem Gesetz, Referenz und Allegorie wiederholt. »mert az őszinteség roppant fontos, nem is tulajdonság, hanem adomány …« (HC im Orig. 637) In der hier etwas simplifizierenden Übersetzung von Terézia Mora: »Ehrlichkeit sei eine sehr wich-

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»Geheimnis« und »Ehrlichkeit« eine Unentscheidbarkeit – vielleicht weil das Subjekt nie wissen kann, weil nicht das Subjekt darüber entscheidet, wann man aufrichtig sein (und nicht etwa schweigen) sollte (»auch schweigen können ist wichtig«). Sogar die eigene Aufrichtigkeit kann zu einem Geheimnis werden, zu etwas Unpersönlichem, dies aber nicht im Zeichen eines kategorischen Imperativs, sondern wegen des materiellen und iterativen Charakters des Zeugnisses. Die Bezeugung könnte nur als eine dekontextualisierend-entcodierende Iteration stattfinden: Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Bericht und Fiktion (wie zwischen persönlicher Involvierung und unpersönlichem Aspekt), wie das im Gebot des »Alles-Sagens« deutlich wurde, wo die Perspektiven des Berichts und der literarischen Fiktion quasi identisch geworden sind. Das zeigt mit Vehemenz, dass es ein morphologisches und phänomenales Unterscheidungsmerkmal für das Literarische nicht gibt, dass dieses vielmehr immaterieller Natur ist. Nur so kann die Literatur ein Geheimnis archivieren, das sie zugleich auch nicht archiviert, wo das Archiv vielmehr an seine Grenzen stößt.55 Dieses archivierte wie nicht-archivierte Geheimnis ist folglich nicht kognitiv-semantischer Natur, sondern ein unsichtbarer Effekt der Iterabilität, die jegliche archivarische Codierung aufzulösen imstande ist – gerade infolge einer Gewalt, die sich in einem Wiederholungszwang gegen das Archiv selbst kehrt,56 die aus dem Exzess der archivarischen Gewalt (also der »Brutalität der Schöpfung«) resultiert bzw. mit ihm zusammenfällt.57 Das Geheimnis steht bzw. konstituiert sich in einer indexikalischen Relation mit dieser Wendung gegen sich selbst. Dass das Geheimnis nicht archivierbar ist, bedeutet die Chance für den Text, zum Zeugnis jenseits des Archivs zu werden. Diese Zeugniswerdung kann jedoch nur in der Interpretation erfolgen – nur durch die paradoxe Freiheit der Interpretation als Zeugenschaft.

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tige Eigenschaft, ja Tugend …« (HC 823). Zur Problematisierung der »Aufrichtigkeit« in der VA vgl. Bányai, Derű vigasz nélkül, S. 257 f. und Menyhért, »Trafik«, S. 264. »Doch vom Geheimnis selbst kann es, per definitionem, kein Archiv geben. Das Geheimnis ist die Asche selbst des Archivs, der Ort, an dem es nicht einmal mehr Sinn macht, ›die Asche selbst‹ oder ›direkt (in) die Asche‹ zu sagen. Es macht keinen Sinn, das Geheimnis dessen zu suchen, was irgendwer, a fortiori ein fiktiver Held, Hanold der Archäologe, hat wissen können. Dies ist es, was diese Literatur bestätigt. Dies ist also ein einzigartiges Zeugnis, die Literatur selbst, die ausgebüchste – oder emanzipierte – Erbin der Heiligen Schrift.« (Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 174 f.) Vgl. die Applikation des Todestriebs im Wiederholungszwang auf das Archiv: »Der/das Eine wird Gewalt/tut sich Gewalt an (L’Un se fait violence). Er/es verletzt und vergewaltigt sich, aber er/es gründet sich auch in Gewalt. […] Als Wiederholung seiner selbst kann der /das Eine diese gründende Gewalt nur wiederholen und erinnern. […] Schreibt man so die Wiederholung ins Herz des Zu-Künftigen ein, so muß allerdings im selben Zug der Todestrieb, die Gewalt des Vergessens, die zusätzliche Unterdrückung (sur-répression), das Anarchiv darin eingeführt werden, kurz, die Möglichkeit, genau das zu töten, das, welches, auch sein Name sei, das Gesetz in seiner Überlieferung trägt: den Archonten des Archivs« (ebd., S. 26 und S. 142 f.). Vgl. Kulcsár-Szabó, »Die Politik der reinen Mittel: Walter Benjamin«, S. 267–272.

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I. »Sony Center« ist der Auftakt von Ulrich Peltzers Teil der Lösung (von 2007) betitelt, der dessen »erste[m] Teil«1 vorangeht. Hier finden sich nicht bloß Leitmotive des nachfolgenden Romans versammelt und verdichtet. Der Auftakt buchstabiert vielmehr eine Problematik digitaler Archive durch, an der sich auch zahlreiche weitere literarische Veröffentlichungen des beginnenden 21. Jahrhunderts abarbeiten. Deren Problemstellung sei deshalb hier mit einem Schlaglicht auf Peltzers Prolog markiert. Mit ›Zentrum‹ ist das ›Sony Center‹ nicht bloß als ein Ort am Potsdamer Platz in Berlin benannt, dessen Architektur auf eigenwillige Weise Offenheit mit Geschlossenheit vereinigt und der trotz kommerzieller Nutzung einen Versammlungsort in der Mitte des neuen Berlins darstellen soll. Der Text beginnt vielmehr in einem verborgenen Zentrum des Sony Centers, dem Arcanum eines Überwachungsraums voll von »Bildschirmen«: »Unter dem Pult stehen die Speichergeräte, Empfänger und verkabelte Rechner, […] ein Raum ohne Fenster«.2 Von diesem versteckten Raum der Beobachtung, Aufzeichnung und auch Archivierung aus lässt sich das Sony Center als Versammlungsraum in stummen Bildern »einer computergesteuerten Serie« erfassen: »Zerteilter Raum – ein großes Puzzle, das sich auf fünf mal fünf Feldern beständig neu figuriert«. So bringt die versteckte, aber allgegenwärtige mikroelektronische Überwachung einen sozial normierten Raum gerade hervor, wo dieser sich als allgemein zugänglich präsentiert: »Nirgends ein Bettler zu entdecken, oder Betrunkene, nur Standard auf sämtlichen Schirmen«.3 Im Arcanum dieses Überwachungsraums ist vorentschieden, dass der Platz des Allgemeinen keine Vielfalt der sich versammelnden Körper ermöglichen soll.4 Stattdessen werden die hier in einem variablen Speicher der Überwachung gesammelten Bilder dazu benutzt, den Ort als einen Allgemeinplatz im Sinne eines Klischees hervorzubringen, das Abweichung bloß in geringem Maße toleriert. 1 2 3 4

Ulrich Peltzer, Teil der Lösung, Zürich 2007, S. 21. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, oder, Vom tätigen Leben, München, Zürich 2003, S. 251–263.

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Zwischen digitalen Kontrolltechnologien, die ihre Wirkungsmacht nicht zuletzt der Fähigkeit zur abgleichenden Archivierung verdanken, und individuellen Entfaltungsspielräumen verortet Peltzers Text sich seinerseits auf einem literarischen Allgemeinplatz im Sinne eines Topos. Eine solche Konstellation liefert seit der Jahrtausendwende zahlreichen Texten der ›westlichen‹ Literatur ihr Sujet. Thematisch speist sich dies meist aus der Auslotung der Möglichkeit eines Protests, der sich nicht als Gegenpol der Kontrolle oder gar als positiver Gegenentwurf zu ihr gerieren mag, um nicht untergründig ihre Logik weiterzuführen und auszuweiten.5 Ein prominenter Referenzpunkt vor allem der deutschsprachigen Debatten darüber, wie sich einerseits Sackgassen der 1968er-Proteste vermeiden lassen und man andererseits doch auf die flexibilisierten und individualisierten gesellschaftlichen Verhältnisse reagieren kann, ist der kurze Text des späten Gilles Deleuze, »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«.6 Deleuze beschreibt hier die seit den 1950ern zu beobachtende Verwandlung westlicher Kulturen von den bei Foucault analysierten Disziplinargesellschaften, die durch Zwang und Einschließung Subjekte bilden, in »Kontrollgesellschaften«. Deren scheinbar individueller Entfaltungsspielraum könne sich wie auf Peltzers Sony Center bloß nach den strikten Maßgaben der Kontrollinstanzen entfalten. Daher schwindet für Deleuze der Möglichkeitsspielraum für Protest und Auflehnung, weshalb es gelte, »neue Widerstandsformen«7 zu erfinden. Der Protest in Peltzers Sony Center besteht darin, in die gegenwärtige Norm unkonformes Verhalten einzuschmuggeln: Die Performance einer Clowngruppe adressiert (in Anlehnung an die seit den späten 1990ern neu aufgelegten Spaßguerilla-Strategien) mit ihren Plakaten nicht nur die Versammelten sondern auch die

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Luc Boltanski und Ève Chiapello beschreiben die Genese der Strukturen der Arbeitswelt des beginnenden 21. Jahrhunderts als Reaktion auf die 1968er-Protestbewegungen und ihre kulturelle Einbindung. Vgl. Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 68–87, S. 142–146, S. 205–209 und S. 254–259. Zur Reproduktion der bestehenden Ordnung durch Protest vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 847–865. Gilles Deleuze, »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unterhandlungen. 1972– 1990, Frankfurt am Main 1993, S. 254–262. Nach der deutschen Veröffentlichung 1993 findet eine für Teile der deutschen Linken einflussreiche Rezeption in den 15 Ausgaben der Zeitschrift Die Beute aus dem Berliner ID Verlag von 1994 bis 1997 statt. Die Aufnahme findet vor der Deleuze-Renaissance zum Jahrtausendwechsel statt, ist also wenig Deleuze-spezifisch und versteht den Kontrollgesellschaftsessay in erster Linie als Weiterführung Foucaults. Auch noch nicht rezipiert sind dessen Schriften zur Gouvernementalität, die den deleuzianischen Überlegungen zur Kontrollgesellschaft weitgehend parallel laufen, aber andere historische Akzente setzen. Vgl. rückblickend für die linke Diskussion »Das Imperium der Schlange. War das 20 Jahrhundert deleuzianisch? Ein Gespräch mit dem Philosophen Olaf Sanders anlässlich des zehnten Todestages von Gilles Deleuze«, in: Jungle World. Die linke Wochenzeitung, Nr. 47, 23.11.2005. Deleuze, »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 262.

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Kameras, mit Anspruch auf Zugang zum Archiv: »Ich will mein Bild«.8 – Der Kontrollapparat ist aufgeschreckt; ein »[s]ich durch Glasfasern fortpflanzender Tastendruck rückt den Geschehnissen auf den Leib«;9 der Sicherheitsdienst wird aus dem Arcanum gelockt. Seine Ordnungsarbeit wird auf dem Versammlungsplatz mit der »Aufklärungsarbeit«10 der Clowns konfrontiert. Diese nutzen den folgenden Menschenauflauf zu Hinweisen auf die Überwachung und zur Gegenarchivierung der Arbeit des Sicherheitsdiensts mit »Digitalkameras, mit denen sie die Ereignisse aufnehmen«.11 Den zur Publiku*msversammlung gemachten Anwesenden fällt es dank eines verteilten »Lageplan[s] […] nicht schwer, die Kameras auszumachen«,12 welche sie nun zur Selbstdarstellung nutzen oder ebenfalls filmisch speichern. Die archivarische Macht der Kontrolle bleibt zwar intakt. Ihr Funktionieren findet sich aber kurzzeitig aus dem Verborgenen gezerrt. Wo die Gegenwartsliteratur eine »schlechte Beobachtbarkeit des modernen Kapitalismus überhaupt«13 konstatiert, soll diese Provokation eine Beschreibung und Analyse ermöglichen. Der Protest fällt so mit Beschreibung und Analyse zusammen bzw. mit ihrer Ermöglichung. Er liegt darin, Machtstrukturen zu exponieren, die darüber funktionieren, dass sie sich der Beschreibbarkeit entziehen. Die literarische Szene rückt die Erzählbarkeit der mikroelektronischen Kontrolle in den Fokus, wo die Erzählinstanz durchgehend die Perspektive der archivierenden Kontrollmacht beibehält. Die Kontrolloperationen laufen gleichermaßen »stumm«14 wie verborgen ab. Erst die Störung durch die »Aktivisten für oder gegen dies oder das«15 provoziert die Erzählung – sowohl eine Erzählung aus Sicht des Kontrollarchivs als auch eine Erzählung über das Kontrollarchiv. Dies bewirkt für den auf die Sony Center-Szene folgenden Haupttext eine merkwürdige Unentscheidbarkeit: Ohne dass den technologisch hochgerüsteten Speichern noch große Aufmerksamkeit zukäme, behält die Erzählinstanz in Teil der Lösung jenen panoptischen Blick bei, den die Störung durch die Clowns am Anfang exponiert. Im Haupttext dient die Erzählperspektive dazu, die Figuren mit wechselnden internen Fokalisierungen den Konflikt zwischen Standardisierungsdruck, individueller Devianz und Sorge um das Allgemeine in ihrer Arbeits- und Privatwelt austragen zu lassen: Zahlreiche von den Figuren individuell angelegte, digitale und analoge Archive stellt der Text einem anscheinend immer dichter werdenden Netz polizeilicher Überwachung gegenüber, das universellen Zugriff auf einmal gespeicherte 8 9 10 11 12 13

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Peltzer, Teil der Lösung, S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 19. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Stephan Wackwitz: »Wer hier Probleme bekommt, ist weg. Bericht aus Manhattan«, in: die tageszeitung, 15.09.2009, S. 10. Für den Hinweis danke ich Karin Harasser. Peltzer, Teil der Lösung, S. 7. Ebd., S. 19.

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Bilder zu haben scheint. Der nunmehr erzählerisch vorherrschende Authentizitätsgestus wirkt zwar durch die Weiterführung der Perspektive des gestörten Kontrollarchivs wie in Anführungszeichen gesetzt. Aber der Text verzichtet darauf, diese Spannung auf der formalen Ebene des Erzählens auszuagieren. Der gestörte panoptische Blick aus dem Sony Center-Arcanum geht in die ungestörte Übersicht einer traditionellen Erzählinstanz über. Die Aporie des Protests beschreibt der Text anhand der Arrangements und Auflehnungsweisen der Figuren. Auf der Suche nach den ›neuen Widerstandsformen‹ wird ihr Stichwortgeber Deleuze zwar als historische Figur zum Heros eines neuen Protestversuchs erhoben. Als letzter widerständiger Akt bleibt in Teil der Lösung jedoch nur sein im Zeichen der Krankheit gewählter Freitod, der auf keinem Platz der Allgemeinheit mehr stattfindet: »Man beendet das, das entscheidet jeder für sich allein«.16 Dem digital überwachten Potsdamer Platz setzt das Buchende den Ort des Fenstersprungs von Deleuze am Pariser Boulevard Arago entgegen – als Platz der Zufallsbegegnungen von verstreuten Protestlern bzw. Deleuze-Leser/innen.17 Ob die Nische für den individuellen Entwurf oder die Privatheit der Beziehungen in der Kontrollgesellschaft gefunden werden kann, lässt das Ende des Romans offen. Mit seiner Anfangsszene ist aber eine Problemstellung markiert, die den Schreibeinsatz in der Kontrollgesellschaft betrifft. Deren Beschreibung und Kritik gehen zwar Hand in Hand. Aber dieser Protest kann keinen Raum außerhalb der Immanenz der Kontrolle begründen, sondern bleibt ihr verhaftet.18 Er bindet sich 16 17 18

Ebd., S. 444. Vgl. ebd., S. 434–446. Eine doppeldeutige Logik des Protests findet auch dort ihren literarischen Niederschlag, wo der z. B. bei Peltzer explizite Bezug auf Deleuze fehlt. So boykottieren die gelangweilten Computerspielprogrammierer/innen in Douglas Couplands JPod (von 2006) zwar nicht die Herstellung des neuen Firmenprodukts. Aber sie verwenden ihre gesamte Arbeitszeit zur Konstruktion eines spielinternen Arcanums, in welchem ein zum Bösen übergelaufener McDonald-Clown wütet (vgl. Douglas Coupland, JPod, London 2006, S. 511–527). Dietmar Daths Science Fiction Die Abschaffung der Arten (von 2008) löst die Aporie durch ihre Verlegung in die Kybernetik einer biotechnologischen Zukunft. Als Organisation des Somatischen bedingen technologische Archivierungen und Übertragungen ihrerseits eine Autopoiesis des Lebendigen in beständig wechselnden (und die Figur des Menschen überschreitenden) Formen. Die sich ebenso verschlungen gebende Narration generiert sich daraus, dass sie solch eine »Metamorphologie« (Dietmar Dath, Die Abschaffung der Arten, Frankfurt am Main 2008, S. 520) der Vielfalt ihrerseits der Wirkungsmacht eines vereinheitlichenden Systems unterliegen lässt – um nach dem Untergang aber in einem neuen »Paradiso« (ebd., S. 525) die Evolution der Vielfalt aus dem Informationsarchiv ihrer Vergangenheit neu zu beginnen. (Dies alles mit durchaus humanistischem Impuls: »Daß wir die Maschinen nicht verstehen, die wir bauen und die wir einsetzen, um die Macht der Menschen über Menschen zu vergrößern, ist keine bloß intellektuelle oder ideengeschichtliche Wahrheit, sondern eine sozialgeschichtliche. Es ist als stünden wir unter einem bösen Zauber. Wir leben, wie wir leben, nur, weil es Maschinen gibt, aber wir leben gleichzeitig so, als könnten wir dem, was sie tun, keine Richtung geben.«, [Dietmar Dath, Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt am Main 2008, S. 54]).

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an seinen Bezug zu den digitalen Archiven, die, wie es paradigmatisch im Sony Center geschieht, der Kontrolle ihre Wirkungsmacht verleihen. Peltzers Realismus kennzeichnet also ein formales Problem: das Verhältnis des Erzählens vom digitalen Archiv zum digitalen Archiv selbst.

II. Sowohl das problematische Verhältnis von Kontrollarchiv und Sprechposition als auch die merkwürdige Verortung des digitalen Archivs an einem dann aber prominenten Rand des Textes durchzieht seit der Jahrtausendwende einen Strang der deutschsprachigen Romanliteratur, der sich einem Protest im Zeichen von Deleuze verschrieben hat. Statt wie Teil der Lösung über den Protest zu erzählen, behandeln dabei so unterschiedliche Texte wie Kathrin Rögglas wir schlafen nicht (2004), Joachim Zelters Schule der Arbeitslosen (2006) und Reinhard Jirgls Abtrünnig (2005) ihre eigene Sprache als jenen allen zugänglichen Allgemeinplatz, der einer subtilen Kontrolle unterliegt und auf dem doch der schmalen Grat des Protests gebahnt werden soll. Beschreibung der Kontrollgesellschaft und der gleichzeitige Protest gegen sie gerinnen in der sprachlichen Form. Die jeweiligen Darstellungsstrategien sind auf der Ebene des Dargestellten an ein konstantes Motiv gekoppelt: Wie Peltzer lassen alle drei genannten Romane das Kontrollarchiv bloß randständig auftauchen, inszenieren es aber parallel als eigenen Anlass und eigene Bedingung.19 Während Teil der Lösung einigen der Roman-Figuren die Figur Deleuze als ein ›role model‹ vorgibt, halten sich die genannten Texte enger an die Thematik des »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«. Dieses erhebt die Veränderung der Arbeitswelt seit den 1950ern zur Metafigur des kulturellen Wandels. In erster Linie fokussieren die genannten Romane die Organisation der Arbeitswelt.20 Zu dieser setzen sie das Kontrollarchiv in Beziehung. Im Mittelpunkt des deleuzianischen Narrativs steht ein Paradigmenwechsel: Die Einschließungsinstitution »Fabrik hat dem Unternehmen Platz gemacht«, das nun figürlich für die Organisation der gesamten Kultur steht: Demnach haben sich die bis ins 19. Jahrhundert vorherrschenden »geschlossenen Milieus«, für welche die Institution des Gefängnisses als Metafigur diente, zu den »offene[n] Kreisläufe[n]« eines »Unternehmens, das nur noch Geschäftsführer kennt«,21 transformiert. In diesen können sich die Individuen zwar wie in Peltzers Sony Center frei bewegen.

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Der Verweis aufs ›Archiv‹ ist hier also nicht zu verwechseln mit der »Sammelwut« der »neuen Archivisten« (Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 184) im deutschen Pop-Roman der 1990er. Für die Herkunft der gängigen ›westlichen‹ Arbeitsnarrative aus dem Archiv der Genesis vgl. den Beitrag von Henning Teschke in diesem Band. Deleuze, »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 260.

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Solch ›Freiheit‹ wird aber von den Kreisläufen der Überwachung vorgegeben und beschränkt sich auf deren Spielräume.22 Die Rhetorik des Paradigmenwechsels kommt so plausibel daher, weil Deleuze Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft, der er argumentativ wenig hinzufügt, um ein zum Publikationszeitpunkt bereits gängiges Theorem erweitert. 1973 beschreibt Daniel Bell die Entstehung einer »Dienstleistungsgesellschaft«, in welcher in der Folge zunehmender Automation von Arbeitsabläufen das Paradigma Fabrikarbeit einer aufs Individuum abgestimmten Servicekultur weicht.23 Bells Konstellation präfiguriert die prominente Randständigkeit der technologischen Gegebenheiten bei Peltzer: Eine gesteigerte Eigendynamik von Medientechnologien macht eben diese Medientechnologien zur Bedingung der Dienstleistungskultur, ohne dass ihr Anteil an deren Bedeutungsorganisation offen zu Tage träte. Ähnlich funktioniert in Bells Nachfolge auch das deleuzianische Narrativ von den neuen »Kontrollmechanismen«: »Was zählt, ist […] der Computer, der […] eine universelle Modulation durchführt«,24 ohne dass die dem Kontrollarchiv eigenen Prozesse der Datenübertragung und -speicherung, die Teil der Lösung eröffnen, im einzelnen von Interesse wären. Sie bedingen für Deleuze ein neues »UnternehmensRegime«,25 ohne sich jedoch in ihm zu zeigen – und zunächst auch ohne größeren theoretischen Raum zu erhalten. Seine literarischen Echos weisen insofern über Deleuze hinaus, als dass sie vom marginalisierten Kontrollarchiv her die Möglichkeit von Protest befragen. Dazu verbinden und erweitern sie das deleuzianische Erzählmuster mit Narrativen von den technischen Gegebenheiten des Kontrollarchivs. Wirkungsmächtige technikgeschichtliche Narrative verkünden einen Paradigmenumbruch parallel dem der Arbeitswelt. Dabei verschiebt sich die deleuzianische Problemstellung, wie im Folgenden modellhaft bei F.W. Taylor, Wolfgang Ernst sowie Michael Hardt und Toni Negri verdeutlicht werden soll: Die Erzählung von Paradigmenumbruch wird selbstreferentiell. Denn sie beschreibt die neue Ordnung als eine, welche die sie bewohnenden Subjekte zum beständigen Kommunizieren und Erzählen anhält. So sollen diese sich beständig neu gegenüber den beständig wechselnden Anforderungen des Arbeitsmarktes präsentieren. Das in sich gedoppelte Narrativ von Paradigmenumbruch wird auf einer dritten Ebene seinerseits von den literarische Weiterführungen rezitiert und verschoben. Diese rekombinieren seine Elemente, unterbrechen seine klaren Abläufe – und verorten ihren ›Widerstand‹ in eben dieser Unterbrechung.

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In einer prominenten Weiterführung der Thematik fasst Ulrich Bröckling die Individualität in der Kontrollgesellschaft als ›Selbstunternehmertum‹. Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007. Vgl. Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main 1975. Deleuze, »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 261. Ebd., S. 262.

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III. Einen prominenten Platz in den Automatisierungserzählungen hat die fordistische Fabrik, die sich an Taylors Arbeitswissenschaft (von 1911) orientiert. In Anlehnung an die zeitgenössischen Computerphantasien26 imaginiert Taylor die Fabrik als einen Automaten, in welchem die Arbeitenden minimale mechanische Operationen nach Vorgabe eines zentralen Programms verrichten. Als konsequentester Ausläufer der sich laut Foucault »mit dem ausgehenden 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts« konstituierenden »Disziplinartechnologie der Arbeit«27 weist die taylorsche Fabrik gleichzeitig auf die potentielle Wegrationalisierung menschlicher Arbeit insgesamt voraus, die für Deleuze den Übergang zur Kontrollgesellschaft bestimmt. Für diesen Umbruchsmoment lässt sich bereits eine Engführung von Arbeitskultur und Kontrollarchiv nachzeichnen. Auch Taylors ideale Fabrik birgt in sich das Arcanum eines Archivs, denn Taylor schlägt ein zentrales Speicherarchiv vor, in welchem die Daten aller Arbeitsprozesse zusammengetragen werden, um diese nach ökonomischen Gesichtspunkten organisieren zu können: Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Methode bringt die Aufstellung einer Menge von Regeln, Gesetzen und Formeln mit sich, welche an Stelle des Gutdünkens des einzelnen Arbeiters treten. Sie können mit Erfolg erst angewendet werden, wenn sie systematisch aufgezeichnet und zusammengestellt sind. Die praktische Anwendung von wissenschaftlichen Aufzeichnungen erfordert auch einen Raum, in dem die Bücher, Statistiken etc. aufbewahrt werden, und einen Tisch, an dem der disponierende Kopfarbeiter arbeiten kann.28

Impliziert ist, dass dieser Tisch im Archiv steht oder zumindest in möglichst großer Nähe. Taylors Hauptinteresse gilt dem Kopfarbeiter. In der Tradition des Geist/ Materie-Dualismus ist dieser das (männliche) Gehirn, das den Fabrikkörper und die (bei Taylor folgerichtig an den markanten Stellen von »Mädchen«29 ausgeführte) körperliche Arbeit in der Fabrik wissenschaftlichen Maßstäben unterwirft, 26

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Vgl. Simon Schaffer, »OK Computer«, in: Michael Hagner (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 393–429, hier S. 422 f. »Es handelt sich […] um Techniken der Rationalisierung und der strikten Ökonomie einer Macht, die auf am wenigsten kostspielige Weise mittels eines gesamten Systems der Überwachung, der Hierarchie, Kontrolle, Aufzeichnung und Berichte ausgeübt werden sollte: Diese gesamte Technologie wird man als Disziplinartechnologie der Arbeit bezeichnen.« (Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76), Frankfurt am Main 1999, S. 285) Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 192–201 und S. 295–329. Frederick Winslow Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung (The Principles of Scientific Management), München, Berlin 1913, S. 40. Ebd., S. 91.

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d. h. leistungsfähiger und rentabler macht. Dazu ist er auf ein aktives, beständig zu erweiterndes Archiv angewiesen. Eine Fußnote ergänzt den zu erwartenden Umfang: »Die zahlenmäßigen Aufzeichnungen, die z. B. unter dem neuen System in einer gewöhnlichen Maschinenfabrik notwendig sind, füllen Tausende von Seiten«.30 Nach arbeitswissenschaftlichen Maßstäben darf der Kopfarbeiter das Archiv nicht gleichzeitig anlegen und pflegen. Aber er soll idealer Weise derjenige sein, der die Sammlung der Daten anfordert, sie ablegen lässt und exklusiven Zugriff für die Auswertung hat. Er organisiert die Arbeitsprozesse der Fabrik – und das heißt arbeitswissenschaftlich vor allem: Der Kopfarbeiter diszipliniert die arbeitenden Körper. Er beugt Zeitverschwendung vor, indem er die geltenden Standards ausgibt und Organisationsprozesse zu ihrer Einhaltung vorschlägt. Die Disziplinierung geht vom Archiv als einem geschlossenen Raum aus, dessen Inhalt solange beständig weiter anwächst, wie die Disziplinarmacht der Arbeitswissenschaft ihren Zwang ausübt. Das Fabrikarchiv ist Bedingung wie Medium für die Wirkungsmacht dieser Gewalt. Gegen sie sind auch noch die marxistischen Emanzipationsnarrative des 20. Jahrhunderts gerichtet, die eine revolutionäre Gewalt der Arbeiterschaft wider die ihr vom Disziplinarregime der Fabrik und ihrem Archiv angelegten Fesseln antreten lässt – und deren Schwinden Deleuze durchaus melancholisch konstatiert.

IV. Die Automatisierungsnarrative, welche der deleuzianischen Erzählung vom gesellschaftlichen Umbruch parallel laufen, behaupten einen Umbruch in der Verfasstheit des Archivarischen selbst durch das Aufkommen digitaler Technologien. Dabei schleicht sich eine Befreiungsrhetorik ein, die wie von Zauberhand auch die deleuzianische Aporie der ›neuen Widerstandsformen‹ zu lösen scheint: Erzählt wird von den neuen digitalen Archiven als von Orten, die das Sprechen, Kommunizieren und Erzählen selber von den Vorgaben des Archivs ablösen. Das Erzählen einer Protestliteratur im Zeichen von Deleuze arbeitet sich nicht zuletzt an diesem Versprechen ab. Die Verselbständigung digitaler Prozesse gegenüber körperlicher Arbeit mutet wie eine Realisierung der bereits Taylors automatisierter Fabrik zugrunde liegenden Phantasie an, die letztlich auf die Verabschiedung des Körperlichen selbst hinausläuft. Mit Pierre Lévy gesprochen, kann aus dieser Perspektive der Computer »als das irdische Exempel einer platonischen Idee« auftreten. Lévy sieht hier eher eine politische »Kunst der Inszenierung«31 in der Abfassung der Technikgeschichte des 30 31

Ebd., S. 40. Pierre Lévy, »Die Erfindung des Computers«, in: Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, S. 905–944, hier S. 943.

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Computers am Werk. Im heterogenen kulturellen Feld, das die im beginnenden 21. Jahrhundert gängige Verwendung von Computern hervorbringt, findet sich das »chaotische[] Gewimmel von Basteleien, Neuverwendungen, prekären Verfestigungen operativer Anordnungen«32 mit seinen »Wiederverwendungen, Entlehnungen und Umwidmungen«33 von Techniken und Konzepten durch eine Teleologie ersetzt, welche die Computertechnologie rückblickend als Ziel der vorhergehenden Technikgeschichte fasst:34 Der Computer erscheint als Überwindung der mechanischen wie materiellen Grundlagen. Der suggestive Kurzschluss zwischen Erzählbarkeit und technischen Gegebenheiten organisiert untergründig weite Teile der ›kontrollgesellschaftlichen‹ Diskurse. An Wolfgang Ernsts vielleicht konsequentester Version dieser Teleologie zeigt sich, wie diese ihre Suggestivkraft aus der technischen Verfasstheit des Computers selbst zieht: Bei Ernst, z. B. in Das Gesetz des Gedächtnisses (von 2007), läuft stets die Voraussetzung mit, das Selbststeuerungsvermögen des Computers steuere letztendlich eine auf eben dieses Selbststeuerungsvermögen zulaufende Technikgeschichte. Ernst nutzt diese Analogie zwar nicht zu einer linearen Nacherzählung. Er treibt sie aber doch auf die Spitze, wo er sie stets als gleichzeitige Transformation des materiellen Archivs und seiner Erzählbarkeit durchspielt: Mit dem Aufkommen digitaler Technologien dient das Archiv demnach nicht mehr vorrangig zur Ablage von Daten. Die digitalen »Speicher dienen [...] als Datenbanken, die Neues mit Bekanntem abgleichen können«,35 also gespeicherte Daten als Latentes aktualisieren, löschen oder in einer umschreibenden Aktualisierung löschen können. Die Datensortierung durch die Speicherprogrammen eigenen Algorithmen markiert bei Ernst weit reichende Konsequenzen für den Archivbegriff. An die Stelle des Speichers tritt die sich selbst organisierende und nie stillstehende Beweglichkeit der archivierten Daten: ein im Internet kulminierendes, »sich selbst adressierendes elektronisches Archiv«,36 das »den Speicherbegriff selbst überflüssig«37 macht. Aus »Lagerung« werden digitale »Netze«,38 aus »Archivierung« wird »Distribution«.39 32 33

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Lévy, »Die Erfindung des Computers«, S. 943. Ebd., S. 912. Treffend hierfür die narrative Analyse einer rückwirkend installierten Zielsetzung in Hegels Geschichtsteologie durch Slavoj Žižek: Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien 1992, S. 33–50. »Kaperei, Umwidmungen, Umdeutungen stehen im scharfen Gegensatz zu den Ideen des Algorithmus oder des festgelegten Mechanismus, die zu Recht mit der Informatik verbunden werden. Doch die Geschichte der Informatik deckt sich nicht im mindesten mit der Verwirklichung eines Plans, eines Projekts oder gar eines Traums, wäre es auch der Traum eines Leibniz, Babbage oder Turing – einfach weil sie eine Geschichte ist.« (Lévy, »Die Erfindung des Computers«, S. 944) Wolfgang Ernst, Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts), Berlin 2007, S. 19. Ebd., S. 271. Ebd., S. 233. Ebd., S. 28 f. Ebd., S. 287.

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Daraus, dass im Computer die »Funktionen Speichern, Berechnen und Übertragen konvergieren«, kann derart gefolgert werden, dass sie »sich [...] zugleich erschöpfen«40 und den Speicherbegriff verabschieden.41 Hier weiter vom Archiv zu sprechen oder zu erzählen, fasst Ernst pejorativ als »Metapher« im Sinne einer symbolischen Übertragung etwa der aristotelischen Poetik. Die aristotelische Eigentlichkeit hinter der sprachlichen Metapher bestünde hingegen in der signaltechnischen Übertragung. Das Archiv als Speicher, wie es bei Taylor insistiert, wird in Ernsts teleologischer Erzählung eine Vorläuferform (und darum nur noch eine Behelfsmetapher) seiner hegelschen Aufhebung in einer selbstbezüglichen Datenverteilungs- und Datenübertragungsmaschine. Das Symbolische, als sprachlich Erzählund Lesbares, hat keinen Bezug zur Datenübertragung: »Der Versuch jedoch transitiv das Archiv zu schreiben, endet in Unlesbarkeit, solange nicht die Zahlenverarbeitung selbst am Werk ist«.42 Solch eine negative Theologie der Mikroelektronik behauptet Lesbarkeit nur im technischen Sinn – und verabschiedet so Erzählbarkeit. Während der Speicher als abwesender Beweggrund eine symbolische Darstellung organisierte – z. B. die Erzählung von der Arbeit und die Erzählung vom Widerstand gegen sie –,43 sollen nun Übertragungsarchiv und symbolische Darstellung gleichermaßen ineinander wie auseinander fallen: Symbolische Operationen wie das Kommunizieren oder Erzählen im Netz verliefen ohne Bezug zum Archiv als Speicher. Nur der Störungsfall konfrontierte sie mit ihren archivarischen Bedingungen: »Im Cyberspace sind es die Momente, wo Suchmaschinen abstürzen oder Fehlermeldungen produzieren – der Einbruch des (technisch) Realen ins Symbolische der Netz-Kommunikation«.44 Umso ungestörter verläuft hingegen Ernsts eigenes Narrativ vom Paradigmenumbruch. Eine Bestimmung des Erzählens durch das Speicherarchiv streift es in der kompletten Unterordnung des Speichers unter Übertragung und Vernetzung ab. Die Dimension einer nicht zuletzt aufbewahrenden Aufhebung des Speichers, dessen Kapazitäten die Effizienz digitaler Übertragungen erst ermöglichen, bestimmt implizit zwar Ernsts Argument. In Ernsts Narrativ geht sie zugunsten der Auf- und Ablösungsbedeutung jedoch verloren und eben dies ermöglicht seine Erzählung von der Befreiung vom Speicherarchiv durch die Übertragung.45 – Die angebrachte Skepsis gegenüber einem solchen Digitalisierungsnarrativ schlägt sich z. B. in Peltzers literarischer Milieubeschreibung nieder: Im Sony Center-Protest macht der Rückbezug der Übertragung auf den Speicher die Effizienz der Kontrolle 40 41 42 43

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Ebd., S. 12. Zu ›Google‹ als digitalem Internetarchiv vgl. den Beitrag von Ulrike Bergermann in diesem Band. Ernst, Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 228. Vgl. den Beitrag von Niels Werber in diesem Band für den umgekehrten Fall, der in Ernsts Ordnung nicht vorkommen kann: der Organisation eines Archivs anhand eines Narrativs. Ernst, Das Gesetz des Gedächtnisses, S. 281. Zur prekären Verschränkung von Hegels Aufhebung mit einer sie unterminierenden Auflösung vgl. Jean-Luc Nancy, La Remarque spéculative. Un bon mot de Hegel, Paris 1973, S. 137–164.

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aus. ›Ich will mein Bild‹: Der Protest richtet sich gegen den Speicher und operiert durch das Abfilmen des Sicherheitsdiensts mit einer Gegenspeicherung. Während die Speicherfunktion in Ernsts großer Erzählung vom Archiv ihren technischen Vorrang zugunsten der Übertragung verliert, erzählt Teil der Lösung von einer Speicherfunktion, deren Reichweite sich mit ihrer Digitalisierung bloß ausgeweitet hat.

V. Die Annahme einer störungsfrei operierenden digitalen Übertragung spielt in zahlreichen Erzählungen von der Transformation der Arbeitswelt zur Dienstleistungsgesellschaft eine ähnlich große Rolle wie bei Ernst. Die entsprechenden Narrative operieren mit einer Logik der Steigerung und legen nahe, dass die selbstbezügliche digitale Technologie zum Sprechen und Erzählen einlädt, ohne Sprechen und Erzählen zu stören. Ein solcher Einsatz transformiert auch Reichweite und Möglichkeiten von Protest, im Fahrwasser von Deleuze besonders prominent bei Michael Hardt und Toni Negri in Empire (von 2000):46 »Die Umwälzung der Produktion durch Computer und Kommunikation hat die Arbeitsprozesse derart verändert, dass sie sich alle dem Modell der Informations- und Kommunikationstechnologien annähern«,47 als so genannte immaterielle Arbeit, welche über die neuen Kommunikationskanäle Dienstleistungen von affektiver Arbeit bis hin zur Informationsvermittlung übernimmt. Daher ist für Negri und Hardt den veränderten Produktivkräften eine soziale Komponente innerlich: »Die Kooperation ist der Arbeitstätigkeit vollkommen immanent«.48 In Negris und Hardts neomarxistischem Vokabular gesprochen, strukturiert Ernsts technische Infrastruktur einen Überbau, in dem sich Sprechen und Erzählen vollziehen. Aber in der digitalisierten Arbeitswelt erfolgt diese Strukturierung eben nicht mehr als Determination, sondern als Freisetzung: Das Automatisierungsnarrativ erzählt davon, dass Sprechen, Kommunizieren und Erzählen sich von ihren technischen Vorgaben befreien können. Im Gefolge Negris spricht Paolo Virno für die Kommunikationsindustrie vom »unmittelbaren Zusammenfallen von Produktion und Ethnizität, ›Basis‹ und ›Über-

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47 48

Michael Hardt und Toni Negri beziehen sich insbesondere auf Deleuze’ Spinoza-Interpretation und ihre geschichtsphilosophische Umsetzung in den beiden Bänden von Kapitalismus und Schizophrenie. In ihrer Anwendung von Deleuze gehen allerdings seine spezifischen Pointen verloren. So fasst ihre Ablehnung der Transzendentalphilosophie zugunsten einer spinozistischen Immanenz die kapitalistischen Produktivkräfte als eine transzendentale Kraft, die es abzuschütteln gelte. Der als widerlegt behauptete Dualismus wird damit wieder eingeführt. Vgl. Michael Hardt, Toni Negri, Empire, London 2000, z. B. S. 25 und S. 28. Michael Hardt, Toni Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main 2002, S. 302. Hardt/Negri, Empire (2002), S. 305.

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bau‹«.49 Virno macht im Rücken der flexibilisierten und individualisierten Arbeitsformen einen unausgesprochenen Zwang aus, der ohne manifeste Gewalt zur Kommunikation drängt: Nur die Beteiligung an einer der technischen Übertragung aufliegenden symbolischen Übertragung ermögliche eine Beteiligung an den ökonomischen Übertragungen. »Von den ArbeiterInnen wird […] informelles, geschmeidiges, kommunikatives Handeln [verlangt], das den verschiedensten Entwicklungen und Ereignissen gerecht wird (mit einer gehörigen Dosis an Opportunismus, versteht sich)«. Dieser zwanglose Zwang geht allerdings mit einer völligen Beliebigkeit der dabei verwendeten Sprechhandlungen, d. h. auch Erzählungen und Erzählmuster, einher. Hier ist keine »bestimmte Anzahl von standardisierten Äußerungen verlangt (parole), sondern das Sprachvermögen selbst (langue)«.50 In Negris, Hardts und Virnos Narrativ ermöglicht das Verteilerarchiv jede beliebige Erzählung und immer mehr Kommunikation, – und deswegen kommt dieses Narrativ auch ohne einen Ort aus, an dem das Verteilernarrativ erzählt werden könnte oder müsste. Gleichzeitig wandelt sich die von Taylors Archiv noch vorstrukturierte Arbeitsdisziplin in den allgegenwärtigen Imperativ einer Selbstorganisation von Subjekten, welche das Funktionieren des Gesamtsystems über die Flexibilität, Dynamik, Eigeninitiative und vor allem über den dauernden Kommunikationsdrang ihrer individuellen Kleinstteile erzwingt, die sich in Übertragungsnetzwerken organisieren. Der behauptete Paradigmenwechsel transformiert auch die Gewaltverhältnisse, denen die arbeitenden Körper unterliegen. In Anklang an Deleuze bestimmen Negri und Hardt die Gefahr einer digitalisierten Kontrollgewalt: »Die Überwachung kann potentiell individualisiert und kontinuierlich werden«.51 Nicht mehr ganz im Sinne von Deleuze sehen sie aber auch die Frage nach den neuen Widerstandsformen bereits durch die transformierte Gewalt der Kommunikationsnetzwerke beantwortet: Wo die Vernetzung die einzelnen Individuen zu Eigenständigkeit zwingt, u.a. indem sie ihnen gleichzeitig die technischen Mittel zur Netzwerkbildung in die Hand gibt, können und werden die vernetzten Individuen in fast logischer Folge ihre Eigenständigkeit, ihre technischen Mittel und ihre Netzwerke nicht zur Aufrechterhaltung des Systems einsetzen, sondern damit ein emanzipatorisches Projekt begründen: »Produzieren bedeutet zunehmend, Kooperation, Kommunikation und Gemeinsamkeiten herzustellen«.52 Die subtile Gewalt 49

50 51 52

Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Arbeit und Intellekt als Lebensform, Wien 2005, S. 118. Ebd., S. 129. Hardt/Negri, Empire, S. 308. Ebd., S. 313. »Heute haben Produktivität, Reichtum und das Schaffen eines gesellschaftlichen Mehrwerts die Form der kooperativen Interaktion angenommen, die sich sprachlicher, kommunikativer und affektiver Netze bedient. Indem sie ihre eigenen schöpferischen Energien ausdrückt, stellt die immaterielle Arbeit das Potenzial für eine Art spontanen und elementaren Kommunismus bereit.« (Hardt/Negri, Empire, S. 305)

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des Kommunikationsdrangs wird daher nicht mit offener Gegengewalt beantwortet, sondern von innen heraus transformiert: »Militanz verwandelt Widerstand in Gegenmacht und Rebellion in ein Projekt der Liebe«.53 Für dieses Narrativ von den Chancen digitaler Netzwerke ist das von diesen abgelöste Speicherarchiv störend, es steht scheinbar gänzlich auf der Seite der heteronomen Gewalt. Negris und Hardts Emanzipationsnarrativ basiert geradezu auf seiner Medienvergessenheit. Zwar heißt es: »Die Anthropologie des Cyberspace ist in Wirklichkeit das Erkennen der neuen Menschlichkeit«.54 Aber Negri und Hardt projektieren keine Hybridisierung dessen, was sie als den Kern des Menschlichen proklamieren: der schöpferischen Kraft lebendiger Arbeit. Es geht ihnen einerseits um eine Situation, in der die Produktivkräfte diese lebendige Arbeit gewaltsam fesseln – z. B. durch individualisierte Überwachung im Rahmen der digitalen Möglichkeiten zur Speicherung und Zentralisierung –, und andererseits um eine Zersetzung dieser Fesselung von innen, mit welcher die lebendige Arbeit sich zu sich selbst befreit. Was bei Wolfgang Ernst als Speicherarchiv verhandelt wird und als Taylors Archiv der Disziplinararbeit auch in Negris und Hardts Entwurf passen würde, hat in dieser Theoriefigur höchstens auf der Negativseite Platz. Eine Determinierung durch den Speicher behinderte die Unmittelbarkeit, über welche Negris und Hardts digitale Netzwerke das Projekt eines neuen emanzipatorischen Gemeinwesens vorbereiten wollen. Ganz wie bei Ernst wird diese Speicherkapazität der Übertragungskapazität systematisch unter- und historisch vorgeordnet. Die Störung durch dieses Vorhergehende soll durch das neue Übertragungsparadigma überwunden werden, das von Speicherarchiven ungestört operiert – und so Emanzipation mit der Ermöglichung freier Kommunikation gleichsetzt. Als Vollzug einer solchen freien Kommunikation versteht sich das Empire-Manifest Negris und Hardts: als Sprechakt einer neuen sozialen Bewegung, welche nicht zuletzt durch diesen Sprechakt ihre Fesseln abstreifen soll.

VI. Die Vernetzungseuphorie Hardts und Negris analogisiert eine den digitalen Technologien zugeschriebene Eigendynamik mit einer Eigendynamik des Widerstands gegen die kontrollgesellschaftliche Arbeitswelt. Der Protest von Empire geriert sich als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die behauptete Produktionsordnung digitaler Archive, die sprechen lässt, soll in einem solchen Sprechen gleichzeitig befolgt wie ausgehebelt werden. In dieser Selbstapplikation zeigt sich eine poetologische Figur, die im Sprechen von der technologischen Transformation der Arbeitswelt auch die Art und Weise dieses Sprechens behandelt. In der Literatur, die sich an 53 54

Hardt/Negri, Empire, S. 420. Ebd., S. 303.

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Digitalisierungsnarrativen abarbeitet, sind solche Figuren durchaus gängig, in Hardts und Negris affirmativer55 wie auch in negativer Form. Die umgekehrte sprachliche Selbstbezüglichkeit findet sich etwa in Michel Houellebecqs Extension du domain de la lutte (bereits von 1994). Die »Globalisierung des Netzes«56 und das Versprechen, »Verbindungen verschiedenster Art zwischen Individuen, Projekten, Institutionen und Dienstleistungen herzustellen«,57 scheitert hier, eben weil die digitale Technologie jede Übertragung zunächst in Informationen umwandelt und so die Analogie zwischen Vernetzungstechnik und sozialer Vernetzung unterbricht: »Jede menschliche Beziehung [beschränkt] sich auf den Austausch von Informationen«.58 Das in diesem Sinne vom an den digitalen Archiven arbeitenden Informatiker-Ich kulturkritisch (und plakativ »in der Nähe des Großrechners«59) behauptete »fortschreitende Verlöschen menschlicher Beziehungen« setzt an die Stelle von Hardts und Negris polymorph-erotischem neuen Kommunismus (der eine Befreiung nicht zuletzt vom Sexismus verspricht) die (sozial-)darwinistische p*rnographisierung sämtlicher Lebenszusammenhänge.60 Die Erzählbarkeit des Texts selbst gerät ins Stocken. Die Reduktion auf den Informationsaustausch »bringt für den Roman allerdings einige Schwierigkeiten mit sich«,61 insofern es nichts mehr zu erzählen gibt. Die reduzierte Romanform, welche dies aushielte, peilt der Text als eine Art Speicherarchiv für Informationen an: »Man müsste eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form«,62 – Womit das Projekt des kurzen Buchs beschrieben ist, das sich selbst

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Parallel zum Selbstbeschwörungsgestus Hardts und Negris etwa operiert das Wir nennen es ArbeitManifest (von 2006) Holm Friebes und Sascha Lobos, allerdings gänzlich ohne revolutionären Anspruch. Die These, dass erfüllende Kreativarbeit sich zumindest für eine »digitale Boheme« durchaus mit sowohl Lohnerwerb als auch autonomer Lebensführung verbinden lasse, unterfüttern die Digitalisierungstopoi wie die Arbeit in sich beständig variierenden Netzwerken und Projektzusammenhängen (Holm Friebe, Sascha Lobo, Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München 2006, S. 51–67, S. 78–80 und S. 91– 113). Eine originelle »Selbstvermarktung« (ebd., S. 207) im Netz wird einerseits als befriedigende Tätigkeit präsentiert. Gleichzeitig soll sie unter Minimalaufwand temporäre Geldquellen in fremdbestimmten Lohnarbeitsprojekten erschließen. Dieses Motto praktiziert der Text: den plakativen Thesen des Anfangs folgen lose zusammenstückelt nur unwesentlich überarbeitete Lifestyle-Essays der Autoren aus früheren Zeitschriftenpublikationen, die den Text zu einem Buch machen und dank der geschickten Selbstvermarktung eben zum Verkaufsschlager. Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, Hamburg 1994, S. 45. Ebd., S. 44. Ebd., S. 47. Ebd., S. 44. Gegen die Neuauflage sexistischer Stereotype im neuen Gewand richtet sich im Falle Rögglas und Zelters auch die Kritik der hier besprochenen Protestliteratur. Jirgl reproduziert emphatisch die Figur des männlichen Künstlers und seiner weiblichen Musen. Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, S. 46. Ebd., S. 46 f.

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›Roman‹ nennt und solch eine andere Form praktiziert, bloß manchmal synkopiert von der leer laufenden Suche des Ich nach neuen fabelartigen Erzählformen.63 Im an Deleuze orientierten literarischen Protest gegen die Arbeitswelt gehören die Positiv- und die Negativvariante literarischer Selbstgeneration zusammen und werden offensiv ausagiert. Der von Virno beschriebene Kommunikationsdrang schlägt sich bei Röggla, Zelter und Jirgl über weite Strecken in der Manie eines präsentischen Erzählens nieder, das die Atemlosigkeit eines beständigen Neuanfangens inszeniert, welches doch bloß wieder die alte Problematik wiederholt.64 Der artifizielle Realismus in Rögglas wir schlafen nicht suggeriert einerseits eine Interviewdokumentation auf einer Unternehmensberatungsmesse. Diese verkünstlicht er durch die indirekte Rede des ungebräuchlichen Konjunktiv 1 und das Auslassen der Frageform:65 Es bleibt der monologische wie monothematische Redeschwall des Kommunikationsdrangs, der bereits in der ökonomischen Kleinschreibung durchscheint. Der letzte Satz markiert mit einem »sie machen das jetzt nicht mehr

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Konsequent endet der Text mit einer Rezitation des Topos vom ›unglücklichen Bewusstseins‹ als der unüberbrückbaren Trennung des Ich von der Welt: »[I]ch spüre meine Haut wie eine Grenze; die Außenwelt ist das, was mich zermalmt. Heilloses Gefühl von Trennung; von nun an bin ich ein Gefangener in mir selbst.« Im alten Motiv gibt sich das Digitalisierungsnarrativ zu erkennen: In den unendlichen Möglichkeiten der Vernetzung, die paradoxerweise eine radikale Individuation des Ich als eines unternehmerischen Selbst erzwingen. Der Text markiert das Auseinanderfallen von Vernetzungsversprechen und Individuationseffekt als ein Scheitern: »Seit Jahren marschiere ich an der Seite eines Gespensts, das mir gleicht und das in einem theoretischen Paradies lebt, in engster Beziehung zur Welt. Ich habe lange geglaubt, dass es mir möglich wäre, diese Gestalt zu erreichen. Jetzt nicht mehr« (Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, S. 170). Die womöglich schärfste Analyse der anvisierten ›anderen Form‹ der Kampfzone liefert nicht die ausufernde Sekundärliteratur, sondern Hanno Millesis Roman Der Nachzügler (Wien 2008), der den ›Schatten‹ der Kampfzone beim Wort nimmt: Ein Experimentalschriftsteller geht seiner Lohnarbeit als Detektiv nach. Der Nachzügler-Text montiert seine Notizen über brotlose Avantgardeliteratur bzw. Funktionsweisen des Literaturbetriebs mit den Aufzeichnungen aus seiner aktuellen Beschattungsoperation. Bei deren Objekt handelt es sich um eben den Icherzähler der Kampfzone, deren Handlung Der Nachzügler so detailliert wie ›platt‹, nämlich ohne Houellebecqs p*rnographische Penetranz, notiert. Die spiegelbildlich-autopoietische Konstruktion der widerläufigen Texte kommentiert nicht zuletzt auch das Hybrid aus avantgardistischem Gestus und kommerziellen Erfolg im Medienphänomen Houellebecq. Das unterscheidet diese Texte etwa von Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko von 1932. Hier finden sich motivisch bereits Leistungs- und Flexibilisierungsdruck in Dienstleistungsverhältnissen beschrieben, allerdings in der traditionellen Romanform des 19. Jahrhunderts. Vgl. Martin Kessel, Herrn Brechers Fiasko, Frankfurt am Main 2001. Für die deutsche Popliteratur findet sich das präsentische Erzählen analysiert in: Eckhard Schumacher, Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt am Main 2003. Vgl. Karin Krauthausen, »Gespräche mit Untoten. Das konjunktivische Interview in Kathrin Rögglas Roman wir schlafen nicht«, in: Kultur & Gespenster 2 (2006), S. 118–135. Vgl. Christian Kremer, Milieu und Performativität. Deutsche Geegnwarttsprosa von John von Düffel, Georg M. Oswald und Kathrin Röggla, Marburg 2008, S. 114–133.

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mit«66 den kollektiven Protest des Figuren-Personals. Im Indikativ wendet sich der Text damit gegen die ökonomischen Verhältnisse, die sein Reden veranlassen. In Joachim Zelters Schule der Arbeitslosen vollzieht sich der formale Protest über die forcierte Verwendung phantastischer Elemente. Durch staatlich verordnete Flexibilisierungs- und Trainingsprogramme sollen durch Automatisierung und Digitalisierung überflüssig gemachte Arbeitslose für die digitale Arbeitswelt fit gemacht werden: »stabilisiert, euphorisiert, flexibilisiert«.67 Ihre Schule entpuppt sich als ein Gefängnis, das mit intertextuellen Versatzstücken aus 1984 und Brave New World sowie mit überdeutlichen historischen Anspielungen auf die nationalsozialistischen Vernichtungslager beschrieben wird. Der Roman ist über weite Strecken in der von der Schule gelehrten minimalistischen Sprache des Neuanfangs verfasst und erzeugt so die Uniformität des Individualitätsversprechens, von dem er handelt. Reinhard Jirgls Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit legt das Sujet des Kampfes eines ›wahrhaftigen‹ Künstlers gegen die unauthentische Welt des Konsumkapitalismus neu auf, nicht zuletzt verkörpert durch eine dem Internet zugeschriebene, vom Versprechen unmittelbarer Befriedigung gespeiste Wunschproduktion. Die Echtheit der individuellen Wut des künstlerischen Selbstunternehmers68 gegen die Massenkultur inszeniert der Text über seine idiosynkratisch-versinnlichte Rechtschreibung – gegen die »Pfaffen der Wissenschaft & Hygiene; Profeten des Stoffwechels; Veget-Arier & Sonnen-Bänkler; Börsen-Alberiche & Konjunktur-Sörfer […]. Menschen suchen !die Sprache die auch alle=übrigen sprechen«.69 Diese Strategie soll gleichzeitig die dem Ich angetane Gewalt ausstellen wie einen der ökonomischen Logik entzogenen Gegenraum konstituieren: »!GENUG. ES !REICHT!«70 So unterschiedlich die drei Einsätze poetisch wie inhaltlich daherkommen, jeweils setzen sie am Rande eine ähnliche narrative Strategie ein: Die Digitalisierungsnarrative werden bemüht, um die von ihnen behaupteten Wirkungsmächte der Übertragung zu konterkarieren. Parallel zu Peltzer holen die Texte das Archiv aus seinem Arcanum – und das weniger in der so prominent gemachten Übertragungs- als vielmehr in seiner Speicherfunktion. Diese setzen sie zur Störung der Effektivität des Digitalisierungsnarrativs ein.

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Kathrin Röggla, wir schlafen nicht, Frankfurt am Main 2004, S. 220. Joachim Zelter, Schule der Arbeitslosen, Tübingen 2006, S. 6. Zur Verwicklung des Selbstverwirklichungsversprechens von ›Kunst‹ mit den flexibilisierten Arbeitsformen der ›Kontrollgesellschaft‹ vgl. Boltanski, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 213–249. Reinhard Jirgl, Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit, München 2005, S. 10. Ebd., S. 11.

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VII. Die indirekte Rede in Rögglas wir schlafen nicht ist zu einem mehrstimmigen Redeschwall geformt. Die Repetitivität, mit der hier die Bewältigung von Druck und Hektik der Arbeitswelt von den betoffenen Figuren besprochen wird, verleiht der Polyphonie monologischen wie manischen Charakter. Als Gegen- wie Parallelstück zu Houellebecqs Vereinsamungsnarrativ liefert der Text eine drastische formale Umsetzung der These vom Kommunikationsdrang: Die Arbeit der Figuren besteht in erster Linie in Kommunikation. Deutlich ist auch das ›Unternehmen‹ als die Metafigur der deleuzianischen Kontrollgesellschaft zitiert. Es sind Unternehmensunternehmen bzw. Metaunternehmen, welche Figuren wie die »key account managerin«, die »praktikantin«, den »Partner«71 usw. sprechen lassen. Sprechort ist eine Messe, deren Thema nur indirekt aufgeklärt wird. In erster Linie scheinen hier Unternehmen anderen Unternehmen ihre Beraterdienste anzudienen. Unternehmensberatungen sowie Hardware- und Softwareunternehmen verkaufen ihre Produkte für eine bessere Unternehmensperformance an andere Unternehmen. Die Dauerkommunikation soll nicht zuletzt der drohenden Wegrationalisierung der eigenen Stelle entgegenwirken, die zu befürchten ist, wenn das eigene Unternehmen die jeweils andere Beratung in Anspruch nimmt. Über Berufsbezeichnungen sind die Textblöcke durchaus Figuren zugeordnet, auch wenn diese Stimmen sich nur wenig von den Stimmen der anderen unterscheiden. Die minimal differenzierten Züge entsprechen der beruflichen Positionierung: Eine davon ist »der it-supporter«.72 Der Techniker, der die Übertragungstechnologie am Laufen hält und in ihrer Materialität wartet, ist bereits in Taylors Fabrikarchiv die ausgeblendete Figur.73 Hier erhält der für das digitale Archiv auch als Speicher zuständige Arbeiter eine Stimme im Strom des erzwungenen Kommunizierens. Und bereits dadurch finden sich die Narrative von ungestörter Übertragung und ungehemmtem Kommunikationsdrang gebrochen. Die durchgehende Kleinschreibung des IT-Akronyms macht aus dem für die Wartung der Informationstechnologie zuständigen Dienstleister auch einen Dienstleister des ›Es‹ – und damit eines Verdrängten, das wiederkehren will. Diese Wiederkehr inszeniert der Text zunächst als einen Kampf um Anerkennung der Figur. Bereits die Vorstellung des Personals, »Sven, nein nicht it-supporter«,74 konnotiert die anschließend vom Haupttext durchgehaltene Berufsbezeichnung als Abwertung. Die Figurenstimme drängt darauf, nicht in der Position des bloßen Techsupporters und Archivars wahrgenommen zu werden, sondern als Teil des ökonomischen Übertragungs- und

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Röggla, wir schlafen nicht, S. 5. Ebd., S. 12. Zum Archivsklaven vgl. den Beitrag von Knut Ebeling in diesem Band. Röggla, wir schlafen nicht, S. 5.

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Kommunikationsdrangs. An diesem verschafft sie sich eben Anteil, indem sie repetitiv ihre Teilhabe behauptet: kein it-supporter […], sondern dazu da, frau mertens dabei zu helfen, die it-produkte die das unternehmen vertreibe, den interessierten menschen näherzubringen. also wie gesagt, er sei kein it-supporter und schon gar keiner, der einzig dazu da sei, die systeme hoch- und runterzufahren und die rechner zu synchronisieren.75

Die kommunikative Teilhabe läuft dann aber doch immer wieder auf Kommunikationsstörungen bezüglich des digitalen Archivs hinaus: Aus Sicht des Archivars äußert die mangelnde Anerkennung sich in mangelnder Aufmerksamkeit der anderen ihm gegenüber, was ihn zu ständigen Erklärungsversuchen antreibt: »lieber machten alle die flatter, wenn es einmal zu einem problem komme, und er stünde dann allein da. […] ja nachher könne man denen alles doppelt und dreifach erklären«.76 Umgekehrt entsteht hier aus Sicht seiner Vorgesetzten ein Herrschaftswissen, das seinerseits den ungehemmten Ablauf der kommunikativen Übertragung stört – gerade indem der Archivar manchmal die Kommunikation über sein Archiv verweigert: Als Störung zeigen sich so die »unansprechbarkeiten ihres itverantwortlichen«, die von ihm gegebenen »verspätete informationen«77 oder der beständige Verdacht, er »halte irgendeine nachricht zurück, nur, um sie zu ärgern«.78 Die sprachliche Teilhabe des IT-Supporters an der kommunikativen Dauerübertragung wird so als Rückkehr jener Störung inszeniert, welche sich in den gängigen Digitalisierungsnarrativen ›verdrängt‹ findet. Statt den Usern jenen von den Technologien ermöglichten aber ungestörten gemeinsamen ökonomischen Raum zu eröffnen, in dem sich auch Hardts und Negris neue politische Agora entfalten soll, thematisiert die Figur eine Vernetzung der User mit den Technologien, durchaus auch in ihrer Dinghaftigkeit. Statt User mit Usern zu vernetzen, sind sie mit Technologien und Dingen verschaltet79 – mit der Figur des IT-Supporters am Regler dieser Verschaltung. Die ungestörte Dauerkommunikation läuft im Zeichen der Rückkehr ihres Verdrängten ins Leere und exponiert das Zwanghafte, das diesen Leerlauf ausmacht: Die Agora des Metaunternehmens ist der Beratungsraum, in welchem über die Kommunikationsstörungen beraten wird, wie es ein gehobener Angestellter gleich am Anfang des Texts als eine der »positionierungen«80 beschreibt, 75

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Ebd., S. 28. »sie könne ihn nicht für irgendeinen billigen techniker halten, den man für jedes problem hole« (ebd., S. 120). Ebd., S. 12. Ebd., S. 118. Ebd., S. 119. Dies folgt eher einem Modell eines Netzwerks aus Aktanden, Technologien und Dingen im Sinne Latours. Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008, S. 122–172. Röggla, wir schlafen nicht, S. 118.

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die wohl auch die des Textes selbst kundtut: »aber die unverständlichkeit sei ja genau einer der gründe, warum es überhaupt beratungen gebe«.81 Die Annahme ungestörter Digitalisierung und ungestörter Dauerkommunikation konstituiert solche störende Unverständlichkeit, über welche dann dauerhaft kommuniziert wird. Die ‚verdrängte‘ Medientechnologie kehrt wieder als Beweggrund und Perversion dessen, was eigentlich über ihre Verdrängung zum Laufen gebracht werden sollte, in dieser Wiederkehr aber bloß Leerlauf reproduziert. Als Figur der Wiederkehr bringt der IT-Supporter als einziger die in den Digitalisierungsnarrativen aufgelöste Dimension des Archivs ins Spiel: den Speicher. Hardts und Negris Analogisierung von Datenübertragungen und sozialen Übertragungen dreht der Text in die entgegengesetzte Richtung. Der arbeitende Körper wird ebenfalls in ein rhetorisches Übertragungsverhältnis mit dem Computer gebracht – aber mit dem Computer als Speicher, dessen Kapazitäten dem Körper abgehen: »noch einmal sage er: man könne nicht vorschlafen […]. der körper speichere schlaf nicht, er speichere alles mögliche, aber schlaf, das schaffe er nicht«. 82 Bezüglich des mangelnden Schlafs entwirft der Text zwar ebenfalls eine Übertragungsphantasie. Diese löst den Speicher jedoch nicht ab, sondern ist auf ihn gefluchtet: »oder wenn man schlaf übertragen könnte: so von einem menschen zum anderen, das wäre es doch, ganze schlafbanken würden da angelegt«.83 Die biophysiologische Hardware kann rhetorisch in die technische übertragen werden, weil die Anforderungen im Globalisierungsnarrativ die nämlichen sind: Dauerübertragung von Sprechakten bzw. Daten. Weil der biophysiologischen Hardware die Speicherkapazität abgeht, verbleibt die Analogisierung in der bloßen Möglichkeitsform. In der Parallelführung, wie sie etwa Hardt und Negri betreiben, kann sie hier nicht bestehen. Dadurch rückt der Anteil der Speicherdimension des Digitalen an seiner Wirkungsmacht in den Fokus – und stört die gängigen Narrative. »das digitale herz eines unternehmens«84 findet sich in seiner Speicherkapazität aus dem Arcanum geholt, erst von dieser her können »die datenflüsse eben geregelt werden«.85 – In wir schlafen nicht heißt ›Protest‹ auch, das abwesende Archiv als Speicher in den Blick zu bekommen: weil dies einen Bruch in der Analogie zwischen digitalen und sozialen Netzwerken exponiert, welche die Arbeitswelt in Dauerkommunikation versetzt.

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 31.

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VIII. Deutlicher noch organisiert das Archiv als Speicher den Protest in Joachim Zelters Schule der Arbeitslosen. Das flexible, starke Individuum eines unternehmerischen Selbst, das beständig sein Leben neu kreativ entwerfen und dies beständig neu nach draußen kommunizieren kann,86 reduzieren gleich die ersten Seiten auf ein sehr simples Paradoxon: Das Leben in der Kontrollgesellschaft, die Deleuze als dynamisches Sieb mit sich beständig verschiebenden Löchern metaphorisiert hat,87 soll in der Titel gebenden Schule zwar gelehrt werden. Die Schule selbst zeigt sich aber als alles andere als ein Übertragungsnetzwerk. Wie ihr Name schon sagt, handelt es sich in deutlicher Anspielung auf Foucault um eine Einschließungsinstitution der Disziplinargesellschaft. Die Handlung in der Schule spielt auch alle anderen von Foucault genannten Einschließungsinstitutionen durch: Diese Schule hat ihren Ort in einer stillgelegten Fabrik, wie gleich einleitend unterstrichen wird.88 Das Trainingsprogramm, welches den Übergang von der Fabrikarbeit zur Dienstleistung ermöglichen soll, ist mit sämtlichen Insignien der Disziplinarmacht ausgestattet: Es gleicht dem Leben in einem Gefängnis, einer Militärkaserne und, wie das Schulmotto »Work is Freedom«89 bzw. »Freedom is Work«90 besonders plakativ verdeutlicht, einem Arbeits- und Vernichtungslager.91 Dazu fährt der Text Klassiker der Totalitarismusphantasien auf: Die geforderte und vom Roman selbst praktizierte Sprachdynamik der flexibilisierten Arbeit rezitiert den Newspeak aus Orwells 1984; die den Trainees abverlangte Promiskuität die Ethik aus Huxleys Brave New World. Während Vernetzung und Übertragung gelehrt werden, sind Speicherarchive der Überwachung allgegenwärtig. Sei es in den handschriftlichen Akten des Schulpsychologen oder in den elektronischen Datenbanken der Arbeitsagentur. So, wie die flexibilisierte Dienstleistungsgesellschaft in den Räumen der Fabrik als einer Einschließungsinstitution verankert ist und von dieser bestimmt wird, so grundiert der Text parallel die kommunikative Übertragungsdynamik, für die auch hier in erster Linie das Internet steht, immer wieder in Speicherarchiven. Der Text setzt sich mit einer ›neuen‹ kulturellen Konstellation auseinander, indem er in ihr die Fortsetzung und Radikalisierung der ›alten‹ Konstellation behauptet – und so die Auseinandersetzung mit Flexibisierungs- und Kommunikationsdrang weitgehend vermeidet. Der Protest der Schule der Arbeitslosen mobilisiert in erster

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Vgl. Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 153–179. Vgl. Deleuze, »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 256. Vgl. Zelter, Schule der Arbeitslosen, S. 5. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Dies Motiv orientiert sich an der Fortführung von Foucaults Disziplinargesellschaftsthese durch Giorgio Agamben, hom*o sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002.

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Linie den literarischen Widerstand von im 21. Jahrhundert gängigen Schulbuchtexten. Im Erzählen vom Archiv gibt sich allerdings eine ähnliche Strategie wie in wir schlafen nicht zu erkennen. Die Rückübersetzung der Kontroll- in die Disziplinargesellschaft bzw. des Übertragungs- ins Speicherarchiv stellt ebenfalls die illegitime Analogie biologischer Körper mit digitalen Speichern aus, die das Digitalisierungsnarrativ organisiert. Zelters Erzählstränge beschreiben so metapoetisch wie handfest eine Weise, in der die Störung der Speicherdimension im Übertragungsarchiv vergessen werden kann: durch Löschung des Speichers. Der Text wendet die Auflösung des Speichers in den Digitalisierungsnarrativen auf seine Handlung an. Gleich am Anfang verschwinden, ob intentional oder nicht, Arbeitslose auf dem Weg zur Schule aus dem Agenturbus. Ihre Personenakten werden per Mausklick aus den Speichern der Arbeitsagentur gelöscht. In der Kontrollgesellschaft sind sie nun Vogelfreie. »Ab jetzt stehen sie außerhalb jedweder Obhut. Ihre Namen und Daten werden zum Löschen freigegeben. Ihre Koffer werden entsorgt. Als wären zwei Menschen mitten auf dem Meer von einem Schiff gesprungen, ins Nichts«.92 Am Ende des Texts werden alle Trainees der Agentur »zur Ermutigung und Aufmunterung« bzw. zum »Sonderurlaub«,93 wie es heißt, nach Sierra Leone ausgeflogen: in das Land mit dem weltweit niedrigsten Lebensstandard und der längsten und intensivsten afrikanischen Bürgerkriegsgeschichte. Ob die Trainees dort eventuell als Arbeiter in Diamantenfabriken oder als Söldner im Bürgerkrieg eingesetzt werden, lässt der Text offen. Er endet mit dem Betreten von Frachtflugzeugen. Dass diese, die wegen mangelnden Druckausgleichs zur Personenbeförderung eigentlich nicht geeignet sind, umgebaut worden sind, wird nicht erwähnt und kann also bezweifelt werden. Offen bleibt so ebenfalls, ob es sich bei der Übertragung biologischer Körper von Raum zu Raum um deren Vernichtung auf dem Übertragungsflug handelt. In diesem so versteckten wie grellen abschließenden Verweis auf die Todeskammern ist der Speicher als Problem der Übertragung markiert: Um das störungsfreie Übertragungsnarrativ dynamisch fortführen zu können, müssen beständig überflüssige Daten aus dem Speicher gelöscht werden, hier die überflüssigen Dienstleister. Dass diese Daten als biologische Körper der Trainees bestehen bleiben, stellt für die Übertragung wie ihr Narrativ ein Problem dar, welches durch Löschung bzw. Verschiebung in den ›Papierkorb« Sierra Leone gelöst wird. Zelter evoziert das Speicherarchiv ähnlich wie Röggla als Bedingung wie Störung der manischen Übertragung. Dass der Protest von Zelters Phantastik sich in erster Linie gegen die Disziplinargesellschaft statt gegen die anzitierte Kontrollgesellschaft richtet, erinnert deren Narrative umso stärker an das in ihnen Überblendete.

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Zelter, Schule der Arbeitslosen, S. 16. Ebd., S. 199.

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IX. Die Dauerübertragung ist bereits in den Untertitel von Reinhard Jirgls Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit eingeschrieben. Der kultur- und zivilisationskritische Gestus, der die ganze Narration wie auch ihre idiosynkatische sprachliche Form organisiert, scheint sich eher an einer durch die Frankfurter Schule gefilterten AntiÖdipus-Lektüre zu orientieren. Ebenfalls insistieren aber die Topoi des Kontrollgesellschaftsessays. Digitalität kommt in ihren beiden Archivvarianten bloß am Ende des Romans randständig vor, dann aber in einer für die Gesamtorganisation des Texts wichtigen Position: Einer der beiden Icherzähler findet nachts online ein Manifest über das Internet, über seine Aneignung und letztlich über seine Beseitigung: »Einstürzendes Bürgertum. Der Wunsch als Waffe«.94 Angesichts der Absurdität des Manifests bricht das Ich zwar in ein distanzierendes Gelächter über die »verkrachte[n] Intellektuellen«95 aus. Aber die schizophrene Struktur des Romans, eine dem Ich zugeschriebene klinische Schizophrenie und das den Einschub einund ausleitende Uhland- bzw. Zuckmayer-Zitat (»Als wärs ein Stück von mir«96), kennzeichnen das Manifest als Detail des Nervositätsmosaiks des Ich. Auch die formale Machart von Abtrünnig weist auf das Internet als eine für die Romankonstruktion wichtige Figur hin. Der Text imitiert online-Hypertexte durch interne Verlinkungen auf andere Seiten. Der einzige Link des Texts, der nirgendwo hinweist, sondern eben ins Netz, ist der Link zum ›Einstürzenden Bürgertum‹, welcher so zu einer Metafigur der Textstruktur wird. Der Text selbst praktiziert die rhizomatische Vernetzung, die das Manifest behandelt. Das im Manifest beschriebene Internet steht im Zeichen der Gewalt; seine historische Genese aus der Kriegstechnologie wird rekapituliert. Diese wird ganz im Sinne des ökonomischen Narrativs mit einer Zurichtung des Selbst für den Arbeitsmarkt parallelisiert: »Intensivierung der Arbeitskraft durch Nanotechnologie der Ausbeutung. Kein noch so kleiner Raum darf unbesetzt, unergriffen unvermessen bleiben!, keine noch so kleine Kraft ungebunden!«.97 Wie nebenbei, aber mit weit reichenden Konsequenzen erklärt diese Passage die Vernetzungsfunktion zu einer Speicheroperation: zur Sammlung der sich online verströmenden Kräfte. Gleich Rögglas und Zelters Erzählanordnungen findet sich der Speicher so zunächst der Übertragung vorgeordnet. Dem entspricht die Betonung des in den Digitalisierungsnarrativen ausgeblendeten materiellen Aspekts von Internetleitungen ebenso wie die Wörtlichnahme von Foucaults Parallelführung von Archiv und

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Jirgl, Abtrünnig, S. 486. Ebd., S. 493. Vermutet wird ein amerikanischer Ex-Professor für AI, der Thema eines Essay des Ich war. Ein Großteil des im Roman beschriebenen beruflichen Niedergangs des Ich beruht auf den Intrigen rund um Publikation und Urheberschaft dieses Essay. Ebd., S. 488. Ebd., S. 488.

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Archäologie:98 Die Erzählinstanz des Manifests versteht ihr Tun insofern als archäologisch, als dass sie Zivilisationen von den je eigenen »Ruinen« her beschreibt. Für die Gegenwart sind dies mit den »stillgelegten und verlassenen Fabrikanlagen« und »Bergwerken« die Ruinen der Disziplinararbeit. Für die Zukunft nimmt das Manifest eine »Müllkippe der Informationen« im gleichermaßen metaphorischen wie Literalsinn an: die digitalen Speicher der Jetztzeit, die das Internet bedingen, werden zukünftigen Archäologen über die Richtung der »Massen-Wünsche«99 und damit des allgemeinen Begehrens dieser Jetztzeit für ihre eigene Zukunft informieren. Auch Abtrünnig evoziert hier ein Narrativ, in welchem auf Dauer gestellte Übertragung für eine die Disziplinararbeit ablösende Dienstleistungsgesellschaft steht. Ebenfalls evoziert ist die Analogie von Biologie, Soziologie und Technologie, die der Text aber im Unterschied zu Röggla und Zelter nicht konterkariert, sondern übersteigert. Die Verdichtung der drei Ebenen im über das Internet übertragenen ›Wunsch‹ ermöglicht zwei implizit mitlaufende Erzähl- bzw. Argumentationsstränge: Übertragung wird erstens nicht bloß räumlich, sondern vor allem auch zeitlich verstanden. Ein Internet in diesem Sinne produziert Zukunft in der Gegenwart. Jirgls Netz verzukünftigt Gegenwart, indem seine Wünsche sich auf Zukunft ausrichten und, so die suggestive Schlussfolgerung des Manifests, Gegenwart als defiziente festschreiben. Durch diese Betonung tritt zweitens der Vernetzungsaspekt im Übertragungsparadigma zurück. Vielmehr kann der Archäologe (respektive Archivar, respektive Revolutionär) idealiter sämtliche Wünsche sammeln und ein Speicherarchiv der Übertragungen anlegen. Dass es sich bei der Sammlung der Wünsche der Massen um eine Müllarchäologie handeln müsse, wird durch den archäologischen Aspekt des Stocherns in Überresten suggeriert. Retrospektiv soll das Bild die kulturkritische Setzung des Texts plausibilisieren, dass es sich bei den Massenwünschen notwendig um ›Müll‹ handeln müsse. Dieser Setzung liegt Flussers Theorieimago einer medientechnischen Vernetzung im Universum der technischen Bilder zugrunde: Bei Flusser führt Vernetzung notwendig zur totalitären Gleichschaltung, ehe eine demokratische Subversion Abhilfe schafft, die Flusser »Telematik«100 nennt und in der Webadresse des Manifests zitiert ist. Die Telematik, auf die der Icherzähler im Netz stößt, verkehrt Flussers Demokratievision allerdings in das »Theater des Amok«,101 von dem im Manifest die Rede geht. Als ›Waffe‹ soll der Wunsch das Bürgertum eines medialen Kommunismus der Müllwunschübertragung zum Einsturz bringen, indem die Revolutionäre sich durch Programmier- und Hackerkünste Zugang zu sämtlichen

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Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, S. 9–30 und S. 183–200. Jirgl, Abtrünnig, S. 487. Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1996, S. 177. Jirgl, Abtrünnig, S. 489.

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Martin Jörg Schäfer

Transaktionen des Internet verschaffen und so den »Eine[n] Wunsch«102 herausdestillieren. Des Wunsches Zukünftigkeit manifestierte sich somit gänzlich in der Gegenwart und, so die Utopie, zerstörte dabei die auf Übertragung in die Zukunft ausgerichtete Wunsch-Struktur: »Selbstzerstörung nicht allein des Netzes […], sondern […] Zusammenbruch der gegenwärtigen Marktwirtschaft«.103 Die Bedingung für den revolutionären Akt liegt auch in Abtrünnig im digitalen Archiv als Speicher, der potentiell alle Wünsche fassen und bündeln kann. Dem Narrativ der Verabschiedung der Speicherung durch Übertragung im digitalen Archiv setzen Jirgls »Telematic Raiders«104 die Verabschiedung der Übertragung durch die Speicherung entgegen – und die Selbstverabschiedung der Speicherung gleich mit. Das Internet bliebe als unterirdische Ruine, dem sich eine Zukunft eben nicht mehr archivarisch sondern wirklich archäologisch nähern müsste. Zwar bricht das Ich bei der Lektüre dieser Beschwörung eines ›Theaters des Amok‹ in Gelächter aus. Allerdings heißt dann das nächste Romankapitel »Amok«:105 Das zerrüttete Ich wird willkürlich einen ihm unbekannten Menschen töten, um zum Abschluss des Romans den Romantext von Abtrünnig als Beweis dafür präsentieren, dass es sich doch bloß um einen fiktiven Mord und damit ein fiktives Geständnis handeln könne. Die ›Spinnerei‹ des »Telematic Raiders«-Manifests figuriert den gesamten Roman, der auf einen Amoklauf an der bestehenden Kultur zielt und seinen Protest über einen Widerstreit von Speicher- und Übertragungsarchiv inszeniert.

X. Der öffentliche Raum, in dem Peltzers Clowns ihren Protest veranstalten, ist bei Röggla, Zelter und Jirgl derjenige der Sprache. wir schlafen nicht und Schule der Arbeitslosen übersteigern den klischierten Dauerkommunikationsdrang der schönen neuen Arbeitswelt. Abtrünnig soll deren Sprachklischees eine singuläre Sprachidiosynkrasie abtrotzen. Die verborgene Gewalt, über welche die Kontrollgesellschaft sich reproduziert, stellt der jeweilige Sprachkörper aus. Der Protest liegt im schieren Akt solcher Exposition. Wie von den Clowns auf Peltzers Sony Center findet sich die Kontrollgewalt kurzzeitig aus dem Tritt gebracht, gerade wo sie sich auf dem von ihr kontrollierten Allgemeinplatz in ihrer Gewalt entblößt. Zur Lüftung des Geheimnisses gehört in allen Fällen die Infragestellung einer von den digitalen Archiven behaupteten störungsfreien Übertragung. Die Protestliteratur erzählt von solchen Archiven und Archivnarrativen, indem sie zunächst deren 102 103 104 105

Ebd., S. 493. Ebd., S. 492. Ebd., S. 493. Ebd., S. 501.

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manischen Kommunikationsdrang rezitiert – um diesen dann vom Speicherarchiv als einem Emblem der Disziplinarmacht her zu konterkarieren: Der Sprachgewalt der Darstellung korrespondiert auf der Ebene des Dargestellten ein aus seinem Arcanum gezerrter Speicher. Dessen Bennennung beschwört zunächst seine Wirkungsmacht, um ihm dann den mystischen Kern seines Geheimnisses zumindest auf sprachlicher Ebene zu nehmen. Die narrativen und rhetorischen Strategien, mit denen Digitalisierungsnarrative ihre metaphorischen Setzungen bezüglich des Speicherarchivs sowie biologischer und sozialer Konstellationen überblenden, sehen sich ad absurdum geführt. Die von Deleuze geforderten ›Widerstandsformen‹ finden in der Protestliteratur der ›Kontrollgesellschaft‹ zunächst in der Sprache statt. Bezüglich des Archivs rezitieren sie dabei auch eine altehrwürdige Tradition: Mit Peltzers Clowns praktizieren sie, wenn auch in verschobenen Formen, ›Aufklärungsarbeit‹, um dem Widerstand überhaupt erst einen Möglichkeitsraum zu eröffnen.

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III. ARCHIVE DES MENSCHEN

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Der Fall der Folter – ein Diskurs aus Akten Eine Räubergeschichte aus der Frühen Neuzeit als Medium historischer Gewaltdarstellung Thomas Weitin

»Von dem Stillschweigen einer Schrift lässet sichs in historischen Dingen überall ganz übel schließen.«1

1. Fälle aus dem Archiv Körperliche Gewalt zu protokollieren und zu den Akten zu bringen war im Strafrecht alltägliche Praxis, solange die Folter als legales Mittel zur Beweiserzwingung eingesetzt wurde. Gerichtsarchive beinhalten als Orte solcher Aufzeichnungen ein erhebliches Maß an Gewalt, und sie üben zugleich selbst Gewalt aus, indem sie, was mit dem Körper geschieht, stets nur so ausschnitthaft festhalten, wie es das jeweilige Verfahren verlangt. In dem Fall, um den es im Folgenden gehen soll, wurde beispielsweise nur das Verhalten der Gefolterten, nicht aber das des Gewalt ausübenden Scharfrichters protokolliert.2 Dass wir überhaupt von ›Fällen‹ sprechen können, verdankt sich der Gewalt der Archive, die nach innen wirkt in Gestalt der Entscheidung, was zu den Akten genommen wird und was nicht, und die außenwirksam ist, wenn aus dem Archiv heraus wiederum selektiv ein Aktenbericht für die Öffentlichkeit verfasst wird. Der ›aktenmäßige Bericht‹ bringt die einzelnen formaljuristischen Schriftstücke – Protokolle, schriftliche Geständnisse, Urteile – in einen narrativen Zusammenhang. Die populärjuristischen Sammlungen von Kriminalrechtsfällen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten, bedienten sich vielfach solcher Berichte oder nannten sich selbst ›aktenmäßige Darstellungen‹3. Während sie abgeschlossene Fälle referierten, machte es die Form des schriftlichen Inquisitionsprozesses bereits innerhalb des Verfahrens notwendig, aus Akten Erzählungen werden zu lassen. Bei Kapitalverbrechen musste sich das Untersuchungsgericht in der Regel darauf beschränken, alle 1 2

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Sigismund Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, Leipzig, Zelle 51718, I, S. 64. Uwe Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1988, S. 548. Berühmt wurde zum Beispiel Anselm Feuerbachs Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen (1827/1829).

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Thomas Weitin

Beweise schriftlich aufzunehmen und alsdann an eine Oberinstanz zu senden, die allein nach Aktenlage entschied. Vorbereitet wurde das Urteil der Spruchkammer durch so genannte ›Relationen‹, worunter die Juristen die Zusammenfassung des jeweiligen Falles verstanden, die ein Mitglied der Kammer für seine Kollegen zur Urteilsfindung zu verfassen und in der entscheidenden Sitzung zu referieren hatte.4 In den Relationen, deren zentraler Bestandteil die als »Geschichtserzählung«5 bezeichnete Darstellung des jeweiligen Sachverhalts war, steckt historisch gesehen der erzählerische Kern des Strafrechts. Sie waren Vorbilder für die juristischen Fallsammlungen, die wiederum die Entwicklung der Kriminalliteratur entscheidend beeinflussten. Eine Hybridgattung zwischen Literatur und Recht, waren die Fallsammlungen populär wegen des allgemeinen Interesses am Phänomen von Verbrechen und Kriminalität. Sie boten aber auch ein Forum für die rechtspolitischen Diskussionen der Aufklärung, die sich mit den gesellschaftlichen Ursachen von Delinquenz beschäftigten und mit den angemessenen Formen des Strafverfahrens und des Strafvollzugs. Das jahrhundertealte Beweismittel der Folter wurde dabei besonders intensiv diskutiert, stand es doch im Brennpunkt der Frage nach Verfahrens- und Strafgerechtigkeit. Bei unserem vorliegenden Fall handelt es sich um die berühmte Geschichte vom Räuber Nickel List und seinen Gesellen, die Friedrich Schiller als Quelle für seine Räuber diente. Eduard Hitzig und Wilhelm Häring (alias Willibald Alexis) nahmen sie 1843 in ihren Neuen Pitaval auf.6 Erstmals publik geworden waren die zugrunde liegenden Ereignisse aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg dank eines Aktenberichts von Pastor Sigismund Hosmann, der die erfolgreiche Ermittlung und Bestrafung der Räuber im Jahr 1700 als das Fürtreffliche Denck=Mahl Der Göttlichen Regierung des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg gewürdigt hatte. Hosmann war als Gefängnisgeistlicher für die in Celle inhaftierten Räuber zuständig gewesen. Die Bande hatte vor allem durch den Raub der

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Wolfgang Schild, »Relationen und Referierkunst«, in: Jörg Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, Tübingen 1991, S. 159–176, hier S. 165. Justus Claproth, Grundsäze von Verfertigung der Relationen aus Gerichtsacten, Göttingen 41789, S. 12 u. a. Die Vermutung der Pitaval-Herausgeber, der Fall Nickel List sei das Vorbild für Schillers Räuber gewesen (Eduard Hitzig, Wilhelm Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, in: dies. [Hg.], Der neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, Bd. 3, Leipzig 1843, S. 247–387, hier S. 357), konnte die Forschung bestätigen (Günther Kraft, Historische Studien zu Schillers Schauspiel »Die Räuber«, Weimar 1959, S. 89; Dorothy Hewlett, A Life of John Keats, New York 1950, S. 237). Detailliert nachgegangen wurde dem Quellenzusammenhang bislang jedoch nicht. In den historisch-kritischen Werkausgaben findet er nicht einmal Erwähnung.

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Goldenen Tafel aus der Kirche St. Michael in Lüneburg europaweit für Aufsehen gesorgt. Ihre Mitglieder wurden in verschiedenen deutschen Ländern festgenommen, nach Celle überstellt und dort fast ausnahmslos aufgrund erfolterter Geständnisse hingerichtet. Die Fallgeschichte im Neuen Pitaval entspricht weitgehend dem Aktenbericht Hosmanns, zu dem die Herausgeber als aufgeklärte Rechtsreformer jedoch zugleich auf Distanz gehen, weil er die Folter nicht nur als selbstverständliches Mittel der Beweiserzwingung im Inquisitionsprozess hingenommen, sondern sogar »gegen einige Neuerungssüchtige mit voller Wärme«7 verteidigt hatte. Einerseits folgt der Pitaval Hosmann, der ganz sachlich mit der korrekten juristischen Terminologie »unser Berichterstatter« oder »Referent« genannt wird,8 in der Schilderung der Ermittlungs- und Prozessgeschichte und in der Beschreibung der einzelnen Bandenmitglieder und ihrer Lebensläufe. Andererseits erscheint er seinen aufgeklärten Nachfolgern als Vertreter einer bereits kurios anmutenden Vormoderne, der gegenüber sie einen kritischen oder ironisch gebrochenen Ton anschlagen. Friedrich Avé-Lallements vierbändiges Standardwerk Das deutsche Gaunerthum (1858), das erstmals den Versuch unternahm, die ›Gaunerliteratur‹ nach Gattungen zu unterscheiden, nennt das Fürtreffliche Denck=Mahl Hosmanns unter der Rubrik ›Relationen‹ an erster Stelle.9 Dass die Schrift tatsächlich »als erstes Zeugnis für die erzählte Kriminalität«10 einzustufen ist, kann angesichts der großen Zahl konkurrierender Quellen auf diesem Gebiet bezweifelt werden. Offensichtlich aber ist das Werk, das bis 1733 in sechs Auflagen erschien, ein Verkaufserfolg gewesen und hat die Geschichte von Nickel List und seinem spektakulärsten Raub entscheidend popularisiert. Prototypisch ist Hosmann für die Quellengattung ›aktenmäßige Darstellung‹, weil sein Text die charakteristische Spannung zwischen tatsächlichem Aktenbericht und erzählerischer Ausgestaltung aufweist. Im Umgang mit den Akten war er sehr genau,11 die Tendenz seiner Erzählung hat nicht unwesentlich mit seinem geistlichen Amt zu tun, dem es oblag, die ihm anvertrauten Räuber rechtzeitig zur Hinrichtung in reuige Sünder zu verwandeln.

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Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 275. Ebd., S. 353 und S. 375. Friedrich Christian Benedict Avé-Lallement, Das Deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande, Erster Theil, Leipzig 1858, S. 221. Ernst Schubert, »Der berühmteste Kirchenraub der deutschen Kriminalgeschichte. Der Raub der Lüneburger Goldenen Tafel 1698«, in: Sabine Arend et al. (Hg.), Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2006, S. 461–486, hier S. 462. Das hat Danker im Vergleich mit den Prozessakten im Staatsarchiv Hannover und im Braunschweiger Stadtarchiv nachgewiesen (Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700, S. 30).

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2. Diskurs der Folter zwischen Recht und Literatur Die Textbasis für unsere Überlegungen ist dreigliedrig. Wir konzentrieren uns zunächst auf das kritische Verhältnis, das die Pitaval-Autoren zu ihrem Berichterstatter im Hinblick auf die Folter einnehmen, und lassen alsdann einige der zahlreichen Literarisierungen der Geschichte vom Räuber Nickel List in die Analyse einfließen, die vom 18. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit reichen. In der allgemeinen Konjunktur unterhaltsamer Kriminal- und Räubergeschichten seit den 1790er Jahren weisen sich manche der frühen Texte offen als ›romantische‹ Darstellungen aus, andere sind im Aktenstil geschrieben oder geben sich den Anschein aktenmäßiger Authentizität. Ersteres gilt etwa für Gottlieb Bertrands Der furchtbare Abenteurer Nikel List, genannt: von der Mosel (1806), letzteres für Friedrich Eberhard Rambachs Nickel List (in: Thaten und Feinheiten renomirter Kraft- und Kniffgenies, 1790) und August Leibrocks Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List genannt Herr von der Mosel und seiner Bande (1824).12 Die Forschung hat die populären Darstellungen bislang kaum wahrgenommen. In den Arbeiten zur Rechts- und Literaturgeschichte der Folter fehlt erstaunlicherweise der für diese Problematik zentrale Fall Nickel List vollständig, wobei zu konstatieren ist, dass die hybride Gattung der Fallgeschichte in diesem Kontext generell noch nicht untersucht wurde. Von den Monografien zur Sozialgeschichte der Bandendelinquenz beschäftigen sich Küther und Danker mit dem historischen Nickel List,13 Gegenstand ihrer Argumentation ist aber fast ausschließlich der Bericht Hosmanns, seine kritische Aufnahme im Pitaval spielt bei beiden keine Rolle. Danker geht stattdessen kurz auf die romantischen Nachdichtungen bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein, in denen er ein den bürgerlichen Alltag kompensierendes Abenteurertum entdeckt.14 Die Nachdichtungen pauschal als »Romantisierung«15 abzutun, verbietet sich, wenn der ›Diskurs‹ der Folter untersucht werden und also gefragt werden soll, entlang welcher Argumentationslinien und innerhalb welcher Kontexte und Vorstellungen von der Folter die Rede ist. Für die Analyse des Folterdiskurses zwischen Recht und Literatur kommt es gerade auf den Zusammenhang zwischen den aktenmäßigeren und den freier fiktionalisierenden und erzählenden Texten an. 12

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Gottlieb Bertrand, Der furchtbare Abenteurer Nikel List, genannt: von der Mosel. Romantisch dargestellt von Gottlieb Bertrand, Verfasser des Mazarino, Braunschweig 1806; Friedrich Eberhard Rambach, »Nickel List«, in: Jonathan Wild. Nickel List. Thaten und Feinheiten renomirter Kraft- und Kniffgenies, Bd. 1, Berlin 1790; August Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List genannt Herr von der Mosel und seiner Bande. Nach den zu Zell im Jahre 1701 gedruckt erschienen Criminalacten bearbeitet, 2 Bde., Leipzig 1824. Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700; Carsten Küther, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 21987. Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700, S. 474. Ebd., S. 472.

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3. Geistliche Gewalt In unserem vorliegenden Fall war die Folter als Instrument zur Überführung der beschuldigten Räuber von kardinaler Bedeutung. Pastor Hosmann wirkte dabei direkt mit. Als der zuständige Gefängnisgeistliche veranstaltete er regelmäßige Betstunden, wobei er mit einem katholischen Kollegen um die christliche Reue der verhärteten Gemüter konkurrieren musste. Die »schwere Aufgabe« des Predigers können noch Hitzig/Häring mit einigem Respekt nachempfinden: »in den unterirdischen Löchern stundenlang auszudauern, im Kampf mit ihrer Verstocktheit, Roheit, ihren gleich herzzerreißenden Flüchen und Jammerlauten«.16 Dieses Szenario bezieht sich aber wohl nicht auf eine der Betstunden, für welche die Inhaftierten oft gemeinsam zu dem Geistlichen gebracht wurden, eher auf einen seiner zahlreichen Besuche im Foltergewölbe, bei denen er der eigenen Darstellung nach keineswegs tröstlichen Beistand spendete, sondern den physischen durch psychischen Druck zu verstärken half, um Aussagen zu erpressen. Ich ging also zu ihm / da ihm eben das Instrument wieder abgenommen war / und fand ihm mit gar kläglichen Geberden und angstlichen Winseln auff den Streu sitzen. So bald er mich erblickte / bath er um Trost. Ich verkündigte ihm an dessen Statt die Göttliche Gerichte / die er mit allergrößter Hartnäckigkeit gegen sich recht heraus forderte / da er die Dinge ableugnete / dero er durch soviel Zeugen und Merckmahle überwiesen wäre. Der HErr würde ihn noch härter straffen / wann er sein Hertz noch länger verstockte.17

Der Einsatz des Geistlichen ist dem juristischen Verfahren nicht äußerlich. Er ist vielmehr eine entscheidende Größe, wenn es darum geht, im Zusammenwirken von realer und imaginärer Gewalt einen Maximalwert zu erreichen. Das wiederum bedeutet nicht, dass er die Folter ohne Bedacht unterstützt und mitträgt. An der Stelle, da Hosmann in seinem Aktenbericht auf die erste ›peinliche Befragung‹ zu sprechen kommt, die den Harburger Saalbesitzer Christian Schwanke betraf, der den Raub der Goldenen Tafel in Lüneburg unterstützt und mit durchgeführt hatte, unterbricht er die chronologische Darstellung für eine gelehrte Auseinandersetzung mit Jacob Schallers bereits 1657 erschienener Abhandlung Paradoxon der Folter, die in einem christlichen Staat nicht angewendet werden darf. Gut scholastisch wird jedes Argument des Straßburger Theologieprofessors einzeln widerlegt, wobei der Schwerpunkt auf dem Gedanken der Generalprävention und auf den beweisrechtlichen Problemen des weltlichen Inquisitionsprozesses liegt. Dem Eindruck, die Folter sei eine Maßnahme ohne »Proportion«, hält Hosmann entgegen, sie ziele auf eine »Warheit/ daran offt eines ganzen Landes Heyl und Wohlfarth hanget«, die 16 17

Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 355. Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, II, S. 71.

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nicht durch die halsstarrige Aussageweigerung eines Einzelnen gefährdet werden dürften.18 Er betont andererseits, dass der Einzelne nicht schutzlos sei, da die in Celle noch angewandte Gerichtsordnung Kaiser Karl V. (Carolina) bestimmt habe, niemanden ohne hinreichende Verdachtsmomente zu foltern, und es bei Verstößen gegen diesen Grundsatz verboten sei, die entsprechenden Geständnisse zu verwenden.19 Das deckt sich mit dem etablierten Grundsatz des Inquisitionsprozesses, erst bei der Ermittlung eines ›halben‹ Beweises von der General- zur Spezialinquisition überzugehen, die zum Einsatz der Folter berechtigte.20 Hosmann erwähnt die gleichermaßen durch das Alte Testament21 und die Carolina22 legitimierte Praxis, »auf zweener Zeugen Aussage das Urtheil des Todes« zu fällen, und wendet ein, es könne sich immer um falsche Zeugen handeln. »Die Zeugen / die wider Christum aufstunden / waren solche«.23 Demgegenüber hält er die Folter für ein sichereres Wahrheitsmittel, das freilich »mit Vernunft« im rechten Maß gebraucht werden müsse. Der Richter solle »mit aller Sorgfalt in seinen Schrancken bleibe[n]«.24 Erkennbar ist bei Hosmann das Bemühen, die Folter einzugrenzen und zu verrechtlichen, wozu insbesondere auch gehört, dass man »auf die blosse Folter kein Urtheil schreibet«.25 Die Praxis der Hexenprozesse lehnt er vor diesem Hintergrund als unkontrolliert ab.26 Die Ausführungen des Pastors stehen im denkbar größten Gegensatz zur Verfahrensrealität in Celle. Die Carolina gab nur allgemeine Empfehlungen für die Prozesse, was insbesondere auch für die Folter galt, deren genaue Anwendung dem Ermessen des Richters überlassen blieb. In Celle führte der Ermittlungseifer der Behörden zu einem ungewöhnlich häufigen, jeweils schnellen und rücksichtslosen Gebrauch. Man versuchte, obwohl das nicht erlaubt war, auch Aussagen gegen Dritte oder über andere Delikte zu erzwingen.27 Maß und Schranken einzuhalten, darauf kam es dezidiert nicht an. Als der von der Folter in ver18 19

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Ebd., I, S. 71. In der Carolina heißt es zu Artikel 20: »Das on redliche anzeygung niemant soll peinlich gefragt werden« (Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, hg. und erläutert von Gustav Radbruch, hg. von Arthur Kaufmann, Stuttgart 61984, S. 40). Im Folgenden als ›Carolina‹ zitiert. Johann Christian von Quistorp, Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts, Leipzig, Rostock 51794 (Neudruck: Goldbach 1996), § 667, S. 214. »Auf zweier oder dreier Zeugen Mund soll sterben, wer des Todes wert ist, aber auf nur eines Zeugen Mund soll er nicht sterben« (5. Mose 17, 6). In Artikel 67 wird bestimmt, dass »eyn missethat zum wenigsten mit zweyen oder dreien glaubhafftigen guten zeugen, die von eynem waren wissen sagen, bewiesen wirdt« (Carolina, S. 59). Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, II, S. 85. Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. »Die es anders gemacht / und etwa nur durch die blosse Aussage in der Tortur die Scheiter-Hauffen lassen anstecken / und die armen unsehligen lassen eine Speise des wütende Feuers seyn / mögen wissen / wie sie solches vor dem höchsten Richter-Stuel weden verantworten [...]« (Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, I, S. 67). Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700, S. 139.

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schiedenen anderen Verfahren bereits abgehärtete Räuber Christian Müller sich beim Scharfrichter erkundigt: »wie viel Gradus er hier hätte«?, erhält er zur Antwort: »man kehrte sich hier an keine Gradus, sondern fragte einen so lange / biß er bekenne«.28

4. Physische und imaginäre Gewalt Diesen aufschlussreichen Dialog übernehmen die Pitaval-Herausgeber fast wörtlich,29 in den Nachdichtungen spielt das Verhalten des Räubers unter der Folter ebenfalls eine zentrale Rolle.30 Hitzig/Häring schreiben, er habe »aus der Tortur ein förmliches Studium gemacht«,31 und schildern, wie er durch den Vergleich der Prozeduren bei verschiedenen Gerichten eine Taktik entwickelt habe, die Folter zu überstehen. Müller verhöhnt insbesondere diejenigen Gerichte, bei denen »gemessene Zeiten«32 für den Gebrauch des jeweiligen Werkzeuges vorgesehen waren. Dadurch sei der Schmerz leichter zu ertragen. »Wenn man aber doch fühle, daß man es nicht aushalten werde, so brauche man nur anfangen zu bekennen. Man dürfe aber nicht mehr aussagen, als wofür man den Staupbesen bekomme. Der sei zu ertragen, und die Richter dankten am Ende Gott, daß sie den Menschen los würden und Arzneien und Kost sparten«.33 Müller war auf diese Weise schon von verschiedenen Verfahren losgekommen. Sein Hinweis auf die Kostenfrage ist nicht unerheblich, denn in der Tat bremste die Aussicht, die Gerichtskosten von vagabundierenden, sozial schlecht gestellten Delinquenten nicht wieder eintreiben zu können, nicht selten den Ermittlungseifer der Behörden.34 Die Folter überstanden zu haben, bedeutete zwar nicht zwangsläufig, dass man freikam. Die dann oft vorgenommene ›Landesverweisung‹ konnte aber gerade das mobile Banditentum wenig schrecken. Die gleichfalls angewandte Praxis, das Verfahren durch eine entsprechend geringere Verdachtsstrafe35 vorzeitig

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Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, II, S. 85. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 361. Hans von Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, Leipzig 1926, S. 90; August Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List, I, S. 49 f. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 360. Ebd. Ebd. Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700, S. 70. Julius Glaser, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess, Leipzig 1883 (Neudruck: Aalen 1978), S. 8; Rudolf Stichweh, »Zur Subjektivierung der Entscheidungsfindung im deutschen Strafprozeß des 19. Jahrhunderts«, in: André Gouron et al. (Hg.), Subjektivierung des justiziellen Beweisverfahrens. Beiträge zum Zeugenbeweis in Europa und den USA (18.–20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1994, S. 265–300, hier S. 271.

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zu beenden, war wiederum problematisch, weil sie die Autorität des Inquisitionsprozesses untergraben musste. In Celle verfährt Christian Müller nach seiner bewährten Methode und schaut, als man ihn torquiert, »rasch auf den Tisch nach der Uhr, um zu erfahren, ob die gesetzte Zeit für die scharfe Frage bald vorüber sei«.36 Um die Gewaltwirkung der Kontrolle der Inquisiten zu entziehen, legten manche Gerichte eigens fest, die Uhr so zu platzieren, dass sie von ihnen nicht einzusehen war.37 Die Celler Verhörbeamten konnten das unterlassen, da sie die Folter ohne einsehbare Regeln für Zeit und Härte handhabten. Gegen den renitenten Räuber Müller half dies jedoch wenig. Man erpresste ihm am Ende ein Geständnis, das so unzusammenhängend und von Falschaussagen durchzogen war, dass es kaum verwertbar schien. Ähnlich erging es dem Gericht auch bei anderen Verhören. Jonas Meyer, einer der jüdischen Räuber in der Verbindung, von dem wir gleich noch mehr hören werden, gesteht ebenfalls nur »stückweise«38 und hält entscheidende Informationen zurück. Der einzige Beschuldigte von vornehmerer Herkunft, der Regimentsquartiermeister Peermann, widerruft seine unter dem so genannten mecklenburgischen Instrument (Daumenund Zehenstock) erzwungene Aussage im Anschluss mit dem Hinweis, er habe alles »nur aus Angst«39 bekannt. Nickel Lists engster Vertrauter schließlich, Andreas Schwartze, hält das mecklenburgische Instrument aus und bekennt nach langer Weigerung nur aus einer irrtümlichen Schreckensvorstellung heraus, weil er das Kaminfeuer im Folterkeller für die nächste Torturstufe hält.40 Die spezielle Situation im Celler Prozess, in dem Delinquenten, die mit einer geregelten Anwendung der Folter vertraut waren, einem ungeregelten, archaischen Verfahren unterworfen wurden, lässt die Aporie der Beweiserzwingung in aller Deutlichkeit hervortreten. Wenn man formlos verfuhr und den Delinquenten keinerlei Rechte einräumte – etwa das in einigen partikularrechtlichen Kriminalordnungen garantierte Recht, gegen den Übergang zur Spezialinquisition mit Folter

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Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 360. Peter Oestmann verdanke ich den Hinweis auf die Hessen=Darmstädtische Peinliche Gerichtsordnung aus dem Jahr 1726, welche in § 6 verlangt, die Folter sowohl in der Intensität als auch in der Dauer nach einem »wohl regulirt- und vernünftige[n] Arbitrium« zu gebrauchen. Dazu gehört die ständige Kontrolle, »wie nach Befinden bei jedem Grad die Pein entweder zu remittiren, oder auch zu intendiren seye«, und die Aufsicht, »daß mit würcklicher Folter nicht leicht über eine Stunde […] angehalten werde«. Gewährleisten soll Letzteres »eine Sand-Uhr«, die so aufzustellen ist, »daß es der Delinquent nicht innen werde« (Hessen=Darmstädtische Peinliche Gerichtsordnung vom Jahr 1726, Darmstadt 1830, S. 429). Die übliche Zeitbegrenzung betont auch Anselm Feuerbach in seinem Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Rechts, wo es in § 614 heißt: »Eine Stunde ist nach der Praxis die langste Dauer der Tortur« (Paul Johann Anselm Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Rechts, Gießen 1801, S. 483). Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 362. Ebd. Ebd., S. 358.

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eine anwaltliche Verteidigung führen zu lassen41 –, war ein renitentes Verhalten für die Inquisiten die einzige Chance, einer Verurteilung zu entgehen. Umgekehrt galt, je mehr die körperliche Gewalt geregelt und verrechtlicht wurde, desto durchschaubarer und ineffizienter wurde ihre Anwendung. Dieser Zusammenhang wird in der Fallgeschichte im Pitaval viel deutlicher als in den ausführlichen aktenmäßigen Einzelberichten Hosmanns. Mindestens so fragwürdig wie die »Rechtmäßigkeit« erscheint den Aufklärern die »Zweckmäßigkeit« der Folter.42 Die beiden Herausgeber beginnen, die verschiedenen bei Hosmann referierten Verhöre unter den Gesichtspunkten systematischer Gemeinsamkeiten darzustellen. In dem Maß, wie dabei die bis zur Torturresistenz reichende Widerständigkeit der Gefolterten als Grundproblem hervortritt, wird ein weiterer Aspekt erkennbar, der unmittelbar an die Aporie der Regulierung gebunden ist. Die erpresserische Wirkung der Folter beruht darauf, dass der Inquisit nicht weiß, wie lange er ihr ausgesetzt ist, was als nächstes mit ihm geschieht, wie weit man ultimativ gehen wird usw. Dieser notwendigen Ungewissheit muss die Regulierung, sofern sie nicht völlig verborgen werden kann, immer entgegenstehen. Daraus, dass die physische Gewalt der Folter eine Sache auch der sie potenzierenden Einbildungskraft ist, versuchte man umgekehrt im Verfahren Kapital zu schlagen. Hitzig/Häring sprechen von der »eigenthümliche[n] Beobachtung«, dass besonders hartnäckige »Bösewichter, die auswärts alle Grade der Tortur erduldet hatten«, in Celle zum Geständnis gedrängt werden konnten, »wenn ihnen die dort Torquirten vorgeführt wurden«.43 Der »Anblick der Folter selbst« sei für sie »nicht so schreckhaft« gewesen wie »die Confrontation mit andern Verbrechern, welche sie schon überstanden hatten«.44 Diese Praxis der Konfrontation kam häufig und intensiv zum Einsatz, wobei nicht in jedem Fall der Anblick anderer, sondern auch der bloße Hinweis oder die schiere Annahme, dieser oder jener habe unter der Folter gestanden oder könne gestehen, zur Einschüchterung genutzt wurde. Gegenüber der rein physischen Gewalt erwies sich die psychische Pression, der verbale Druck vor dem Hintergrund bedrohlicher Vorstellungen, als weit effektiver. Die Verhaftung Nickel Lists ließ das offenbar werden. Dieser hatte schon in Hof, wo er verhaftet worden war, nach dem ersten Grad der Tortur ein umfassendes Geständnis abgelegt. Während des schwer bewachten Transports nach Celle, so lesen wir bei Hosmann, »entsetzten« sich die noch ungeständigen Mithäftlinge »alle bey seiner Erblickung«.45 Selbst Andreas Schwartze leugnet, ihn zu kennen, woraufhin List ihm entgegenhält: »Ach!

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Alexander Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz, Paderborn u. a. 2002, S. 121 f. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 373. Ebd., S. 376. Ebd. Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, I, S. 139.

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Du guter Kerl / wie wol kennest du mich: Wann du aber auch erst die blauen Daumen (auf seine ausgestandene Tortur deutende / ) wirst bekommen haben / so wirst du mich auch wol kennen / und ganz anders reden«.46 Es scheint, als agiere das geständige Oberhaupt der Räuberverbindung nun seinerseits in der Sprechposition eines Inquirenten, der im verständnisvollsten Ton doch nichts anderes als Territion betreibt. Über seinen Körper droht er indirekt mit den Instrumenten. Das ist rechtshistorisch nicht uninteressant, bedeutete doch die »fortgeschrittene Humanität«,47 die die aufgeklärten Pitaval-Herausgeber gegenüber dem Zeitalter Hosmanns in Anspruch nehmen, vor allem eine Transformation der physischen in verbale und imaginäre Gewalt. Unter dem Begriff der »Geistestortur« gaben engagierte Reformjuristen wie Aloys Kleinschrod nach der Abschaffung der Folter den Untersuchungsrichtern »Klugheitsregeln« an die Hand, die detailliert beschreiben, wie die nicht mehr statthafte physische Gewalt in den psychischen Druck des harten Verhörs zu übersetzen war. Sie ließen dabei keinen Zweifel daran, dass »hier einige Analogie mit der Tortur«48 vorlag. Dass in Preußen die Abschaffung der Folter per Edikt des Königs geheim gehalten wurde,49 um weiter wirkungsvoll mit den Instrumenten drohen zu können, gehört ebenso zu diesem Transformationsprozess wie die Analogie, die Immanuel Kant in seiner Rechtslehre zwischen dem körperlichen Zwangsmittel der Folter und dem geistigen Aufrichtigkeitszwang des Eides herstellt. Kant, der sich ebenso gegen die Folter wie für die Territion aussprach,50 steht dem Rechtsinstitut des Eides eigentlich ablehnend gegenüber, weil »im bürgerlichen Zustande ein Zwang zu Eidesleistungen der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider ist«.51 Er hält ihn jedoch für ein unentbehrliches »Notmittel« der Rechtsverwaltung, weil andernfalls die Gerichtshöfe nicht ausreichend im Stande wären, geheim gehaltene Fakten zu 46 47 48

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Ebd. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 300. Gallus Alloys Kleinschrod, »Ueber die Rechte, Pflichten und Klugheitsregeln des Richters bey peinlichen Verhören und der Erforschung der Wahrheit in peinlichen Fällen«, in: Ernst Ferdinand Klein, Gallus Alloys Kleinschrod (Hg.), Archiv des Criminalrechts, Bd. 1, Zweites Stück, Halle 1799, S. 76–113, hier I/2, S. 79. Thomas Weitin, »Die Ökonomie der Folter«, in: Thomas Macho, Karin Harrasser, Burkhardt Wolf (Hg.), Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 277–289, hier S. 281. »Es kann niemand gestraft werden als nach bewiesenem Verbrechen. Also kann er nicht torquiert werden. Aber territio findet statt« (Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 19, hg. von der Akademie der Wissenschaften, Berlin, Leipzig 1934, S. 431). Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: ders., Werkausgabe, Bd. 8, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, S. 421. Vgl. zum Kontext der Haltung Kants zum Eid: Marcus Twellmann, »Volksaufklärung im Recht? Am Rand einer Anekdote«, in: Peter Friedrich, Manfred Schneider (Hg.), Fatale Sprachen. Eid und Fluch in Literatur- und Rechtsgeschichte, München 2009, S. 201–225, hier S. 219–225 (Abschnitt 7: ›Der kantische Einschnitt‹). Vgl. dazu auch ders., »Der (Anti-)Juridismus der reinen Vernunft. Zur Rechtsmetaphorik bei Kant«, in: Weimarer Beiträge 55/3 (2009), S. 413–429.

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ermitteln und Recht zu sprechen. Den Gerichten wird deshalb zugestanden, »diesen Geisteszwang (tortura spiritualis) […] zu gebrauchen«.

5. Folter und Fluch Die Quellen belegen, dass die ›Geistesfolter‹ nicht erst eine Errungenschaft der Aufklärung gewesen ist, die nach der Abschaffung der physischen Tortur einen milderen Ersatz schuf. Sie gehörte als integraler Bestandteil bereits zur gewaltsamen Beweiserzwingung im Inquisitionsprozess seit der Frühen Neuzeit. Angesichts der Tatsache, dass im Alltagsverständnis der Frühen Neuzeit physische und imaginäre Gewalt generell eng zusammengehörten und eine lebendige kollektive Vorstellungskraft feste Gewaltinstanz war, hat Monika Mommertz dafür plädiert, die imaginative Gewalt systematisch in die Gewaltforschung zu integrieren.52 Das Wirken von Pastor Hosmann bei den Ermittlungen gegen Nickel List und seine Gesellen stellt ein Szenario dar, anhand dessen ein exemplarischer Versuch in diese Richtung unternommen werden kann. Geistliche wie Hosmann waren, wir sahen es, als »zusätzlicher Gewaltfaktor«53 im Untersuchungsverfahren präsent. Ihre Aufgabe war es, mit der Aussicht auf das göttliche Strafgericht die weltliche Inquisition zu beschleunigen, indem sie die Beschuldigten zu einem kooperativen Verhalten bewegten. Das hatte einen praktischen und zugleich heilsökonomischen Sinn, sollten doch die Qualen der Folter wie die der in Abhängigkeit von Deliktschwere und Kooperationsbereitschaft verschärften Hinrichtungen nicht schlicht den Delinquenten, sondern der Vorstellung der frühneuzeitlichen Justiz nach Sünder treffen, die die gottgewollte Ordnung verletzt hatten. Einzig wenn sie die Schmerzen als gerechte Strafe akzeptierten und Buße taten, konnten sie sich als ›arme Sünder‹ samt ihres Seelenheils vor noch schrecklicheren, apokalyptischen Szenarien in der Ewigkeit bewahren.54 Von der Bekehrung hing nicht nur das Schicksal des Einzelnen, sondern der Erfolg des ganzen Verfahrens ab, denn es galt, die Wandlung des Verbrechers zum reuigen Sünder bei der Hinrichtung öffentlich zu demonstrieren. Ein großes Publikum war nicht nur erwünscht, sondern zwingend notwendig, um das Heilsversprechen und mit ihm die Entstörung der Ordnung allgemein werden zu lassen. Schon die Carolina legt deshalb auf die Dramaturgie des »entlich rechttag«55 großen Wert und entwirft ein theatralisches Dialogspiel zwischen Rich52

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Monika Mommertz, »›Imaginative Gewalt‹ – praxe(m)ologische Überlegungen zu einer vernachlässigten Gewaltform«, in: Claudia Ulbrich, Claudia Jarzebowski, Michaela Hohkamp (Hg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD, Berlin 2005, S. 343–357, hier S. 345. Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700, S. 158. Jürgen Martschukat, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 18. Jahrhundert, Köln u. a. 2000, S. 15. Carolina, Art. 78, S. 66.

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ter, Angeklagtem und Schöffen mit dem symbolischen Stabbrechen als Höhepunkt vor der Vollstreckung des zuvor zu verlesenden Urteils. Im letzten Augenblick des Verfahrens musste sich zeigen, ob der Bekehrungsaufwand des Geistlichen sich tatsächlich ausgezahlt hatte, denn sehr viel hing naturgemäß davon ab, dass der zu Richtende dem Schauspiel gerecht wurde und nicht aus der Rolle fiel. Legendär geworden ist der Pastor unserer Räuberbande, weil sein aktenkundig enormer Bekehrungseifer zwar zum überwiegenden Teil erfolgreich war, in einem Fall aber bei der Hinrichtung in die Katastrophe führte. Nickel List selbst verhielt sich, nachdem er einmal gestanden hatte, ganz vorbildhaft. Er widerrief nichts, gab umfassend Auskunft und half Hosmann sogar in den Betstunden dabei, einem jüdischen Mitgefangenen »in Fassung des christlichen Glaubens beyräthig [zu] sein«.56 Die Pitaval-Herausgeber liegen also sicherlich nicht falsch, wenn sie schreiben, aus einem »vollkommene[n] Verbrecher« sei »ein vollkommener Reuiger« geworden.57 Nachdem er in Hof dazu verurteilt worden war, zur Richtstätte geschleift und lebendig verbrannt zu werden, erkannte das Celler Gericht sein dort ohne Tortur abgelegtes Geständnis als strafmildernd an und änderte das Urteil in Zerschmetterung des Leibes, wobei anstelle des grausameren Rades eiserne Keulen als Mittel bestimmt und verfügt wurde, nach dem Tod den Kopf auf einen Pfahl zu stecken und den Leichnam zu verbrennen. Auf dem Schafott, so heißt es, legte List »zur Rührung aller Zuschauer« die Beichte ab, und als ihm bereits »beide Beine und Arme zerschmettert waren, rief er noch den Namen Jesu an«.58 Ähnlich benahm sich sein Vertrauter Andreas Schwartze, der unter dem Schafott »aus eigenem Triebe« eine Rede an die Zuschauer hielt und sie aufforderte, »der Sünde zu widerstehen, Gott vor Augen zu haben und für sein seliges Ende zu beten«.59 Ganz anders stirbt Jonas Meyer. Von der Konfrontation mit bereits geständigen Häftlingen hatte er sich im Unterschied zu den meisten Gefangenen unbeeindruckt gezeigt. In der »unterirdische[n] Werckstädt der Warheit« wurde er zum Sprechen gebracht, wobei man, wie Hosmann schreibt, die peinliche Frage »christlich« sein ließ: »Man dehnete ihm aber nicht die Glieder aus / man riß die Fugen des Leibes nicht aus den Gelencke / man rührte ihm nicht mit glüenden Schweffel / man zwang den Rücken nicht auff spitzige Hölzer und Eysen. [...] Man ließ ihn nur die Bein-Stöcke recht fühlen / damit waren aus dieser harten Trauben verschiedene Tröpflein der Wahrheit heraus gepresset.«60 Die christlich moderierte Gewalt erbringt zwar für das Gerichtsverfahren ein Geständnis, um eine Bekehrung des 56 57 58 59 60

Sigismund Hosmann, Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz, Helmstädt 1701, S. 377. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 324. Ebd., S. 380. Ebd., S. 370. Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, I, S. 65. Jörg Jochen Berns diskutiert solche christlichen Maschinenmetaphern detailliert im Kontext der historischen Semantik des Maschinenbegriffs in der Frühen Neuzeit (Jörg Jochen Berns, Himmelmaschinen/Höllenmaschinen. Zur Technologie der Ewigkeit, Berlin 2007).

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jüdischen Räubers bemüht sich Hosmann aber vergeblich. Mit besonderem Eifer und in besonderer Konkurrenz zu seinem katholischen Kollegen war der Prediger darauf bedacht, gefangene Juden vom Christentum zu überzeugen. Von diesem Bemühen zeugt nicht nur der Aktenbericht im Fürtrefflichen Denk=Mahl, sondern auch eine fast gleichzeitig erschienene Schrift unter dem Titel Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz (1701), die den Fall Jonas Meyer in den Mittelpunkt stellt. Hosmann schildert ausführlich, wie er sich »auf Befehl unserer Obrigkeit« an der Bekehrung Meyers versucht habe, und legt die exegetischen Grundlagen dar. »Wir haben aus dem Gesetz Mosis / den Propheten / und den Psalmen bewiesen / und mit Paulo bewähret / daß Jesus sey der Christ. Allein es hat unsere Predigt keine andere Wirckung an diesem Juden gehabt / als des Apostels seine an die Juden / die zu Corintho wohneten«.61 Die Identifizierung der eigenen Rede mit Paulus ist das Leitmotiv der Schrift, aus der hervorgeht, dass Jonas Meyer sich anders verhielt als die anderen jüdischen Mitglieder der Bande. Während sich der Darstellung Hosmanns zufolge viele von ihnen kalkuliert auf die Bekehrung einließen, um sie im Angesicht der Todesstrafe leichthin zu widerrufen, blieb Meyer aus Überzeugung seinem Glauben treu. Diese Haltung stachelte den Geistlichen offenbar besonders an, so dass er noch auf dem Weg zur Hinrichtung, ja unter dem Galgen versuchte, ihn umzustimmen. Seinem inständigen Drängen – »gläubet doch an den Messiam / der Euren Vätern verheißen ist«62 – hält Meyer entgegen, er wisse, worauf er hinauswolle, habe damit aber nichts zu schaffen, sondern glaube an Gott. Während er zum Hängen aufgezogen wird, ruft er »überlaut« aus, dass er als Jude lebe und sterbe. Dem Zugriff des Predigers für einen letzten Augenblick entzogen, repliziert er dessen religiösen Andrang mit einem offensiven Gegenwort: »Verflucht seien alle Die, in deren Herzen eine Ader ist, die an Jesum gläubet«.63 Hosmann kommentiert daraufhin: Viel Tausend haben dieses grausame Fluchen mit höchster Bestürzung angehöret. Wir alle waren darob fast entstellet / und derogestalt erschrocken / daß uns die Zunge anklebete / und wir kaum mit bebender Stimme ihm nachruffen konten: Der HERR schelte dich Satan / der uns kein Israel erwehlet hat!64

Dieses Ereignis, »das durch alle christliche Länder mit Entsetzen wieder erzählt wurde« und der rückblickenden Einschätzung Hitzig/Härings nach zu neuen Pogromen Anlass gegeben hätte, »wenn nicht das achtzehnte Jahrhundert an der Schwelle gestanden«,65 rief seinerzeit zwei Reaktionen hervor. Die Richter sahen 61 62 63 64 65

Hosmann, Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz, S. 14. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 19. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 373.

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sich um den Zuschauererfolg, den der bußfertige Tod der anderen Räuber erreicht hatte, betrogen und strengten daher gegen den Körper des unversöhnlich Gestorbenen einen Prozess wegen Gotteslästerung an. Es wurde geurteilt, ihm die Zunge herauszuschneiden und öffentlich zu verbrennen und den Körper alsdann zur Gerichtsstätte zu schleifen und dort an den Füßen neben einem Hund aufzuhängen. Dieses in den Worten der Pitaval-Herausgeber »merkwürdige Urtheil«66 wurde dem Toten förmlich vorgelesen und dann vollstreckt. Das geschah, wie man sich denken kann, zur großen Befriedigung des Pastors Hosmann, in dessen schriftliche Schilderung sich das Urteil in verschiedener Gestalt eingeschrieben zu haben scheint. Die sinnbildliche Vergeltungsstrafe für die Gotteslästerung findet in der körperlichen Reaktion der entsetzten Zuschauer, die ihre Zunge kaum gebrauchen können, gleichsam ihre Rechtfertigung. Die Beantwortung des Fluchs mit einem Gegenfluch folgt einem analogen Vergeltungsprinzip. Die Predigt zur Judenbekehrung, die Hosmann anlässlich des exemplarisch gewürdigten Falles Jonas Meyer hält,67 setzt das ›Fluch-Duell‹ fort, indem sie ihre Sprechkraft zugleich theologisch ableitet und performativ reproduziert. Dazu dienen die Paulus-Identifikation und der zur Zeit der Hinrichtung vorgesehene Predigttext. Es handelt sich um eine Predigt zur Passionsgeschichte, die den Verrat des Petrus zum Gegenstand hat. Hosmann identifiziert seine erfolglosen Bekehrungsversuche mit den Erlebnissen des Apostels in Korinth, wo die Juden ihm »widerstrebten und lästerten«, weshalb er zu ihnen spricht: »Euer Blut komme über euer Haupt« (Apg. 18, 6). Hosmann zitiert diese Szene aus der Apostelgeschichte und bezieht sie direkt auf Jonas Meyer: »Deyn Blut sey über dein Haupt!«68 Darauf folgt wiederum in direktem Anschluss eine ausführliche Evangelien-Auslegung, die Petrus’ Verrat als dreistufige Eskalation analysiert: Während Petrus Jesus von Nazareth gegenüber der ersten Magd zunächst nur verleugnet, leugnet und schwört er dann gegenüber der zweiten, ihn nicht zu kennen, um schließlich, als seine Sprache ihn verrät, diesen Schwur zu bekräftigen, indem er sich selbst verflucht (Mt. 26, 70–74). Mit diesem Fluch, so erklärt Hosmann, habe Petrus einen »Bann« über sich selbst gesprochen und seinen Ausschluss aus der Gemeinde vollzogen.

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Ebd. Der vollständige Titel der Schrift lautet: Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz: Nebst einigen Vorbereitungs-Mitteln zu der Juden Bekehrung, Auf Veranlassung der erschröcklichen Gottes-Lästerung, welche der Jude Jonas Meyer von Wunstorff, als er vor der Fürstl. Residentz-Stadt Zelle, nebst andern hochberüchtigten Dieben, den 21. Martii Anno 1699. abgethan und nach dem Querbalcken des Gerichts, vermittelst einer Winde, hinauf gezogen ward, Zu vieler tausend Zuschauer höchster Bestürzung öffentlich in der Luft schwebende ausgerufen, Der Christlichen Gemeine in der Stadt-Kirchen daselbst dazumahls in einer Predigt vorgestellet. Hosmann, Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz, S. 20.

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Abb. 1: Ölgemälde der Hinrichtung Nickel Lists und einiger seiner Gesellen69, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Einen solchen Bann und Ausschließung von der Gemeine hielten die Juden vor einen wahrhafften Fluch / dahero sie ein solchen Verbanneten nicht anders / als für ein Kind des Satans achteten; wie denn hernach in der ersten Christlichen Kirchen solche Verbanneten würcklich dem Satan zur Verderbung des Fleisches übergeben worden.70

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Nickel List gab sich unter anderem auch als »Rudolph von der Mosel« aus. Die Räuber wurden je nachdem, ob man sie im Verfahren noch als Belastungszeugen benötigte, in drei Etappen hingerichtet. Andreas Schwartze und Jonas Meyer gehörten zur ersten Gruppe, deren Urteile am 21. März 1699 vollstreckt wurden, Nickel List zur zweiten am 23. Mai 1699. Zwei Räuber, die erst im Juli 1700 starben, sind nicht mit zu sehen. Das Bild stammt aus der in Wolfenbüttel verwahrten Sammlung Karl Ottos von Salzdahlum (1704–1799), genannt der Blutige, der, wahrscheinlich ein illegitimer Sohn Herzog Karl Ulrichs, selbst als Anführer einer Piratenbande verurteilt wurde. Seine Strafe bestand darin, in der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel angekettet zu werden, wo er sich intensiv mit theologischen Schriften zu beschäftigen begann. Aus dieser Zeit stammt ein 1500 Blätter starkes Manuskript über »Petrus als Seeräuber«, das als verschollen gilt (Lexikon zur Geschichte und Gegenwart der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, hg. von Georg Ruppelt und Sabine Solf, s. v. Karl Otto von Salzdahlum, Wiesbaden 1992, S. 90 f.). Ebd., S. 33.

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Sprachgewalt wird von Hosmann gleichermaßen ausgeübt und ausgelegt. Seine Interpretation des Schwörens stellt den Fluch in eine Linie mit der eidlichen Bekräftigung und folgt so der vormodernen Vorstellung vom Eid als einer bedingten Selbstverfluchung, die zorntheologisch einen strafenden Rächergott voraussetzt.71 Dem Einwand, der Bekehrungsdrang habe Jonas Meyer überhaupt erst zum antichristlichen Fluch getrieben, begegnet der Prediger, indem er die christliche Rede ausdrücklich als Gewalt verteidigt. Sollten seine »Predigten vom Namen JEsu diesem Ungläubigen eine Folter gewesen sein«, so hätten sie doch immerhin dazu gedient, »vor den Ohren der Welt das Bekäntniß heraus zu pressen, was ein rechter Jude von Christo und seinen Gläubigen hält«.72 Die Rhetorik des Geistlichen setzt sein Wirken in der Folterkammer unmittelbar fort. Der Einsatz des christlichen gegen den antichristlichen Fluch wird als tortura spiritualis praktiziert. Andererseits aber identifizieren seine Ausführungen in Eid und Fluch fatale Sprachen, vor deren Sprechkraft man sich in Acht nehmen soll.73 Dazu gehört die Berufung auf das Schwurverbot zugunsten der einfachen Rede: »Ja, ja; nein, nein« (Mt. 5, 37).74 Hosmanns Auslegung der Verratsszene bedient mit dem Hinweis, damals (Petrus) wie heute (Jonas Meyer) sei »solch falsches und liederliches schweren unter den Juden eingerissen«,75 ein antisemitisches Stereotyp, das noch in der aufgeklärten Diskussion um den ›Judeneid‹ spürbar ist.76 Und doch gelingt es ihm nicht, sein eigenes Sprechen von der Exzentrik der fatalen Sprachen freizuhalten. Eid und Fluch offenbaren einerseits einen im Grunde dinghaften, magischen Sprachgebrauch, den Kants aufgeklärte Kritik am Schwören bei Gericht als »blinden Aberglauben« bezeichnet und mit dem »Eid der Guineaschwarzen bei ihrem Fetisch« vergleicht.77 Andererseits kann die imaginäre Forcierung der Gewalt in der Sprache nicht anders als metaphorisch erfolgen. Die Sprache der Gewalt greift – wie die ›Geistestortur‹ über den Körper – über sich hinaus. Fluch und Eid sind Sprache über Sprache, notwendig uneigentlich, und stehen derart im Widerspruch zum Grundsatz der religiösen Einfalt, den die Bergpredigt formuliert, wenn sie das

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André Holenstein, »Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft«, in: Peter Blickle (Hg.), Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 11–63, hier S. 50. Ebd., S. 24. Mit der Rede von ›Sprechkraft‹ und ›fatalen Sprachen‹ beziehe ich mich auf: Peter Friedrich, Manfred Schneider, »Einleitung. »Sprechkrafttheorien« oder Eid und Fluch zwischen Recht, Sprachwissenschaft, Literatur und Philosophie«, in: dies. (Hg.), Fatale Sprachen. Eid und Fluch in Literatur- und Rechtsgeschichte, München 2009, S. 7–19. Hosmann, Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz, S. 31. Ebd. Marcus Twellmann, »Von der Beratung zur Kritik der Regierung. Moses Mendelssohn über Eide«, in: Modern Language Notes 122/3 (2007), S. 493–521. Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 420.

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Schwören zugunsten von »Ja, ja« und »Nein, nein« mit dem Hinweis verbietet: »Was darüber ist, das ist von Übel.«

6. Literarische Imaginationen: »Politischkeit«78 Das Problem sprachlicher Uneigentlichkeit ist systematisch der geeignete Ort, um noch genauer auf die im engeren Sinn literarischen Darstellungen der Geschichte von Nickel List und seinen Gesellen einzugehen. Gemeinsam ist allen Nachdichtungen die Konzentration auf die Biographie des Titelhelden, dem als begabten Kind aufgrund seiner beschränkten sozialen Verhältnisse eine höhere Bildung versagt blieb, der deshalb Soldat wurde, unter anderem an der Schlacht von Fehrbellin teilnahm und nach seiner Entlassung als Schankwirt auf die schiefe Bahn geriet. Diese Entwicklung wird als Geschichte einer Verführung durch andere erzählt, wobei neben den Frauen Lists mit unterschiedlich starkem Akzent die jüdischen Bandenmitglieder bzw. Hehler, von denen die Bande ökonomisch abhängig war, als Negativeinflüsse dargestellt werden.79 Nickel List erscheint nie ohne Distanz auch im Verhältnis zu engeren Vertrauten der Räuberverbindung. Dass er nach einer unbedachten ersten Tat von den Teilnehmern zur weiteren Diebeskarriere förmlich erpresst worden war, spielt dabei eine wichtige Rolle.80 Ein durchgehendes Motiv sind darauf aufbauend Momente der intensiven Reue und Gedanken der Umkehr, die insbesondere bei Bertrand (Der furchtbare Abenteurer Nikel List, 1806) und Leibrock (Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List, 1824) durch plötzliche Umschwünge mit Schwurszenen gekontert werden, in denen die Räuber ›ihrem Hauptmann‹ wie in Schillers Räubern Treue schwören.81 Diese beiden Texte haben über erhebliche Strecken eine dialogische Dramenstruktur. Sie folgen einem Handlungsverlauf wie in der bürgerlichen Dramatik des 18. Jahrhunderts und führen jeweils einen adligen Freund aus Lists redlicher Vergan78

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Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, II, S. 79 f.; Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 384. Einzig die jüngste Darstellung von Weinhold aus dem Jahr 1994 bildet hier eine wirkliche Ausnahme (Siegfried Weinhold, Der schwarze Nickel. Das Räuberschicksal des Nicol List, Chemnitz 1994). So wendet sich Nickel List bei Bertrand gleich zu Anfang im Stil eines Karl Mohr an seine Gesellen: »O! ihr – ihr! Ihr loses Gesindel, ihr Tagediebe, ihr Beutelschneider habt mich in diese Tiefe gestürzt, wo kein Erretten ist! Mit List und gleißnerischen Reden wußtet ihr mich hinzulokken auf eure Straße [...]« (Gottlieb Bertrand, Der furchtbare Abenteurer Nikel List, genannt: von der Mosel. Romantisch dargestellt von Gottlieb Bertrand, Verfasser des Mazarino, Braunschweig 1806, S. 22). »Sie schworen ihm mit aufgehobnen Fingern, und nannten ihn jubelnd ihren Hauptmann« (Bertrand, Der furchtbare Abenteurer Nikel List, S. 25). Bei Leibrock ist die Schwurszene – »Einer für Alle, und alle für Einen« (Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List, I, S. 33) – zu Beginn sogar bildlich dargestellt. Hülsen stellt die Analogie zu den Jüngern Jesu her: »Aus elfen hab ich mir eine Schar formieret, und fehlte nicht einer, so wollt ich mich bedünken, es sei die Jüngerschar, so Christo nachfolgete« (Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 94).

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Abb. 2: Anfangsbild mit Schwurszene, aus August Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List genannt Herr von der Mosel und seiner Bande (1824)

genheit ein, der diesen um Hilfe in einem komplizierten Liebeskonflikt mit einer bürgerlichen Frau bittet, welcher dann mit Entführung, Verwechslung und schlussendlicher Versöhnung seinen Lauf nimmt. Der erfundene Handlungsstrang nimmt viel Raum ein, mit dem historischen Nickel List haben die Darstellungen entsprechend weniger zu tun. Sie pflegen ein romantisch-dramatisches Räuberbild. Auch diese stark romantisierten Geschichten arbeiten jedoch mit den historisch verbürgten Topoi wie der Torturresistenz der Räuber.82 In sämtlichen Bearbeitungen sind zwei Ebenen der Folterdarstellung zu unterscheiden. Im Erzählerbericht und im Dialog der Räuber über ihre Erlebnisse mit der Justiz wird Folter als Verfahrensrealität thematisiert, wobei die Erfahrung des Überstehens im Mittelpunkt steht. Zugleich werden Foltervorstellungen mobilisiert, die von ihrem Kontext abgelöst worden sind und rhetorische Funktionen übernehmen. Dazu gehört der 82

Bertrand, Der furchtbare Abenteurer Nikel List, S. 46; Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List, I, S. 49 f.

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Einsatz als Bekräftigungsformel, etwa wenn Christian Müller bei Leibrock zu Nickel List sagt: »[H]öre List, wenn du mit dem Teufel nicht im Bunde stehst, so laß ich mich in dieser Nacht noch spießen, braten und auffressen«.83 Und dazu gehören vor allem zahlreiche Imaginationen und Träume von Hinrichtungsszenen, die als Prolepsen fungieren und im Falle Nickel Lists mit Reuegedanken in Verbindung stehen.84 Dabei zeigt sich eine Tendenz zur Verselbständigung der Folterbilder, die metaphorisch weit gedehnt werden. Das kann so weit gehen, dass imaginäre Szenarien heftiger körperlicher Gewalt gegenteilige Vorstellungen wie die körperliche Entspannung im Schlaf in sich einbegreifen. Auf diese Weise inszeniert Hülsen einen kathartischen Reuemoment Nickel Lists als Tränensturz wie im Drama: »[A]us seinen Augen stürzte ein Gießbach von Tränen und befleckte ganz und gar das Kissen, darin er das Gesicht vergrub. Solche Tränen brachen den Widerstand seines Körpers, der sich gegen den Schlaf gebäumt, wie auf der Folter, und er fiel zurücke als wie leblos mit gelösten Gliedern, und der Schlummer kam«.85 Die sich ausweitende Foltermetaphorik dient auch dazu, die Gewalt der Verhältnisse zu illustrieren. So nennt Rambach »Armuth und Noth« als Ursachen, die »manchem ehrlichen Mann den Hals brechen«, im Falle Nickel Lists beschreibt er die ökonomischen Ansprüche seiner Geliebten Anna von Sien als zusätzlichen Druck (»von einem Weibe torquirt«).86

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Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List, I, S. 56. Bei Rambach nimmt Christian Schwanke nach einem Verhör seine eigene Hinrichtung in einer exakten Vorstellung vorweg, indem er, weil er dadurch im Verdacht steht, am Raub der goldenen Tafel in Lüneburg beteiligt gewesen zu sein, rhetorisch bedauert, Hamburg verlassen zu haben: »Im prophetischen Geiste ließ dieser Schwanke einmal beym Herausführen aus einem Verhör sich verlauten, er wollte, der Büttel hätte ihm das Genick abgestoßen, ehe er das letzte Mal Hamburg verlassen; und so sehr er sich dadurch verdächtig machte, so wahr redete er, denn ein Schlag mit der eisernen Keule ins Genick war dereinst sein Tod« (Rambach, »Nickel List«, S. 358). Umgekehrt hat Nickel Lists Geliebte Anna von Sien bei Leibrock einen »schreckliche[n] Traum« (Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List, II, S. 77) vom Gefängnis, der sie rechtzeitig fliehen lässt und vor der Festnahme bewahrt. Nickel List selbst nimmt bei Hülsen seinen Tod im Traum vorweg: »Er schlief, aber es war ein dumpfer, traumzerrissener Schlaf. [...] Aber plötzlich wurden die Türme zu lauter Galgen und Pfählen über einem Meer erbleichter Knochen und Schädel. Er warf sich unruhig, gequält und stöhnend auf die andere Seite, allein das Schreckbild wollte nimmer weichen, vielmehr kam es näher und näher, und er erkannte unter Schweißausbrüchen, daß auf dem höchsten Pfahle sein bleiches Haupt steckte« (Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 151). Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 219. Die unmittelbare Fortsetzung der Passage ist dann wieder ein Hinrichtungstraum: »Aber er war nicht leicht und licht, sondern dumpf und voller Traumgespenster, die umgingen gleich Harpyien und auf seiner Brust saßen und mit ihren kalten Spinnefingern über sein Gesicht fuhren, daß er erschreckt die Augen aufriß. Die Fensterkreuze stunden vor dem Himmel der Schneenacht wie Galgen, und die Stube war leer und schwarz wie ein Sarg«. Rambach, »Nickel List«, S. 328.

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Die aktuellste List-Geschichte, die Weinhold nach intensivem Quellenstudium 1994 publiziert hat, gibt den Gerichtsprozess mit besonderer historischer Detailfreudigkeit wieder. Sie stellt nicht die Celler Inquisition, sondern einen Ermittlungsrichter aus dem Sächsischen in den Mittelpunkt und baut diesen zum Gegenspieler des Räubers auf. In der Spur Hosmanns verteidigt er die Folter gegen jede »Humanitätsduselei« und setzt sie bei seinen Ermittlungen rücksichtslos ein. Zugleich baut er ein »ausgeklügeltes System« von Zuträgern und Spitzeln auf, deren Loyalität er sich durch eine latente Drohkulisse der Folter versichert.87 Es entsteht das modern anmutende (wohl auf die Staatssicherheit der DDR zielende) Bild eines Geheimdienstes, den eine imaginäre Gewalt zusammenhält.88 Während sich bei Weinhold der Richter und sein Delinquent einen Zweikampf der Ermittlungs- und Konspirationstechniken liefern – Nickel List setzt seinerseits auf ein Netz von Informanten –, spitzen sich in Hans von Hülsens Version aus dem Jahr 1926 die Verhältnisse innerhalb der Räuberbande duellartig zu. Um Rache an einem Hehler der Bande zu nehmen, der ihn einst verriet, gibt Nickel List sich als Kommissar aus und setzt ihn mit angeblichen Folter-Geständnissen unter Druck. Er zieht den Handel mit ihm aber doch vor und bietet ihm den Ertrag des Lüneburger Kirchenraubs zum Kauf an, worüber er freilich danach »uneins mit sich« ist, »weil er seine Rache um Geld verschachert hatte wie dermaleinst seiner Seelen Seligkeit«.89 Ebenfalls bei Hülsen kommt es zum Zweikampf mit Andreas Lucy, welcher in dieser Fassung als sein Hauptgegner innerhalb der Bande auftritt. Nachdem er von dem besagten Hehler Kenntnis von Lists erstem, noch unter dem Deckmantel eines bürgerlichen Lebens als Wirt und Pferdehändler durchgeführten Raub erhält, erpresst er ihn mit diesem Wissen und eignet sich schließlich sogar seine Frau an. Sein eigenes Haus erscheint dem so zur Räuberkarriere Getriebenen daraufhin wie eine Folterkammer, der erpresserische Feind, der zum zukünftigen Miträuber wird, als »Folterknecht«.90 Die metaphorische Zuspitzung zu Szenarien wechselseitiger Folterung verdeutlicht, dass es sich bei Nickel List und seinen Gesellen nicht um eine verschworene

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Weinhold, Der schwarze Nickel, S. 73 und S. 33. »Wer mit ihm zusammenarbeitete, wurde zum Stillschweigen verpflichtet. Wer plauderte, war des Teufels. Und um diesen auszutreiben – dafür hatte der Henker seine speziellen Methoden. Und wem die diversen Folterwerkzeuge einmal vorgeführt worden sind, der hütet sich ihre Bekanntschaft zu pflegen« (Weinhold, Der schwarze Nickel, S. 34). Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 253. »Ihm war der Boden in diesem Hause, das doch bis zum letzten Stein im Fundament und bis zum letzten Sparren unterm Dache sein gehörte, wie das nägelgespickte Brett in der Tortur, ja, wie der glühende Rost; seine aufgestachelte Einbildungskraft rückte ihm alles, was geschehen und geschah, in ein seltsames Licht, daß er es schaute wie in einem uneben polierten Spiegel; und so sah er den Andreas Lucy als Folterknecht mit Daumenschrauben, feurigen Zangen und dem Mecklenburgischen Instrument, mit der scharfen Frage ihn zu befragen, und daneben die Magdalenen als seine Gehilfin stehen« (Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 44).

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Gemeinschaft, sondern um ein Zweckbündnis handelt. Das betonen schon die Pitaval-Herausgeber, die am Ende ihrer Fallgeschichte auf eine »Theorie«91 zu sprechen kommen, die sich bei den Räubern selbst vom Sinn ihres Tuns gebildet habe. Die Räuber hätten argumentiert, dass sie keinen Diebstahl begangen, sondern sich »dem Verkehr entzogene Gelder und werthvolle Gegenstände« angeeignet hätten, um »diese vergrabenen Schätze dem allgemeinen Verkehr wieder« zuzuführen. Das sei kein Verbrechen, sondern »eine ›Politischkeit‹«.92 Dieses zentrale Stichwort konnten die Herausgeber schon bei Hosmann finden, der von »der Diebe Theologie« berichtet und namentlich Jonas Meyer und Christoph Pant mit der Auffassung zitiert, ihre »Gaudieberey« sei eine Sache der verschlagenen List und eines »scharffen Verstandes« und daher mit gewaltsamen Einbrüchen und Straßenraub nicht zu vergleichen, zumal, wenn Begüterte betroffen seien, »die ihre Mittel ohne Nutz und Gebrauch stehen hätten«.93 Der Pastor diagnostiziert ein falsches Verständnis »von der Lehre de communione bonorum« und versucht, seinen inhaftierten Zuhörern in einer Predigt klar zu machen, »daß die wahre und Christliche Gemeinschaft der Güter sich so weit durchaus nicht erstrecke«.94 Wo der Pastor Ansichten vom Urchristentum zurechtzurücken sucht, kommen laut Hitzig/Häring »schon communistische Grundsätze zum Vorschein«.95 Mit dem Begriff des ›Verkehrs‹ deuten sie freilich an, worauf die Kritik der politischen Ökonomie tatsächlich zielt: auf den unbeschränkten Kreislauf kapitalistischer Zirkulation. Was die Räuberbande eint, ist eine ökonomische Begründung ihres Tuns, die Konkurrenz untereinander ausdrücklich einschließt.96 Das zitierte Selbstverständnis der Räuber als ›Gaudiebe‹ entspricht einer Leistungsgesellschaft, in der die individuellen Fähigkeiten von Belang sind, was nicht zuletzt für Nickel List gilt, der vor allem wegen seiner besonderen Begabung und Ausrüstung zum Öffnen von Schlössern »bei allen großen Unternehmungen«97 als Anführer herangezogen wird. Ein Räuberhauptmann ist er nicht, sondern lediglich »der Geschickteste« und als solcher nicht Oberhaupt, sondern »primus inter pares«.98 Das Vorgehen von Nickel List und seinen Gesellen war auch beim Einsatz von Gewalt ökonomisch. Die besonderen Fähigkeiten erlaubten, unterstützt durch raffinierte Verkleidung und Konspiration, ein weitgehend gewaltloses Arbeiten. Dazu passt die ökonomische Theorie der Räuber. Die Ökonomie der fließenden Zirkula91 92 93 94 95 96

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Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 384. Ebd. Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, II, S. 80. Ebd. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 384. Schon Danker hat hervorgehoben, dass »das Banditenleben strukturell auch durch Individualität und Konkurrenz geprägt« war (Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700, S. 292). Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 332. Ebd.

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tion unterscheidet sich von der brachialen Heilsökonomie des Pastors Hosmann mit ihrem vormodernen Verständnis des Tausches ›Reue gegen Seelenheil‹ (über das sich die Räuber aktenkundig lustig machten)99 ebenso auffällig wie von der anschwellenden Gewaltmetaphorik der Nachdichtungen, die den Konkurrenzdruck innerhalb der Bande als ›Folter‹ imaginieren. Dass »todtes Capital, das Niemandem Zinsen trägt«,100 verflüssigt werden muss, ist mit Ausnahme des Textes von Rambach Leitvorstellung der Räuber in sämtlichen Darstellungen. Bei Hans von Hülsen, Freund und Biograf Gerhart Hauptmanns und 1933 einer der Unterzeichner des Treue-Gelöbnisses für den ›Führer‹, erhält sie im Rahmen einer modernen Zivilisationskritik offen antisemitische Züge. Dabei wird nicht zufällig auf die von Hosmann eingeführte Konstellation zwischen Jonas Meyer, dem unbekehrbaren Juden, und Nickel List, der »Dr. Luthers Katechismus«101 wohl studiert hat, zurückgegriffen. Zum ungebrochen reuigen Sünder taugt Nickel List hier nicht mehr.102 Stattdessen disputieren beide über ökonomische Theorie, und der gescheiterte Hauptmann bleibt, da die um ihn Versammelten »nicht Treue, sondern nur Nutzen« kennen, mit der schmerzhaften Einsicht zurück, dass ihm nichts übrig bleibt, als »ganz er selbst [zu] sein«.103 »Macht«, so lernt er, »war nur eines: das Ich, der wahre Fürst und Kaiser«.104 Vor diesem Hintergrund dämmert die Frage: »Lohnet es noch, ein Christ zu werden?!«105

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Hosmanns Heilsökonomie entspricht dem Vorgehen, das in der Vormoderne für »herzhaft dreinschlagende Angebotsreligionen« typisch ist (Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt am Main 2009). Angebotsreligionen gehen davon aus, dass das Wort Gottes ein Angebot ist, »zu dem man nicht nein sagen kann« (ebd.). Genau das taten aber die Räuber, wenn die für christliche Reue gebotene Gegenleistung nicht ihren Vorstellungen entsprach, vor allem, wenn sie trotz Reue sterben sollten. Mehrfach sah sich Hosmann mit jüdischen Räubern konfrontiert, die zwar bereit waren, sich gegen Gnade taufen zu lassen, es andernfalls aber vorzogen, als Juden zu sterben. Solcher Handel gab Anlass zum Spott: »Wie dieser Schmuel mit Gewalt ein Christ werden wolte / so spottete einst Nickel List seiner / und sagte / wenn er das Leben behalten könte / wolte er sich gleich beschneiden lassen. Christian Müller aber fiel ihm ins Wort / und that hinzu / er wolte sich solchen falls dreymahl beschneiden lassen [...]« (Hosmann, Fürtreffliches Denck-Mahl, III, S. 54). Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List, II, S. 23 f. Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 198. Was Hülsen nicht davon abhält, ihn bei der Hinrichtungsszene ganz am Ende unter Verweis auf den Tod Christi doch als solchen zu verklären, um seiner Pflicht als »fromme[r] Chronist« (Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 295) Genüge zu tun. Ebd., S. 145 und S. 198. Ebd., S. 200 Ebd., S. 265.

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7. Diskurs der Folter: Ökonomie und Gemeinschaft Insgesamt haben wir den Fall Nickel List im Verhältnis von aktenmäßigem Bericht, Fallgeschichte und verschiedenen literarischen Darstellungen über einen Zeitraum von fast 300 Jahren verfolgt. Es lag nicht in unserer Absicht, den Diskurs der Folter, wie er sich in den verschiedenen Darstellungen dieses Falls Ausdruck verschafft, als Verlaufsgeschichte nachzuvollziehen. Die Textauswahl bildet ein synchrones intertextuelles Archiv des Diskurses,106 das viel zu klein ist für übergreifende Thesen zur Motivgeschichte107 oder gar zur historischen Entwicklung der Folter. Wohl aber hat es uns in die Lage versetzt, vor allem einem wichtigen Argumentationskontext der Auseinandersetzung mit und der Darstellung von Folter auf die Spur zu kommen. Die folterkritischen Herausgeber der juristischen Fallgeschichte stellen wiederholt den epochalen Humanitätsfortschritt heraus, der 150 Jahre nach Sigismund Hosmann zu verzeichnen ist. Mit ihrer Kritik an der »Zweckmäßigkeit«108 der Folter entsprechen sie dem ökonomischen Zeitgeist Mitte des 19. Jahrhunderts. Ökonomisches Kalkül diagnostizieren sie zugleich als entscheidende Triebfeder Nickel Lists und seiner nicht zufällig nur »Gesellen« genannten Miträuber, die die romantische Vorstellung von einer Räuberbande geradezu konterkarieren. Von einer verschworenen Gegengesellschaft, wie sie die Forschung zum Sozialbanditentum zum Teil diagnostiziert,109 kann hier keine Rede sein. Stattdessen wird Nickel List im Pitaval und auch in anderen Darstellungen als absolutistischer Staatsmann geschildert, der seinen Haushalt in Ordnung halten muss.110 Gleichwohl aber gibt es in den Nachdichtungen eine starke Tendenz, das ökonomische Modell der delin106

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Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 197und S. 208. Sven Kramer, Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis ›nach Auschwitz‹, München 2004. Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 373. Vor allem Küther hat mit Blick auf das Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert argumentiert, es habe sich hier nicht um reine Zweckverbände, sondern um solidarische Gemeinschaften gehandelt (Küther, Räuber und Gauner in Deutschland, S. 56 und S. 86). Arnold hat das in der hitzigen Sozialgeschichtsdebatte der 1970er Jahre als »ideologische Legende« zurückgewiesen (Hermann Arnold, »Grundschicht und Gaunertum. Zur Kritik von Küthers Buch: Räuber und Gauner in Deutschland«, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 25 [1977], S. 67–76, hier S. 25 und S. 75). Seidenspinner wiederum hat angemerkt, diese Kritik sei vor dem Hintergrund der rassenbiologischen Argumentation in Arnolds eigenen Arbeiten zur fahrenden Bevölkerung nicht ohne Tendenz (Wolfgang Seidenspinner, Mythos Gegengesellschaft. Erkundungen in der Subkultur der Jauner, Berlin u. a. 1998, S. 242). »Außerdem kostete ihm sein Staatshaushalt und seine üppige Maitresse, die Frau von Sien, so viel Geld, daß er sich stets gezwungen sah, auf neuen Erwerb auszugehen« (Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 347). Bei Hülsen spricht List selbst lachend von seinem »herrschaftlichen Staat« (Hülsen, Nickel List. Die Chronik eines Räubers, S. 123). Hintergrund ist Lists Verkleidung als obersächsischer Adliger Rudolph von der Mosel, als welcher er mit einem kostenintensiven Gefolge reiste.

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quenten Vergesellschaftung mit umso eindrücklicheren Vorstellungen von Verbundenheit zu überschreiben, wofür in direktem Zusammenhang mit den zahlreichen Schwurszenen die Haltung der beschworenen Gemeinschaft zu Folter stark gemacht wird. Die Vorstellung, dass nur derjenige Aufnahme in die Bande fand, der die Fähigkeit besaß, der Tortur zu widerstehen und also nicht zum Verrat gezwungen werden zu können,111 ist der zentrale Topos der List-Dichtungen, der den legendären Ruf der Räuber begründete. Historisch lässt er sich auf das wenig effiziente Celler Folterverfahren zurückführen, das durch die scheinbare Torturresistenz einiger Delinquenten behindert wurde. Der Effekt der literarischen Imagination aber geht darüber hinaus. Er lässt gegen die ökonomisch aufgeklärte Gesellschaft, deren effizientem Gewaltverhältnis der historische Nickel List durchaus bereits entsprach, eine romantische Gemeinschaft wieder auferstehen, die auf Gewalt eingeschworen ist. Dieses romantische Räuberbild ist immer orientiert an Karl Mohr und findet in Spiegelberg – oder Jonas Meyer – seinen Sündenbock.

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Rambach, »Nickel List«, S. 385; Bertrand, Der furchtbare Abenteurer Nikel List, S. 46; Hitzig/Häring, »Nickel List und seine Gesellen«, S. 347.

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Die Archivfunktion in der Psychiatrie (Kraepelin, Jaspers) Armin Schäfer

Michel Foucault hat einen eigenständigen Begriff des Archivs geschaffen. Er bezeichnet mit dem Singular archive, der seit dem 16. Jahrhundert im Französischen kaum mehr verwendet wird, ein theoretisches Konstrukt, das von empirischen Archiven unterschieden ist. Das archive ist »das allgemeine System der Formation und Transformation von Aussagen«1.Diese Definition zielt weder auf ein empirisch gegebenes Korpus noch auf eine Totalität von Dokumenten, Spuren und Artefakten, noch gar auf einen Aufbewahrungsort oder eine Institution. »Ich werde«, so erläutert Foucault seinen Begriff, »als Archiv nicht die Totalität der Texte bezeichnen, die für eine Zivilisation aufbewahrt wurden, noch die Gesamtheit der Spuren, die man nach ihrem Untergang retten konnte, sondern das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxe Existenz als Ereignisse und als Dinge bestimmen«2. Foucaults Begriff des archive umgeht gewisse Schwierigkeiten, die in der Forschung, die mit historischen Dokumenten arbeitet, aufgeworfen sind. Zwar greift die Diskursanalyse auf Archivbestände zurück, um die Regeln zu rekonstruieren, die in einem Diskurs galten. Auch in Foucaults Begriff des archive spielt die Aufbewahrung und Speicherung von Dokumenten eine Rolle. Jedoch zielt die Diskursanalyse nicht vorrangig auf eine Analyse der Regeln, die erklären könnten, wie ein empirisches Archiv beschaffen ist. Das Aufbewahren und Speichern ist die Grundlage dessen, was die »Archivfunktion« heißen soll. Sie besteht darin, dass sie die Möglichkeit der Rekursion erzeugt. Man kann auf das Aufbewahrte wiederholt und immer wieder aufs Neue zugreifen. Insofern ist zu klären, welche Rolle und Funktion die Möglichkeit einer Rekursion überhaupt in einem Diskurs innehat. Im Folgenden soll die Archivfunktion an zwei Beispielen aus der deutschsprachigen Psychiatrie diskutiert werden. Obwohl die Archivfunktion im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in spezifischen psychiatrischen Archiven geboren wurde, konnte sie zunehmend von empirischen Archiven abgelöst werden: Im psychiatrischen

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Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1992, S. 188. Michel Foucault, »Über die Archäologie der Wissenschaft. Antwort auf den Cercle d’épistémologique«, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften 1: 1954–1969, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2001, S. 887–931, hier S. 902.

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Diskurs bezeichnet im 20. Jahrhundert die Archivfunktion eine Möglichkeit der Rekursion.

I. Das Leben ist nicht von sich aus in Gesundheit und Krankheit eingeteilt. Das Begriffspaar umschließt eine Vielzahl von Unterscheidungen, die am Leben getroffen und mit biologischen Gesetzmäßigkeiten verschlauft werden.3 Die zwei Begriffe funktionieren als ein Paar. Jeder Begriff begleitet den anderen wie sein Schatten und die Verwendung des einen Begriffs ruft den anderen auf, obwohl keine konsistente Definition von Gesundheit oder deren sinnvolle Abgrenzung gegenüber der Krankheit möglich ist. In den Begriffen des Normalen und des Pathologischen gewinnt die Paarbildung einen verschärften polemischen Sinn, indem sie zugleich ausschließt und einschließt: »Polemisch ist der Begriff [des Normalen] gerade darin, daß er den der eigenen Geltung nicht unterworfenen Bereich des Gegebenen negativ qualifiziert und doch auf seiner Einbeziehung beruht«.4 Das Normale existiert gleichsam in einer Verdoppelung von Mehrheit bzw. Durchschnitt und Normativität. Die Norm konstituiert sich als ein »gigantisches Gedächtnis«,5 insofern sie im Gesunden und im Kranken, in jeder Abweichung und Negation mitgeschleppt wird. Unerheblich ist dabei, ob das Normale auch numerisch am häufigsten vorkommt: »Es geht nicht darum, ob es mehr Mücken oder Fliegen als Männer gibt, sondern darum, daß ›der Mann‹ im Universum einen Standard aufgestellt hat, auf den bezogen die Männer notwendigerweise (analytisch) eine Mehrheit darstellen«.6 Der medizinischen Normsetzung liegt eine Verwechslung von Normalität und Gesetz zugrunde. Die Norm wird als Gesetz ausgegeben, das einen moralischen Verpflichtungscharakter besitze.7 Die gelingende Anbindung des Lebens an die Norm wird als Bestätigung dafür genommen, dass die Erhebung der Norm zum Gesetz legitim sei: Das Pathologische erscheint als gescheiterte Anpassung an eine Norm. Der medizinische Begriff der Norm besitzt jedoch keine sachliche Rechtfertigung. Die Etymologie führt auf zwei Gegenbegriffe zur Normalität. Die Wörter »anormal« und »Anomalie« sind nicht miteinander verwandt. Während das lateinische Adjektiv, von dem keine Substantivbildung überliefert ist, dasjenige bezeich3

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Zum Konzept der Krankheit siehe Charles E. Rosenberg, »What Is Disease? In Memory of Owsei Temkin«, in: Bulletin of the History of Medicine 77 (2003), S. 491–505. Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, München 1977, S. 163. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1992, S. 398. Ebd., S. 396. Vgl. Owsei Temkin, »Some Moral Implications of the Concept of Disease«, in: ders., »On Second Thought« and Other Essays in the History and Philosophy of Science, Baltimore 2002, S. 49–59.

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net, was ohne Regel ist oder von der Regel abweicht, bezeichnet das aus dem Griechischen stammende Substantiv »Anomalie«, zu dem wiederum kein Adjektiv gehört, Ungleichheit, Rauheit oder Unebenheit. Im Begriff der Krankheit haben sich die beiden Vorstellungen vermischt: Die Bezeichnung des Pathologischen, wie sie üblicherweise gebraucht wird, ist auf das Selbstverhältnis des Organismus und auf sein Verhältnis zur Art oder Gattung, auf das Anormale und die Anomalie, bezogen. Organismen stabilisieren ihre Lebensäußerungen aber im Wechselspiel mit ihrer Umwelt und setzen so ihre eigene Normalität. Weder trägt der Begriff des Durchschnitts dieser individuellen Normalität des Lebens schon Rechnung, noch ist aus empirischen Fällen eine Norm ableitbar, die für andere Menschen Gültigkeit beanspruchen kann. Im 18. Jahrhundert entstand eine neue Wissensform, die im Gegensatz zur Historie eine Beschreibung der Gegenwart unternahm: Sie gründete auf fortlaufend erhobenen Daten, die nach Mittelwerten, Abweichungen oder Häufigkeitsverteilungen geordnet wurden. Um 1800 hielt die statistische Wissensproduktion auch Einzug in die Medizin, und es entstand in der Folge dieses »regelrechten epistemologischen Erdbebens« eine neue, »nicht-cartesianische mathematische Medizin«.8 Zahlreiche Ärzte sträubten sich gegen die statistische Reformulierung des medizinischen Wissens und beriefen sich auf ihre (klinische) Erfahrung. Sie bestritten, dass die Medizin zu den sogenannten »konjekturalen Wissenschaften« gehöre.9 Die Medizin sei eine Wissenschaft von individuellen Lebewesen, und die klinische Praxis bestätige, dass Erfahrungen akkumuliert und persönlich weitergegeben werden müssen. Der einzelne Organismus erschien den Ärzten nach wie vor als Singularität und gab Anlass zur Darstellung einer Fallgeschichte. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten Fallgeschichten ihre Bedeutung im Vergleich mit einem statistisch erzeugten Wissen. Die Krankheit ist von hochgradiger Individualität, die ein unüberschaubares Feld innerer und äußerer Determinanten dokumentiert. Die Individualität besitzt, so wurde nun argumentiert, ein charakteristisches Gepräge, das auf statistische Regelmäßigkeiten und regelhafte Normabweichungen verweist. Über ein einzelnes Individuum lassen sich nur dann Aussagen treffen, wenn es mit anderen zu einer Gruppe gehört und deshalb ein Vergleichsmaß definiert werden kann. Seit dem Ende des 19. Jahrhundert ist die medizinische Normbildung nicht mehr von Archivoperationen zu trennen: Mittels statistischer Verfahren können aus fluktuierenden Datenbeständen flexible Normen konstruiert werden.10 In der Psychiatrie war die Erzeugung der Norm das Korrelat von deren Anwendung. Aktualisierte und mit vorliegenden Beständen abgeglichene Daten erlaubten 8

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Vgl. Georges Canguilhem, »Der epistemologische Status der Medizin«, in: ders., Grenzen medizinischer Rationalität. Historisch-epistemologische Untersuchungen, Tübingen 1989, S. 69–93, hier S. 72. Ebd., S. 73. Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997.

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einen nahtlosen Übergang vom Messen zum Testen, von der Untersuchung zur Eignungsprüfung, von der Gesundheitsstatistik zur Biopolitik: Leben war eine Vorform des Pathologischen, die als Risiko quantifiziert wurde.

II. Die psychiatrische Krankheitslehre ist hauptsächlich eine Ordnung von Phänomenen. Und sie war lange Zeit auch eine Anleitung zum Handeln. Die schwierigste Aufgabe bestand stets darin, die Krankheitslehre mit der klinischen Praxis zu verknüpfen. Im 19. Jahrhundert postulierte Wilhelm Griesinger für sämtliche Geisteskrankheiten eine Ursache, die in den Erkrankungen des Gehirns zu finden sei, und beschrieb eine Krankheitsform, die sogenannte Einheitspsychose, die sich in wechselnden Symptomen niederschlage.11 Die Dichotomie von Ursache und Phänomenen ging in der Folge mit einer Abtrennung der Nosologie von der klinischen Praxis einher: Der Spekulation über neuroanatomische und hirnphysiologische Ursachen stand eine Vielzahl von widersprüchlichen Krankheitskonzepten gegenüber. Um 1900 hoffte die Psychiatrie, dass eine vollständige biologische Erklärung der psychischen Phänomene möglich sei. Die gesuchte Erklärung regierte das psychiatrische Aussagefeld, auch wenn die Ursachen einer Krankheit unklar oder unbekannt und der Psychiatrie enge Grenzen der Erkenntnis gesteckt waren. Emil Kraepelin (1856–1926) stellte die Nosologie dann auf eine neue Grundlage: Nicht die pathologische Anatomie, sondern die Klinik diente ihm als Ausgangspunkt für die Nosologie. An die Stelle des nachträglichen hirnanatomischen Befunds, der vielfach gar kein Ergebnis erbrachte, trat die klinische Beobachtung der Krankheitszeichen.12 Kraepelin begann »ausser den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch die psychischen Erscheinungen gesondert zu erforschen. Wir erhalten auf die Weise zwei Reihen innig mit einander verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer Tatsachen, das körperliche und das psychische Geschehen. Aus den gesetzmässigen Beziehungen beider zu einander geht das klinische Krankheitsbild hervor«.13 Kraepelin hatte seine Karriere in den psychologischen Laboratorien in Leipzig begonnen, die von Wilhelm Wundt geleitet wurden. In Dorpat (1886–91), Heidelberg (1891–1903) und München (1903–26), den weiteren Stationen seiner

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Vgl. Bettina Wahrig-Schmidt, Der junge Griesinger im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Psychologie. Anmerkungen zu den philosophischen Wurzeln seiner frühen Psychiatrie, Tübingen 1985, S. 108–151. Vgl. Emil Kraepelin, Lebenserinnerungen, hg. von Hanns Hippius, Gerd Peters und Detlev Ploog, unter Mitarbeit von Paul Hoff und Alma Kreuter, Berlin 1983, S. 16. Emil Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte, Leipzig 1896, S. 6 f.

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Laufbahn, führte er Experimente mit Gesunden und Erkrankten durch.14 Es wurden Reaktionszeiten gemessen, Kopfrechenaufgaben gelöst, Unsinnssilben wiederholt oder Schriftproben aufgezeichnet. Die Experimente wurden umfänglich dokumentiert, statistisch ausgewertet und in einem eigens neu gegründeten Publikationsorgan, den Psychologischen Arbeiten, verbreitet, in deren erstem Heft Kraepelin das Programm seiner Psychiatrie entwarf.15 Die neue Ausrichtung der Psychiatrie erhob quantifizierbare Daten, von denen dann die weitere Arbeit ausging. Diese methodische Ausrichtung trug Kraepelin den Vorwurf ein, eine »KurvenPsychiatrie« zu betreiben. »Wir verstehen darunter«, hält einer seiner Parteigänger den Kritikern entgegen, »die Gesamtheit dessen in der Psychiatrie, was sich in Zahlen und Kurven ausdrücken läßt und somit den höchsten Grad an Exaktheit erreicht. Es handelt sich also nicht etwa um eine neue Art von Psychiatrie, sondern nur um rationelle und intensive Anwendung der Statistik auf Grund alter und neuer Untersuchungsmethoden«.16 Die neuen Untersuchungsmethoden waren »der eigentliche Wendepunkt in der Entwicklung der klinischen Psychiatrie bei ihrer Umwandlung zu einer methodischen Wissenschaft«.17 Die Methoden erfordern eine veränderte Praxis der Aufzeichnung von Störungen bzw. Erkrankungen. Weil Menschen opak und Gehirne nicht unmittelbar zu beobachten sind, aber »die gesamte Pathologie der Geisteskranken in nichts anderem besteht, als in den Besonderheiten ihres motorischen Verhaltens«,18 ist die Psychiatrie auf die Beobachtung von Zeichen angewiesen, die auf ein unzugängliches Inneres schließen lassen: »Sind doch streng genommen, Spannungsänderungen in irgend welchen Muskeln fast die einzigen, jedenfalls aber die bei weitem wichtigsten Zeichen, welche uns von den Regungen des Innern des Menschen Kunde geben«.19 Diese Spannungsänderungen konnten aufgezeichnet und mit psychischen Zuständen wie etwa Ermüdung oder Angst korreliert werden.20 Hierzu setzte die Psychiatrie graphische Aufzeichnungsverfahren sowie Photographien, Grammophon- und Filmaufnahmen ein, um jene Störungen, die sich

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Vgl. Emil Kraepelin, Werke, bisher 6 Bde., hg. von Wolfgang Burgmair, Eric J. Engstrom und Matthias M. Weber, München 2000 ff. Emil Kraepelin, »Der psychologische Versuch in der Psychiatrie«, in: Psychologische Arbeiten 1 (1896), S. 1–91, hier S. 4. Paul Näcke, »Über den Wert der sogenannten ›Kurven-Psychiatrie‹«, in: Zeitschrift für Psychiatrie 61 (1904), S. 280–295, hier S. 280 f. Robert Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs-Methoden. Mit 86 Abbildungen, Berlin, Wien 1899, S. 2. Max Isserlin, »Über den Ablauf einiger willkürlicher Bewegungen. Mit 53 Figuren im Text, 1 Tabelle und 8 Tafeln«, in: Psychologische Arbeiten 6 (1914), S. 1–195, hier S. 145. Isserlin zitiert hier den Lehrsatz Carl Wernickes. Kraepelin, »Der psychologische Versuch in der Psychiatrie«, S. 25. Ebd.

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in auffälligen Bewegungen äußern, einer objektivierenden und nachträglichen Beobachtung zugänglich zu machen.21 Die klinische Beobachtung am Krankenbett hatte ihr Vorbild in der allgemeinen Medizin, die das Problem der uneindeutigen Symptomatik, das dort in viel geringerem Maße auftrat, durch eine zweifache Verzeitlichung anging: Zum einen wurden die Zustände und Daten selbst beobachtet, und zum anderen wurde eine Anamnese erhoben. Die Diagnose bestand dann in einer mehr oder minder stabilen Korrelation von Daten und Zuständen mit Ursachen. Allerdings waren die beobachteten Phänomene vieldeutig und unklar. Die Hauptschwierigkeit lag darin, dass von Phänomenen wie Delirium, Anfall, Dämmerung, Depression oder Erregung nicht auf eine spezifische Erkrankung geschlossen werden kann. Obwohl auch Kraepelin der Theorie anhing, dass die Ursachen des Irreseins eher im Organischen zu finden seien, war die Klinik gänzlich auf eine Beschreibung und Klassifikation von Phänomenen zurückgeworfen. Denn Diagnose und Prognose, Therapie und Pflege mussten ja ungeachtet der laufenden Debatten über die Ätiologie der Krankheiten gewährleistet sein. Kraepelin stellte »diagnostische Gesichtspunkte« in der Klinik »durchaus in den Vordergrund«.22 In den Vorlesungen, die in seine Krankheitslehre einführen, waren die referierten Fakten »fast überall unmittelbar den Aufzeichnungen über die klinische Vorstellung entnommen«.23 Hierbei waren die Rollen fest verteilt: Der Wahnsinnige ist keineswegs stumm und zum Schweigen verurteilt. Er kann in der Anstalt querulieren oder fabulieren, aber was immer er auch äußert, wird nicht den Status einer psychiatrischen Aussage erlangen. Auch wenn er sich unablässig äußert, schafft er kein Werk, selbst wenn er schreibend Seite um Seite füllt. Der psychiatrische Diskurs erteilt dem Wahnsinnigen nicht das Wort, sondern benutzte seine Äußerungen als Material, um über den Wahnsinn zu sprechen. Der Patient konnte mit seinen Äußerungen die Schwelle der psychiatrischen Aussage nicht überschreiten und blieb auf seine Rolle als ausgesagtes Objekt festgelegt. Die Präsentation von Patienten vor den Studenten diente zur Veranschaulichung der Klassifikation und zur Einübung in die medizinische Zeichenlehre. Die »für den Anfänger verwirrende Schwierigkeit« lag darin, »Zustandsbilder und Krankheitsformen auseinanderzuhalten«.24 Die Studenten begegneten in der psychiatrischen Klinik einem neuen Typus von Krankheitszeichen, der keine Orientierung erlaubte: »Während Sie sich mit den aus der allgemeinen Pathologie gewonnenen Begriffen sonst ohne Schwierigkeit in einem neuen Fache der Medizin zurechtfinden können, stehen Sie hier zunächst ratlos den grundsätzlich so andersartigen Krankheitszeichen gegenüber, bis Sie allmählich die besonderen Erscheinungsformen der 21 22 23 24

Vgl. Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs-Methoden, S. 141–153. Emil Kraepelin, Einführung in die psychiatrische Klinik, Leipzig 31916, S. III. Ebd., S. IV. Ebd.

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Geistesstörungen einigermaßen zu beherrschen gelernt haben«.25 Kraepelin demonstrierte in den Vorlesungen, dass die Krankheitszeichen opak, der Augenschein trügerisch, die meisten Ursachen der Geistesstörungen unbekannt und die Phänomene von undurchschaubarer Vielfalt waren. Die Vorlesungen variieren unablässig die Mahnung, dem Augenschein nicht zu trauen. »Die körperliche Untersuchung ergibt [...] keine auffallende Störung«.26 »Die Krankheit begann ohne nachweisbare Ursache 7–8 Monate vor der Aufnahme allmählich«.27 »Das klinische Bild der einzelnen Anfälle kann weitgehende Übereinstimmungen, aber auch erhebliche Abweichungen darbieten. [...] Daraus dürfen wir schließen, daß diese Krankheitszeichen für das Leiden nicht wesentlich sind«.28 »Aus dieser Vorgeschichte ergibt sich, daß die Melancholie bei unserem Kranken nur einen Abschnitt eines verwickelten Krankheitsverlaufs darstellt!«29 Die klinische Demonstration präsentierte also eine Ordnung der Krankheiten, die nicht auf einmal und nicht mit einem Blick zu erkennen ist. Der aktuelle Blick auf den Patienten konnte zumeist nur unklare, trügerische und transitorische Zeichen erhaschen. Deshalb musste der Beobachtungszeitraum ausgedehnt und der Wandel der Zeichen und Zustände protokolliert werden. Die Psychiater beschritten einen Zirkel und verfolgten den Lebenslauf des Patienten in die Kindheit, zu den Eltern, Großeltern, der Familie und dem Moment der Zeugung zurück, um schließlich am Krankenbett der Klinik anzugelangen, wo nur mehr eine leere Zeit folgte, in der sich die Wahrheit der Diagnose entpuppte. Der klinische Blick zähmte das Jetzt durch sein Vorher und Nachher. Hierbei nahm der Psychiater einen unablässigen Vergleich der Beobachtungen mit seinem Erfahrungsschatz vor oder führte einen expliziten Vergleich anhand mehrerer Krankengeschichten durch.

III. Die Krankengeschichte war die »Schnittstelle zwischen medizinischem Wissen und individueller Erkrankung eines Menschen«.30 Sie dokumentierte Verlauf, Anamnese und Therapie eines Patienten. Im 19. Jahrhundert setzte sich in den Kliniken die patientenbezogene Dokumentation durch. Aus der Registratur der Klinik wurde das Aufschreibeverfahren der Ärzte selbst ausgegliedert: Die Dokumentation wurde in Form einer Krankenakte erstellt und war Teil des Aufschreibesystems 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 1. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Volker Hess, »Der Wandel der Krankengeschichte durch die Entwicklung der Krankenhausverwaltung. Ein altbekanntes Instrument im Wandel der Zeit«, in: Klinikarzt 37/1 (2008), S. 44–47, hier S. 44.

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der Psychiatrie. Die Akte besaß die offene Struktur eines Hefts, einer Blattsammlung oder eines Albums: Zwischen den Deckeln konnten Schriftstücke (und Objekte) jeglicher Art versammelt werden. Eine Titelseite verzeichnete zumeist die Personalien, die Daten von Aufnahme und Entlassung, die Diagnose usw. Die Akten selbst waren heterogene und unübersichtliche Dossiers: Sammlungsort von Äußerungen und Materialien jeglicher Art, die durch ihren »Bezug zum Patienten« vereinigt wurden.31 Diese Verfasstheit der Akten erschwerte insofern den Vergleich von Fällen, weil die Akten keinen guten Überblick gewährten und umständlich zu handhaben waren. Die Geschäftsgrundlage der psychiatrischen Krankengeschichte war der Dualismus von Wirklichkeit und Repräsentation: Es gab auf der einen Seite die Erzählung eines Falls, und auf der anderen Seite den Fall selbst, auf den die Geschichte bezogen ist. Und es gab einen geregelten Zusammenhang und Übergang von der Erzählung zum Fall, vom Fall zur Erzählung. Die Kranken- bzw. Fallgeschichte war wesentlich eine Folge von Aussagen, Prädikationen und Referenzakten, und die Psychiater sahen ihre Texte in erster Linie als Darstellungen, Schilderungen oder Beschreibungen, nicht aber als Erzählungen. Man kann die Krankengeschichten auch Erzählungen heißen, aber man wird ohne klassische Begriffe wie Widerspiegelung, Abbildung, Referentialität und Gegenstand kaum auskommen, will man begreifen, worum es überhaupt geht. Aus der Perspektive der Psychiatrie ist der Bezug der erzählten Geschichte auf die Wirklichkeit weitgehend unproblematisch: In der Geschichte dominiert die referentielle Funktion der Sprache; sie besteht aus einer Folge von Propositionen, die überprüfbar sind und aus ihrer Überprüfbarkeit ihre Autorität beziehen. Die Psychiater sagen: Die Krankengeschichte ist ein (historischer) Sachverhalt, der wirklich geschehen ist. Und sie teilen einen Fall mit, weil er mehr als nur eine Besonderheit und von allgemeinem Interesse ist. Kraepelin stellte immer wieder fest, dass eine Fülle an klinischen Beobachtungen und empirischen Daten »ungenutzt in der Vergessenheit der Aktenschränke versinkt«.32 Sie gingen zwar in die Erfahrung des Klinikers ein und wurden Teil eines impliziten Wissens. Aber sie spielten im Forschungsprozess selbst keine Rolle, weil sie übersehen, nicht mehr erinnert oder vergessen wurden. Und er bemerkte, dass die Diagnose auf den klinischen Blick des Arztes zurückwirkte und eine unvoreingenommene Interpretation der Beobachtungen vereitelte. Schließlich war die Arbeit mit den Akten beschwerlich: Der Vergleich der Fälle erforderte unhandliche Synopsen, doch die Synopsen waren umso leistungsfähiger, je leichter die aufbereiteten Daten überschaubar waren.

31 32

Ebd., S. 45. Emil Kraepelin, »Die Erforschung psychischer Krankheitsformen«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Originalien 51 (1919), S. 236–246, hier S. 239.

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Kraepelin ergänzte das bestehende psychiatrische Aufschreibesystem um seine sogenannten Zählkarten.33 Die Zählkarte war eine Karteikarte, auf der für jeden aufgenommenen Patienten die »Personalien in knappster Form« sowie »die wichtigsten Angaben über Ursachen und Entstehungsgeschichte, Erscheinungen, Verlauf und Ausgang seines Leidens« verzeichnet wurden.34 Das Vorbild der Kraepelinschen Zählkarten waren Zählkarten, die von den statistischen Ämtern des Reiches und der deutschen Länder für statistische Erhebungen verwendet wurden. Kraepelin spielte mit den Karten, so darf man vermuten, immer wieder mögliche Gruppierungen der klinischen Einheiten und Untereinheiten durch: Es haben sich in einem Bestand unbekannten Umfangs einige Hundert Karten erhalten, die aber nur einen kleinen Teil einer weitgespannten Forschungsinfrastruktur ausmachten. Die Karten gehörten zu einem Aufschreibesystem, das Aufnahmebücher, die Krankenakten selbst, Laborbücher usw. umfasste. Die Grenzen dieser Infrastruktur sind nicht anzugeben: Sie erstreckte sich auf der einen Seite weit in administrative Vorgänge der Ministerien und Universitäten und verästelte sich auf der anderen Seite in statistische Methoden, Laborroutinen und Rekrutierungsstrategien für Ärzte und Pfleger. Die Zählkarte wurde parallel zur Krankenakte geführt oder nachträglich aus einer vorliegenden Akte erstellt, indem die wichtigsten Daten aus den Krankengeschichten exzerpiert, aber deren Interpretation, d. h. die Diagnose, hintangestellt wurde. Die Diagnose wurde, falls bekannt, zumeist andernorts festgehalten, etwa in der Akte selbst oder auf einem sogenannten Diagnosezettel, nicht aber auf der Zählkarte, die half, eine methodische Fiktion auszubilden. Der Psychiater sollte die klinischen Phänomene so beschreiben, als ob er einen frischen und unvoreingenommenen Blick auf den Patienten richten würde. Die Karte übersprang also ein bestehendes, diagnostisches Wissen, das eingeklammert wurde: Die Abschattung der Diagnostik suspendierte nicht so sehr die Erfahrung des Klinikers, sondern erzeugte einen Raum von vorgeordneten Daten, dem eine neue Struktur aufgeprägt werden konnte. Die Zählkarten wurden in doppelter Ausführung angefertigt: Die eine Ausfertigung diente zu Dokumentationszwecken, die andere als Spielmaterial für den Vergleich von Fällen und deren Gruppierung. Die Gruppierung der Fälle führte auf klinische Einheiten sowie einen Rest von Fällen, der sich der Gruppierung entzog und in weiterer Forschung bearbeitet wurde. Die Karten waren mobile Datenträger, die in weitere Kartentypen transkribiert werden konnten und dadurch eine Überprüfung der Korrelation von Krankheitszeichen und Diagnosen erleichterten. Die Zählkarte fungierte als ein Datenfilter, der aus einer Krankengeschichte eine prägnante Struktur zurückbehält. Das Aufschreibesystem der Psychiatrie verfügte 33

34

Siehe Matthias Weber, Eric J. Engstrom, »Kraepelin’s Diagnostic Cards. The Confluence of Empirical Research and Preconceived Categories«, in: History of Psychiatry 8 (1997), S. 375–385. Kraepelin, »Die Erforschung psychischer Krankheitsformen«, S. 239.

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mit den Zählkarten über so etwas wie eine einfache, relationale Datenbank, die beliebige Vergleiche ermöglichte. Die Suche nach klinischen Einheiten und die Klassifikation von Krankheiten erforderte eine breite empirische Basis.35 In der Heidelberger Universitätsklinik, in der Kraepelin seine Nosologie ausarbeitete, stieß sein Forschungsinteresse jedoch mit einem sozialpolitischen Kostenkalkül zusammen.36 Die Forschung erforderte einen möglichst hohen und schnellen Durchsatz von Patienten in der Klinik, weil nur eine Vielzahl von Fällen die Grundlage für aussagekräftige Ergebnisse bereitstellte. Allerdings wollte der Heidelberger Ordinarius diejenigen Patienten, die unheilbar schienen, gar nicht erst in der Klinik behandeln, sondern sogleich an die öffentlichen, vom badischen Land getragenen Irrenanstalten überweisen. Die unheilbaren und pflegebedürftigen Fälle, die die Kapazität der Klinik unnötig belasteten, sollten möglich rasch ausgesondert und auf andere Anstalten verteilt werden. Kraepelins Forschungsinteresse kollidierte mit administrativen Regeln und politischen Vorgaben. So wurde über die Aufnahme von Patienten lange Zeit gar nicht von den Psychiatern der Klinik entschieden. Wenn ein Patient verlegt wurde, nahm er seine Krankenakte mit. Kraepelin erstritt sich das Recht, dass die Psychiater, nicht aber Juristen entschieden, ob ein Patient in seine Klinik aufgenommen wurde oder nicht. Und er setzte gegen heftigen Widerstand von Seiten der badischen Behörden durch, dass die Krankenakten in der Klinik verblieben und nur eine Kopie an die aufnehmende Anstalt weitergegeben wurde. Die Reorganisation des Aktenflusses war eine entscheidende Voraussetzung für die praktische Arbeit des Sammelns, Vergleichens und der Sortierung von Krankengeschichten. In der Psychiatrie galten um 1900 etwa 70 Prozent aller Patienten als unheilbar.37 Die Gruppe der Unheilbaren umfasste sowohl Fälle, für die eine Ursache anzugeben war, wie die Syphilitiker, die Hirnverletzten, die Urämiekranken usw., als auch Fälle mit unklarer Ätiologie. Die psychiatrische Universitätsklinik war ein Ort, der die Funktion einer Durchgangsstation und eines Filters innehatte: In der Klinik wurden die Patienten in Klassen von Fällen aufgeteilt; es wurde die Aufteilung mit einer Prog35

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Volker Roelcke, »Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft. Das Projekt einer ›Irrenstatistik‹ und Emil Kraepelins Neuformulierung der psychiatrischen Klassifikation«, in: Eric J. Engstrom, Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Mainz 2003, S. 169–188. Siehe hierzu Eric J. Engstrom, Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca, London 2003, S. 121–146; ders., »Die Ökonomie klinischer Inskription. Zu diagnostischen und nosologischen Schreibpraktiken in der Psychiatrie«, in: Cornelius Borck, Armin Schäfer (Hg.), Psychographien, Zürich, Berlin 2005, S. 219–240. 1877 gab es im Deutschen Reich 93 öffentliche Anstalten mit knapp 32.000 Insassen; 24 Jahre später hatte sich die Zahl der Anstalten auf 164 gesteigert, während die Zahl der Insassen um nahezu 200 Prozent auf 98.954 angestiegen war. Siehe Engstrom, Clinical Psychiatry in Imperial Germany, S. 30 f.

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nose über die Heilungschancen verknüpft; und es wurde ein neues Kostenkalkül und eine gesundheitspolitische Planung angestoßen. Kraepelin erstellte ein Archiv seiner experimentellen und klinischen Arbeiten, das ihm eine statistische Durchdringung der Fälle ermöglichte und einen synoptischen Überblick gewährte. Das Archiv wurde zum unerlässlichen Hilfsmittel und bildete die Voraussetzung für die Klassifikation von Erkrankungen durch deren Zusammenfassung nach Ähnlichkeiten in Symptomatik und Verlauf bzw. durch Aussonderung der Fälle, die sich einer Gruppenbildung entzogen. Die Nosologie schloss eine Prognose des Krankheitsverlaufs ein und erlaubte dadurch die Kosten für die Heilung bzw. Pflege abzuschätzen; sie war Grundlage einer effizienten Auslastung von medizinischen Infrastrukturen, weil sie Kriterien für eine Verlegung von chronisch und unheilbar Erkrankten in Pflegeheime an die Hand gab; und sie diente nicht zuletzt als Handlungsanleitung für die ambulante und klinische Versorgung der Patienten. Kraepelin grenzte zwei Formenkreise von Erkrankungen gegeneinander und von allen anderen psychischen Störungen ab: das manisch-depressive Irresein und die Dementia praecox, die später als Schizophrenie bezeichnet wurde. Obwohl die Ätiologie der Krankheiten unbekannt war, schien diese Ordnung plausibel: »Die Heraushebung der manisch-depressiven und der Dementia-preacox-Gruppe und ihre gegenseitige Abgrenzung ist der bedeutsamste Fortschritt, den die systematische Psychiatrie je gemacht hat«.38 Kraepelin verwendete Dementia praecox als eine Sammelbezeichnung, die besagte, dass die psychische Erkrankung in der Verblödung ende und vergleichsweise früher als andere Demenzerkrankungen beginne. Er erklärte, »dass die Prognose nicht das einzige Criterium für die Classification sei, sie sei aber doch in practischer Beziehung das allerwichtigste. Auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sei es zu fordern, dass man dahin gelangt, von den Endzuständen aus einen sicheren Rückschluss auf den früheren Verlauf ziehen zu können«.39 Die klinische Einheit der Dementia praecox ersetze die Paranoia, die vormals etwa 80 Prozent der Erkrankten umfasste. Die alte klinische Einheit der Paranoia war eine Sammelbezeichnung für funktionelle Psychosen, als deren Hauptsymptome Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen galten. Die Krankheit der ›alten‹ Paranoia war durch ein Wahnsystem definiert, das vom Maßstab der Vernunft abwich. Dieses Kriterium erwies sich als untauglich, weil auch der Wahn ein in sich rationalen Grundsätzen folgendes System ausbildete. Sinnlichkeit und Verstand waren anfällig für Störungen aller Art. Der schlimmste Fall aber bestand darin, dass jedes Vermögen in sich störungsfrei funktionierte, aber ihr Zusammenspiel insge38 39

Eugen Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin 21918, S. 286. [Anon.,] »Bericht über die Sitzungen der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie der 71. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte«, in: Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 22 (1899), S. 584.

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samt gestört war. Dieser Wahnsinn war rätselhaft: Die Verstandestätigkeit war unbeeinträchtigt, das Gedächtnis hatte nicht nachgelassen; es lagen keine Halluzinationen vor und noch nicht einmal größere Störungen des Affekts. Während in den meisten Wahnformen ein oder mehrere Vermögen in sich gestört waren, war in dieser spezifischen Wahnform ihr Zusammenspiel gestört. Die Definition des Wahnsinns als neben der Vernunft liegend, warf also das Problem auf, dass die Unvernunft von der Vernunft selbst ununterscheidbar sein konnte. Im 19. Jahrhundert wurde die Definition des Wahnsinns, die ihn durch seine verfehlte Relation zur Vernunft kennzeichnete, durch eine neue Definition und anderweitige Kriterien ersetzt. Kraepelins Umbau von der alten Paranoia zur Dementia praecox erfolgte über mehrere terminologische Zwischenschritte. Er definierte Paranoia als eine aus inneren Ursachen erfolgende, schleichende Entwicklung eines dauernden, unerschütterlichen Wahnsystems, das mit vollkommener Klarheit und Ordnung im Denken, Wollen und Handeln einhergeht. Kraepelins neue Definition des Wahnsinns zielte auf Entwicklung, das heißt Beginn, Verlauf und das Endstadium der Erkrankung. Auch wenn Patienten ein Wahnsystem ausgebildet hatten, war die Wahnbildung nicht mehr ausschlaggebend für die Diagnose. Entscheidend war vielmehr, dass die Erkrankung vorzeitig begonnen hatte und in der Demenz enden würde. Im Rekurs auf den Lebenslauf wurde in eine Chronologie von Daten eine Entwicklung hineingetragen, die ihr Telos in der Erkrankung fand, die Erkrankung aber wurde in der Totalität einer Persönlichkeit verankert. In der Krankheit konnte eine Entwicklungslogik entziffert werden, die sich im Patienten individuell profilierte: Die Krankheit besaß eine Virtualität, die sich in zweifacher Hinsicht aktualisierte, und zwar sowohl als Verlaufs- oder Entwicklungsform als auch im erkrankten Individuum. Die Einheit der Krankheit gründete in der verborgenen Essenz ihrer Ursache. Die verschiedenen Formen einer Erkrankung – etwa ihre hebephrenische, katatonische und paranoische Ausprägung – waren Varietäten einer Art; die einzelnen Erkrankten waren Vertreter einer Spezies. Die Krankheit besaß eine eigene Seinsweise. Die Psychiater konnten immer nur zeigen: Hier ist die Krankheit. Die bloße Aufzählung der Fälle aber definierte die Krankheit nicht. Die epistemologische Schwelle der Krankheit lag oberhalb des Individuums, das ihr Träger und Repräsentant war: Es gab Krankheiten, wie es Arten in der Natur gab.40

40

Zur Unterscheidung von ontologischen und physiologischen Krankheitskonzepten siehe Oswei Temkin, »Health and Disease«, in: ders., The Double Face of Janus and Other Essays in the History of Medicine, Baltimore 1977, S. 419–440.

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IV. Karl Jaspers (1883–1969) reichte 1908 an der Heidelberger Universitätsklinik seine Dissertation über Heimweh und Verbrechen ein.41 Die Arbeit wurde von Karl Wilmanns betreut. Wilmanns hatte eine Ausweitung der Falldarstellungen in psychiatrischen Texten gefordert und praktiziert, unter Obdachlosen gelebt und ›ethnographische‹ Forschung betrieben sowie die pathogenen Effekte von Einsperrungsmilieus untersucht.42 Zwar konnte Jaspers aufgrund seiner Erkrankung an Bronchiektasen keine umfangreichen klinischen Forschungen oder gar Feldforschungen betreiben. Aber er veränderte die Psychiatrie, indem er auf eine spezifische Weise das Erzählen mit dem Archiv verknüpfte. Die Fallgeschichte erzählt in der Regel die Geschichte eines Patienten. Sie folgt der Ordnung des Personenstands: ein Fall, eine Akte. Das Erzählen fokussiert auf eine Person, mit der es den Fokus entlang seiner Progression verschiebt. In der Fallgeschichte um 1900 wird die Darstellung in sich selbst in wichtige, zentrale Stellen und weniger wichtige, periphere Passagen aufgeteilt. Das Erzählen besitzt in sich selbst eine Ordnung und Schichtung, die dem psychiatrischen Diskurs folgt: Die diegetische Welt tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine dichte, fugenlose, vollständige Schilderung und eine vollständige Repräsentation der temporalen Ordnung der Wirklichkeit zu geben. Anders gesagt: In der klinischen Psychiatrie um 1900 war die Kranken- und Fallgeschichte eine knappe Erzählung. Die Diskursregeln erlaubten keine ausführliche Darstellung: Die Phänomene wurden unter Absehung von den Wahninhalten beschrieben. Begriffe wie Ausdruck, Repräsentation oder Erscheinungsform wurden durch einen Formalismus gesichert, die Absicherung des Formalismus aber unterblieb: Es war unerheblich, ob ein Patient sich für Napoleon oder den Kaiser von China hielt. Die Krankheit war eine Art oder Spezies: Sie wurde dadurch diagnostiziert, dass an einer Gesamtheit von Inhalten alle unterscheidenden Züge fortgelassen und nur das Gemeinsame festgehalten wurde. Die Merkmalsbildung stieg vom empirisch Gegebenen zu einer inhaltsärmeren Empirie auf. Diese Abstraktion vom Individuum war die Voraussetzung, dass das klinische Bild überhaupt als Einheit konstruiert und begrifflich bezeichnet werden konnte. Jaspers schlug vor, die klinisch-empirische Forschung auf ausführliche Darstellungen zu verpflichten: Sie solle auf die »Gewinnung ganzer Lebensläufe« abzielen, wie es auch schon »Kraepelin immer gefordert« hatte.43 »Es liegt auf der Hand«, so rechtfertigte er seinen Vorschlag, 41

42

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Vgl. Karl Jaspers, »Heimweh und Verbrechen«, in: ders., Gesammelte Schriften zur Psychopathologie (1963), Berlin u. a. 1990, S. 1–84. Vgl. Karl Wilmanns, Zur Psychopathologie des Landstreichers, Leipzig 1906; ders., Über Gefängnispsychosen, Halle a. d. Saale 1908. Karl Jaspers, »Eifersuchtswahn. Ein Beitrag zur Frage: ›Entwicklung einer Persönlichkeit‹ oder ›Prozeß‹?«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 1/1 (1910), S. 567–637, hier S. 569.

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dass die Gewinnung guter Biographien nichts Alltägliches ist; in unzähligen Fällen bleiben wir auf allzu dürftige Angaben beschränkt. Es liegt ferner auf der Hand, dass, wenn einmal eine solche Biographie entsteht, sie die gewöhnliche Länge der Krankengeschichte übertreffen muß. [...] Für die Biographien in unserem Sinne pflegen wir ein nicht unerheblich größeres Material zu besitzen, als das, welches wir veröffentlichen. [...] Kurze Krankengeschichten erscheinen meist als ganz wertlos und überflüssig.44

In der Psychiatrie waren ausführliche Darstellungen keine Neuigkeit. Nicht zuletzt in literarischen Texten und (Auto-)Biographien lag ein Archiv von Lebensläufen vor, das in den sogenannten Psychopathographien auch ausgewertet wurde.45 Jedoch bestanden auf Seiten der Kliniker große Vorbehalte gegen literarische Texte, trotz ihres Reichtums an phänomenalen Beschreibungen. Literarische Texte waren für die klinische Forschung unbrauchbar: Sie standen unter dem Verdacht, bloße Fiktionen zu sein. Die klinischen Psychiater fanden also in Literatur und Psychopathographien hauptsächlich eine Bestätigung und Differenzierung ihres Wissens, nicht aber valide Daten und reliable Beobachtungen. Die Erzählung konnte jedoch die epistemologische Schwelle, welche Äußerungen von psychiatrischen Aussagen trennte, nicht überschreiten: Die Literatur entzog sich der Überprüfung und des Vergleichs mit anderen klinischen Beobachtungen. Jaspers stieß die Diskursregel der Psychiatrie um, derzufolge Krankengeschichten knappe Texte sein mussten. Er bemerkte, dass Diagnosen bloße Namen waren und wie starre Bezeichnungsausdrücke funktionierten: Sie verrieten über den Gegenstand nichts, was man nicht schon wüsste, wenn man die Gebrauchsregeln kannte, die seiner Verleihung zugrunde lagen. Der Name übte seine Erkenntnisfunktion desto besser aus, je mehr über das Bezeichnete bekannt war. Die klinischen Einheiten verleiteten insofern zur Abkürzung der Diagnosestellung und blockierten die Forschung. Umfängliche Krankengeschichten würden hingegen, erstens, die Grundlage für beliebige Vergleiche schaffen und konnten neue Forschungen anstoßen: Trotz des vielen kasuistischen Materials, das in den psychiatrischen Zeitschriften und Archiven aufgehäuft ist, hat man nun meist nicht genug Material, wenn man sich theoretisch mit einer psychopathologischen Frage beschäftigt oder Parallelfälle im Vergleich mit eigenen Beobachtungen sucht. Nicht die Menge des Materials kann helfen. Das meiste ist leider zu kurz beobachtet oder unzureichend mitgeteilt. Der einzelne Psychiater sieht meist seine Fälle nur kurze Zeit; sie bleiben nicht in seiner Obhut, oder sein Leben reicht nicht aus zur Vollendung eigener Beobachtung. Hier helfen uns die in den Archiven niedergelegten alten Krankengeschichten und ganz 44 45

Ebd., S. 569. Siehe Wilhelm Lange-Eichbaum, Genie – Irrsinn und Ruhm, München 21935.

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besonders – leider fast nur in Fällen, die mit den Gerichten zu tun bekamen – die Akten (Strafakten, Prozessakten, Ehescheidungsakten, Entmündigungsakten usw.).46

Zweitens würden umfangreiche Krankengeschichten einen besseren Einblick in das Archiv der Psychiatrie gewähren: Man kann sich in der Psychiatrie nicht verständigen ohne die Schilderung einzelner Fälle. Dies sind die Ecksteine, ohne die unsere Begriffsgebilde zusammenfallen. Das zeigt sich an der Wirkungslosigkeit so mancher älterer Arbeiten, die, weil die Fälle ja allgemein bekannt seien, auf diese oft pedantische und überflüssige, dazu arg raumfüllende Beigabe verzichten. Man kann Erörterungen naturgemäß auf Krankengeschichten stützen, die in der Literatur niedergelegt sind, aber wo diese nicht ausreicht oder dem betreffenden Autor nicht klar genug sind, muß er sich bequemen, eigene Fälle anzuführen, auch wenn er in Gefahr ist, nur ›Bekanntes‹ mitzuteilen. ›Bekannt‹ ist, was in der Literatur niedergelegt ist, alles andere ist unbekannt, mag es auch durch persönliche Aussprache noch so große Verbreitung haben.47

Die Krankengeschichte sollte also eine Umschrift der Krankenakte leisten, ohne eine Vorselektion der Daten und Beobachtungen vorzunehmen. Die Erzählung des Psychiaters legte nur mehr eine transparente Folie über die Akte und gewährte dem Leser eine Akteneinsicht. Die Archivfunktion kann jederzeit, aber sie muss nicht immer ausgeübt werden. Jaspers entwickelte im Zuge der Erweiterung der Krankengeschichte seine sogenannte »biographische Methode«. Das Erzählen proji*zierte die Ereignisse und Daten einer Erkrankung insgesamt auf einen Lebenslauf, so dass in der Nachträglichkeit eine hermeneutische Perspektive entstand, aus der heraus die Genese und der Verlauf einer Erkrankung als ein sinnvolles Geschehen gedeutet und verstanden werden konnten. Die biographische Methode erzeugte eine Übereinstimmung von Lebenslauf und Erkrankung; sie veranschaulichte die Krankheit als eine Biographie, indem sie eine lineare und sequentielle Ordnung herstellte; sie ordnete die Krankengeschichte in sich auf eine hierarchische Weise; und sie formte die Krankheit zu einer sinntragenden Einheit. Jaspers etablierte die hermeneutische Perspektive der »verstehenden Psychiatrie«, indem er das Erzählen mit dem Archiv verschränkte. Anders und allgemeiner formuliert: Die Erzählung referierte nicht mehr nur auf eine Akte, an der sie überprüft werden konnte, sondern war auf eine Gesamtheit von Erzählungen bezogen, die in

46 47

Jaspers, »Eifersuchtswahn«, S. 568. Ebd.

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einem virtuellen48 Archiv der Psychiatrie bevorratet war. Auch wenn die Psychiater ihre Akten nicht außer Haus gaben, gewährten die publizierten Fallgeschichten so weit Einblick in die Akten, dass die scientific community den Fall nachvollziehen konnte, als ob sie selbst die Akte vorliegen hätte. Das Erzählen gewann im Rekurs auf das Archiv eine Validität und Reliabilität, die seine störenden Effekte kompensierten: Das Erzählen stand der propositionalen Aussage nicht mehr entgegen, sondern ergänzte sie mit seiner spezifischen Aussageweise. Das psychiatrische Archiv konnte nunmehr auch literarische Texte einbeziehen. Die Psychiatrie ging in der biographischen Methode von Beobachtungen erster Ordnung auf Beobachtungen zweiter Ordnung über und nivellierte darüber den Unterschied, den die verschiedenen Rahmungen von fiktionalen und faktographischen Textsorten erzeugten: Man konnte in literarischen Texten, die ihres fiktionalen Status entkleidet wurden, ebenso valide Daten und reliable Beobachtungen finden wie in der Klinik selbst. Jaspers konnte seinen Beitrag zur Theorie der Schizophrenie dementsprechend in Pathographien formulieren, die Strindberg, van Gogh und Hölderlin gewidmet waren.49 Es wurde uninteressant, zwischen der Wirklichkeit eines Lebenslaufs und den Beschreibungen dieser Wirklichkeit in einer Biographie ontologisch zu unterscheiden. Jede Fallgeschichte konnte ungeachtet ihres referentiellen Bezugs in das virtuelle Archiv der Psychiatrie eingehen. In diesem virtuellen Archiv der Psychiatrie wurde eine Akte niemals geschlossen: Die Geschichte der Psychiatrie wurde zu einem Bestandteil der Psychiatrie selbst. Jaspers etablierte mit Hilfe seines archivalischen Erzählens zwei psychiatrische Begriffe – Persönlichkeit und Prozess –, welche die klinischen Phänomene von ihrer Ätiologie entkoppeln und die Psychopathologie vom Modell der Organpathologie ablösen sollten: »Es ist ein großer Unterschied von der übrigen Medizin, daß der Psychiater sich immer mit dem ganzen vergangenen Leben in allen Beziehungen persönlicher und sozialer Natur beschäftigt, während der somatische Mediziner es meistens mit einer vorübergehenden Krankheit, nicht mit der ganzen Persönlichkeit zu tun hat«.50 Die Klinik war an eine Phänomenologie der Störungen angeschmiedet. »Die Hoffnung«, so resümiert Jaspers die ätiologischen Debatten, »gewissermaßen den Hirnanatomen vorzuarbeiten, hat sich nicht erfüllt«.51 Und umgekehrt konnte von den Störungen und Schädigungen des Gehirns nicht auf die effektuierten Phänomene geschlossen werden. Die ätiologische Lücke in der 48

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Kaum ein medienwissenschaftlicher Begriff ist so sehr heruntergekommen wie der Begriff der Virtualität. Vermutlich ist ein Grund hierfür seine geläufige, aber falsche Bestimmung als Mögliches, das der Wirklichkeit entgegengesetzt sei. Siehe Matthias Bormuth, »Kunst und Krankheit – Karl Jaspers als Pathograph«, in: Reinhard Schulz, Giandomenico Bonanni, Matthias Bormuth (Hg.), »Wahrheit ist, was uns verbindet«. Karl Jaspers’ Kunst zu philosophieren, Göttingen 2009, S. 86–103. Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen, Berlin 1913, S. 21. Ebd., S. 261.

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Psychopathologie war keine vorläufig noch unbekannte Ursache, sondern bezeichnete eine Grenze der Erkenntnis, die von der Psychopathologie zumeist in dem Sprachbild gefasst wurde, die Krankheit sei ein unbekannter Kontinent, von dessen gegenüberliegenden Ufern – also in Klinik und Labor – zwei Expeditionen ins Landesinnere aufgebrochen seien, ohne Aussicht, sich jemals zu treffen: Obwohl ätiologische Hypothesen fragwürdig sind, sind sie nicht nutzlos, weil sie die Expeditionen auf einem bestimmten Kurs halten.52 Der Begriff der Persönlichkeit, wie ihn die meisten Psychiater verwendeten, bezeichnete die psychische Kehrseite des Organismus-Begriffs und die Entfaltung einer Anlage: Die psychische Erkrankung war die Störung oder die Dissoziation dieser Persönlichkeit. Der Vergleich von Biographien mit Biographien erbrachte jedoch, dass auch psychopathische Persönlichkeiten individuell sind: Die Krankheit gehört vollständig dem Individuum. Sie ist Teil seiner Persönlichkeit und hat in dieser ihren Sitz und Ausdruck. Die Persönlichkeit ist ihr Milieu, in das sie eindringt und in dem sie sich entwickelt. Die verstehende Psychiatrie senkte die epistemologische Schwelle der Krankheit ab: Sie verlief nunmehr mitten durch das Individuum.53 Man konnte Differentialdiagnosen statt absoluter Diagnosen erstellen, die einzig auf gesund oder krank erkannten; man beschrieb komplexe Mischformen der Symptome statt klarer Symptomatiken; und man präsentierte Patienten als sprechende Subjekte, die nicht mehr nur unter dem psychiatrischen Blick schwiegen und durch ihren Körper antworteten. Eugen Bleuler reformulierte 1911 die klinische Einheit der Dementia praecox und ersetzte sie durch die Einheit der »Gruppe der Schizophrenien«. Die drei Konzepte, die den Kern der neuen Schizophrenietheorie ausmachten, waren Dissoziation, Autismus und In-der-Welt-sein. Kraepelin hatte mit Dissoziation die phänomenale Seite der Störungen bezeichnet; Eugen Bleuler fasste nun den Bruch mit der Realität als Autismus; und Ludwig Binswanger stellte dann die Subjektivität des schizophrenen Erlebens heraus, das eine je eigene Welt ausbildet. Diese Konzepte formulierten keine ätiologischen Annahmen und konnten sowohl auf die Seite von psychodynamischen als auch biologischen Modellen geschlagen werden, obwohl die Psychiater in der Mehrzahl dazu neigten, die Ursachen der Störungen weiterhin im Gehirn zu vermuten. Jaspers definierte die Schizophrenie als einen Prozess, der einer Persönlichkeit aufgepfropft werde. Der Prozess markierte die Grenze des Verstehens: »Wo uns das einheitliche Erfassen der Entwicklung einer Persönlichkeit nicht gelingt, da statuieren wir etwas Neues, etwas ihrer ursprünglichen Anlage Heterogenes, etwas, das aus ihrer Entwicklung herausfällt, das nicht Entwicklung, sondern Prozeß ist«.54 Eine in der Haft ausgelöste Psychose war noch kein Prozess: »Hier haben wir etwas 52 53 54

Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Berlin u. a. 91973, S. 8. Siehe hierzu Temkin, »Health and Disease«, S. 419–440. Jaspers, »Eifersuchtswahn«, S. 606.

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vor uns, was der Persönlichkeitsentwicklung als etwas Fremdes ›aufgepfropft‹ wird, ohne daß wir von einem ›Prozeß‹ reden. Wir nennen den Vorgang je nachdem einen ›Anfall‹ oder eine ›Reaktion‹«.55 Die »psychischen Krankheitsvorgänge« des Prozesses führen hingegen zu »einer dauernden unheilbaren Veränderung«: »Es muß der Persönlichkeit etwas Heterogenes aufgepfropft sein, das sie nicht wieder los wird«.56 Der Prozess beginnt schleichend, lange bevor der Arzt konsultiert wird, und, vor allem in seinen Anfängen, »ist es schwer, das Gesunde vom Kranken zu trennen. [...] Dem Laien fallen solche Kranke überhaupt nicht als verrückt auf, wie sie ja auch noch viel später, wenn die Krankheit unverkennbar geworden ist, vielen noch als gesund gelten«.57 Die Schizophrenie war kein allgemeines Merkmal der Persönlichkeit. Vielmehr unterbrach sich die Persönlichkeit selbst in ihrer Kontinuität. Der Prozess war kein Teil der Persönlichkeit, der mit dem Ausbruch der Krankheit aus seiner Latenz hervortrat und sich ins Krankhafte steigerte; er bezeichnete kein Derivat des Ich, sondern den Eintritt in eine fremde Ordnung; er war keine bloße Veränderung der Subjektivität, sondern deren radikale Umwandlung. Das archivalische Erzählen schrieb in das Kontinuum des Lebens einen Riss ein. Es erzeugte ein Werden, in dem das Auftauchen einer Erkrankung den Sinn eines immer schon Dagewesenen annahm oder eines unwiderruflichen Ereignisses annahm. Der Riss konnte in einer hereditären Disposition bestehen oder auch nur in einer unspezifischen Anlage, die irgendwann plötzlich ausbrach oder einen allmählichen Zerfall in Gang setzte. Oder der Riss war nur die Oberfläche eines anderen, unsichtbaren Risses, der die Spezies in verschiedene Rassen unterteilte. Jedenfalls gab sich der Riss im Leben selbst durch Vererbung und Selektion weiter und verursachte Verfall, Degeneration und Entartung. Die Psychiatrie ist eine Wissenschaft, die ein schwach ausgeprägtes epistemologisches Profil besitzt, das im Schatten von Machtbeziehungen verschwimmt. Die Grenzen der Psychiatrie sind keineswegs klar geschnitten. Das betrifft zunächst die wissenschaftliche Aussage, die in einem heterogenen Komplex von Praktiken und Verfahren getroffen werden, der aber im Wahrheitskriterium der Wissenschaft abgeschattet werden muss. Mitten in der Wissenschaft liegt ein Gebiet, das Michel Foucault als »Wissen« von »Wissenschaft« unterschieden hat und das nicht einfach durch Purifizierung und Rationalisierung zum wissenschaftlichen Wissen erhoben wird.58 Die historische Epistemologie hat diese Unterscheidung zwischen Wissen und Wissenschaft in mehrfacher Hinsicht entwickelt.59 Sie hat den Begriff des Wissens aus seiner wissenschaftstheoretischen Umklammerung herausgelöst und seine

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Ebd., 607. Ebd. Karl Jaspers, Strindberg und van Gogh. Versuch einer vergleichenden pathographischen Analyse (1922), Berlin 1998, S. 67. Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 253-279. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007.

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Fundierung in Aussagenlogik, Tatsachenbegriff und Gegenstandsbezug hinterfragt; sie hat im gesicherten Referenten und der selbstverständlichen Gegebenheit der Phänomene die Herstellungsweisen, Prozeduren und Verfahren entziffert, welche Gegenstände und Phänomene allererst erzeugen; sie hat die historische Entwicklung des Wissens nicht mehr nur als Geschichte fortschreitender Rationalisierung und Durchsetzung szientifischer Standards geschrieben, sondern vor einer rückwärtsgewandten Projektion des aktuellen Wissenschaftsbegriffs gewarnt; und sie hat die kollektiven Interessen und Normierungen aufgezeigt, welche die wissenschaftliche Tätigkeit begründen und prägen. Was die historische Epistemologie auf verschiedenen Gebieten des Wissens demonstrieren konnte, gilt auch für den Wahnsinn. Die Psychiatrie folgt in ihren Aussagen einem Ensemble von Spielregeln, die sich mit den Spielregeln, die ein Wissen vom Wahnsinn regeln, zwar überlagern, aber nicht mit ihnen zusammenfallen: Die Bedingungen, unter denen der Wahnsinn zu einem Objekt des Wissens wird, überschreiten die Grenzen der Psychiatrie. Wenn die Analyse des psychiatrischen Diskurses und seines begrifflichen Materials zur Analyse von Anwendungsfeldern und psychiatrischen Praktiken übergeht, stößt sie sogleich auf ein Geflecht von Machtbeziehungen.60 Was auf den Anwendungsfeldern psychiatrischer Begriffe sichtbar wird, ist dem Diskurs keineswegs äußerlich. Die psychiatrische Klinik entstammt nicht der Medizin: Seit dem 18. Jahrhundert übt sie eine polizeiliche Funktion aus, indem sie einschließt, wegsperrt und verwaltet: Die Erzeugung der Norm war das Korrelat von deren Anwendung.

V. In der Psychiatrie der Gegenwart scheint die Archivfunktion eine zentrale Stellung einzunehmen. Wenn auch eine Untersuchung der Archivpraxis noch aussteht und unklar ist, woraus das aktuell in Gebrauch befindliche Archiv besteht, wie es geordnet ist und wer auf welche Teile Zugriff hat, ist die Stellung der Archivfunktion unübersehbar. Welcher Zusammenhang zwischen der Speicherung und der Möglichkeit des Rekurses auf Daten und dem Wandel zentraler psychiatrischer Konzepte besteht, ist eine offene Frage. Jedenfalls spricht im 21. Jahrhundert die Psychiatrie nicht mehr von Krankheit oder Erkrankung. Die Weltgesundheitsorganisation und die American Psychiatric Association haben sich darauf geeinigt, die alten Begriffe aufzugeben. In der von der Diagnosekommission der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde im Auftrag der WHO herausgegebenen deutschen Bearbeitung der 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) heißt es: »Konzeptuell wird im vorliegenden Kapitel V ver60

Vgl. Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collège de France 1973–74, hg. von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2005; ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977.

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sucht, zumindest teilweise einem ›atheoretischen‹ Ansatz folgend, auf bisherige Begriffsbildungen wie etwa Neurose, Psychose und Endogenität zu verzichten und diese durch Einführung einer deskriptiven, an diagnostischen Kriterien orientierten Klassifikation zu ersetzen. So ersetzt der Begriff der Störung den Begriff der Krankheit weitgehend«.61 Der neopositivistische Pragmatismus, der die operationalisierte Diagnostik anleitet, verbietet für zahlreiche Störungen den Schluss von psychischen Phänomenen auf ihre möglichen Ursachen: Die Deskription der Störungen soll so weit wie möglich von theoretischen Annahmen über ihre Ätiologie und Therapie freigehalten werden. Die operationalisierte Diagnostik ist der Saum einer Psychiatrie, die unlängst vergangen ist. Sie setzt zwar das quantitative und statistische Forschungsprogramm der modernen, naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie fort, und in der Klassifikation ist unschwer eine Reformulierung älterer klinischer Einheiten zu erkennen.62 Dennoch unterbricht die operationalisierte Diagnostik die Kontinuität der Psychiatriegeschichte. Sie kehrt, erstens, den historischen Richtungssinn um und erzeugt ein neues Bild der Geschichte der Psychiatrie. Sie sortiert die Psychiatriegeschichte nach überholten und bestätigten Erkenntnissen, die noch immer aktuell, weil wirksam sind. Zweitens unternimmt die ICD eine pragmatische Ordnung des Empirischen, in der keineswegs allein psychiatrisch-klinische Gesichtspunkte ausschlaggebend sind.63 Zwar werden in der ICD die psychischen Störungen nach wissenschaftlichem Kenntnisstand und den Erfordernissen der klinischen Praxis geordnet. Klinische Einheiten sind nur mehr historische Begriffe, deren Geschichte weder in einer Geschichte der wissenschaftlichen Terminologie aufgeht noch auf eine Ideengeschichte einzugrenzen ist. Drittens lenkt die ICD den Blick auf die Archivfunktion in der Psychiatrie. Die Beschreibung und Diagnose von psychischen Störungen erfolgt auf der Grundlage einer vollständigen Erfassung, Dokumentation und statistischen Durchdringung von Daten. Der Codierschlüssel in der ICD, die Codierungen der psychischen Störungen und das, was man sich als ihre Entsprechungen in der Realität vorstellt, befinden sich in ständiger Wandlung. In der unablässigen Rekursion auf einen fluktuierenden Datenbestand emergieren Muster, die Trends ausbilden und sich in Traditionen und Moden festsetzen.

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Horst Dilling, Werner Mombour, Martin H. Schmidt, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, Bern 42004. Siehe German E. Berrios, The history of mental symptoms. Descriptive psychopathology since the nineteenth century, Cambridge 1996. Vgl. Andrea Dörries, Jochen Vollmann, »Medizinische und ethische Probleme der Klassifikation psychischer Störungen. Dargestellt am Beispiel des ›Würzburger Schlüssels‹ von 1933«, in: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie 65 (1977), S. 550–554.

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Der Messieianismus und sein Preis Daniel Tyradellis

»There is a crack in everything, that’s how the light gets in.« (Leonard Cohen, 1992)

I. Konjunkturen Der folgende Text setzt eine wissenschaftliche Konjunktur mit einem psychischen Krankheitsbild in Beziehung. Sein Interesse gilt der Wendung zu Ding und Detail in den verschiedenen Kulturwissenschaften und Epistemologien. In Frage steht das mit dieser Wendung verbundene Versprechen – der Genauigkeit, der Erkenntnis, des Fortschritts. Dem Archiv kommt in dieser Konstellation eine besondere Bedeutung als Hort des gehegten Dings und räumliche Definition der zu analysierenden Detailfülle zu. Das Archiv verspricht als sanktioniertes und abgeschlossenes Forschungsfeld gleichwohl eine Öffnung und damit Amplifizierung oder Präzisierung durch die dichte Beschreibung des jeweiligen Dings oder Dingzusammenhangs. Die Grenze eines Forschungsgegenstands ergibt sich somit nicht primär aus dem Ding (das Atom, die Mikrobe, der Schatz der Inka) und auch nicht einer wissenschaftlichen Disziplin (der Physik, der Biologie, der Archäologie), sondern aus einem real existierenden Ort, der Daten zu den jeweiligen Dingen versammelt, diese spezifisch verschaltet und verwaltet und darin selbst Ding ist. Polemischer Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist dabei die zeitliche Koinzidenz eines gehäuften Auftretens von so genannten Messies1 und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Inhalten von Archiven nicht nur als Quelle oder Beleg, sondern als eigener Gegenstand von Forschung. Gefragt wird nach der Motivation der jeweiligen Praktiken, im einen Falle gedeutet als Symptom einer Erkrankung, im anderen Falle als notwendiger Schritt im Gewande wissenschaftlicher Redlichkeit. Der Messie, so die Vermutung, stellt nicht vordringlich eine pathom*orphe Kritik an der Konsumgesellschaft dar, sondern verkörpert viel mehr eine tiefer liegende Problematik, die auch die Frage nach der Geschichtlichkeit, dem Antrieb und der Form von Wissenschaft als solcher stellt.2 Es handelt sich also 1

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Von engl. »to mess«: verschmutzen, schusselig, unordentlich sein. Zur genauen Definition vgl. weiter unten. Bislang gibt es nur eine Auseinandersetzung mit dem Messie aus philosophischer und kulturwissenschaftlicher Sicht: Joachim Prandstetter, »Der Messie immer schon in uns – Kreuz/Quer zur

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um einen Beitrag zur Psychoanalyse als Seinsgeschichte abendländischer Wissenschaft. Lacans Frage: »Muß gesagt werden, daß wir zur Behandlung des Wissenstriebs andere Arten von Wissen als das der Wissenschaft kennen müssen?«3 ist für diese Argumentation von äußerstem Belang. Sein Vortrag Die Wissenschaft und die Wahrheit von 1966 bildet die Folie des vorliegenden Textes. Dieser Vortrag scheint umso geeigneter, als er von einem der hier behandelten Wissenschaftshistoriker ins Deutsche übertragen worden ist und bis heute eine methodische Referenz für ihn darstellt. So lassen sich ein psychologisch begründetes Krankheitsbild und die Legitimation einer wissenschaftlich-methodischen Praxis korrelieren: Was bedeutet es, wenn ein Wissenschaftler, in diesem Fall ein Wissenschaftshistoriker, sich auf psychoanalytische Argumentationsfiguren beruft, und insbesondere auf einen Text, dessen Thema der Status von Psychoanalyse als Wissenschaft und allgemeiner der Wissenstrieb des Wissenschaftlers ist? Inwiefern vermag dies etwas am Begriff des Wissenschaftlichen selbst zu ändern? Dass psychische Krankheiten Spiegelbilder und Interpretationen gesellschaftlicher Kräftefelder sein können (und damit eine sonst womöglich bis dahin unerkannte Form von Gewalt sichtbar machen), ist auch in naturwissenschaftlich und näherhin pharmakologisch geprägten Zeiten einigermaßen unumstritten. Das bislang nicht präzise definierte Krankheitsbild des Messies kann in diesem Sinne als Kreuzungspunkt diverser Konflikte der Spätmoderne verstanden werden: sei es als gelebte Kritik an der Konsum- und das heißt Wegwerfgesellschaft,4 als Symptom ubiquitärer Datenakkumulation5 mit unklarer Zielsetzung oder – dies schon diagnostisch – als Erscheinungsform einer Desozialisierung und elementaren Bindungsstörung. Das leitende Interesse dieses Textes ist eingeschränkter und fragt danach, ob wissenschaftliche Theorien ihrerseits Spiegelungen gesellschaftlicher Kräftefelder sind, verbunden einerseits durch die Psyche des einzelnen Wissen-

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Kultur oder jenseits des Gegenstandes«, in: Alfred Pritz et al. (Hg.), Das Messie-Syndrom. Phänomen, Diagnostik, Therapie und Kulturgeschichte des pathologischen Sammelns, Wien, New York 2009, S. 221–296. Der vorliegende Text beansprucht mehr und weniger. Weniger, weil die bislang nicht klar definierte Krankheitsform gerade nicht auf ihre aktuellen gesellschaftlichen Hintergründe hin analysiert oder in dieser Hinsicht ätiologisch begründet werden soll; mehr, weil er den Messie als Symptom eines wissenschaftlich-gesellschaftlichen Prozesses ansieht und eine Antwort auf die Frage nach dem Antrieb einer bestimmten Form von Wissenschaft geben will. Jacques Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, in: ders., Schriften II, hg. von Norbert Haas, Weinheim, Berlin 1991, S. 231–257, hier S. 247. »Als eine Gegenwelt zur derzeitigen herrschenden Konsumwelt ist sie [die Messie-Realität, D.T.] gewissermaßen eine Parodie auf den Konsumwahn unserer gegenwärtigen Kultur« (Alfred Pritz, »Das Messie-Syndrom – zur Entstehungsgeschichte einer psychischen Störung«, in: ders. [Hg.], Das Messie-Syndrom, S. 6.). Paul Feigelfeld hat in seinem Text »Darf ich ihnen meine Sammlung zeigen?« auf den Begriff otaku hingewiesen, mit dem in Japan Menschen bezeichnet werden, die sich »reiner Informationsverarbeitung und Speicherung [widmen] – ohne tieferen Sinn« (INDIE. The Independent Style Magazine 13 [2006/07], S. 121).

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schaftlers, andererseits durch die Form der Sublimierung, die Wissenschaft als solche verkörpert. Hierfür bietet sich eine psychoanalytisch ansetzende Kulturwissenschaft an: »Die Psychoanalyse ist immer ein individuelles und kollektives Faktum zugleich; sie ist, wie Freud im ersten Satz von Massenpsychologie und Ich-Analyse schreibt, eine ›Kulturwissenschaft‹«.6

II. Dinge im Archiv Es versteht sich nicht von selbst, den Messie zu einem Argument in der Frage nach der Gewaltförmigkeit von Archiven zu machen. Dass die mit Dingen (vorrangig Papieren aller Art) angefüllten Behausungen der Messies überhaupt archivartig sind, mag als eine etwas gewollte Metapher erscheinen. Viel mehr verbindet man mit der Krankheit – auch dank der Medien, die auf solche sprechenden Darstellungen angewiesen sind – Bilder chaotischer, schmutziger und völlig überfüllter Räume, in denen der Messie haust. Die Krankheit (die immer auch Symptom eines unzulänglichen Versuchs einer Selbstheilung, Abschirmung vor dem, was die Seele zerrüttet, ist) besteht jedoch gerade in der Errichtung archivartiger Behausungen, in ›Stanzen‹.7 Tatsächlich verfügt der Messie über ein sehr komplexes Sortiersystem, dessen Struktur jedoch wesentlich an die Person dieses einen Archivars gebunden ist. Nur der Messie selbst weiß, wo etwas zu finden ist und warum. »Echte« Archive hingegen sind in unserer Vorstellung vielleicht staubig, aber grundsätzlich sauber – soweit das zu archivierende Material und die klimatischen sowie ökonomischen Randbedingungen es erlauben. Ihre Ordnung folgt entweder internationalen Klassifizierungsprinzipien oder orientiert sich zumindest an nachvollziehbaren, in der Regel alphanumerischen Codes. Dennoch spricht einiges dafür, den Messie mit der aktuellen Interpretation der ›neuen Archivare‹ im Anschluss an Deleuze und Foucault8 in Beziehung zu setzen: Das Heim des Messies materialisiert und verräumlicht einen psychoökonomischen Grundkonflikt des Unbewussten, und das Archiv bildet seinerseits und ganz unmetaphorisch ein Unbewusstes der Gesellschaft. Die Gewalt des offiziellen Archivs besteht darin, aufgrund der Ordnungs- und Sortierverfahren sowie ihren gefilterten Ein- und Ausgängen Fakten und Präskriptionen zu schaffen, die Machtdifferenzen produzieren und legitimieren. Sie bestimmen die Auswahl der zu archivie6

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Antonello Sciacchitano, Unendliche Subversion. Die wissenschaftlichen Ursprünge der Psychoanalyse und die psychoanalytischen Widerstände gegen die Wissenschaft, Wien 2009, S. 56. Vgl. Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Zürich, Berlin 2005, S. 11. Agambens Parallelisierung (S. 45 u. a.) theologischer Argumentation mit psychoanalytischen Ansätzen deutet die Möglichkeit einer umfassenderen Analyse des hier nur angerissenen Zusammenhangs an. Vgl. Gilles Deleuze, »Ein neuer Archivar«, in: ders., Michel Foucault, Der Faden ist gerissen, Berlin 1977, S. 59–85.

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renden Elemente, deren Kombinatorik von den jeweiligen Praktiken und ggfs. Theorien vorgegeben wird. Die Sortierung erfolgt oftmals nach bereits in anderen (pseudo-)wissenschaftlichen Bereichen existierenden Klassifikationssystemen, die auf die räumliche wie logische Struktur des Archivs übertragen werden.9 Einen Extrem- und damit Wendepunkt kann man diesbezüglich im Deutschen Idealismus sehen, dessen Denken sich als Strukturans eines ortlosen Universalarchivs nach Vorbild der deutschen Sprache verstand, in dem die in ihr vorhandenen Kategorien hierarchisch auf die Welt angewendet worden sind. Top down konnte es entsprechend kein einzelnes subalternes Glied geben, das die übergeordneten Kategorien in Frage zu stellen in der Lage gewesen wäre.10 Auf diese Weise gelang es, das Medium Buch und das heißt die Schrift (und nicht etwa die Bibel) zum alleinigen Leitmedium für Wahrheit zu installieren. Aus dieser auf Dauer gestellten historischen Momentaufnahme resultiert ein wesentlicher Teil akademisch-philosophischer Begründungsrituale bis heute – eine Geste, die mit Philosophie allerdings wenig zu tun hat. Mit der Weiterentwicklung symbolischer Systeme wie Logik und Mathematik sowie dem Siegeszug technischer Medien änderte sich dies im 19. Jahrhundert grundlegend. Der sprachliche Begriff trat gegenüber anderen Aufhebungsprozeduren in den Hintergrund. Die Archive des Wissens über den Menschen überschritten die Grenzen des Buches und wurden in immer größerem Ausmaß zu Listen, Diagrammen, Formeln und – Naturaliensammlungen: »Zahl, Bild, Abguss, Modell und Präparat bildeten die zentralen Mittel zur Archivierung des Menschen. [...] [W]ie in keinem anderen Jahrhundert zuvor wurde der Mensch gespeichert und dingfest gemacht.«11 Dingfest ist das Stichwort. Der Begriff als letzte Referenz von Wahrheit hat ausgedient. An seine Stelle ist einerseits eine Polymorphie von Notationsweisen und andererseits eine unerhörte Dingfülle getreten, deren vollständige Beschreibung (und damit ein Ausschöpfen all ihrer Bedeutungen in der Vergangenheit und auf die Zukunft hin12) eine Unmöglichkeit darstellt. Der Preis dafür ist ein stetes 9

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Vgl. hierzu historisch Jochen Brüning, »Der Teil und das Ganze. Motive einer Ausstellung«, in: Horst Bredekamp, Jochen Brüning, Cornelia Weber (Hg.), Theater der Natur und Kunst. Theatrum naturae et artis. Wunderkammern des Wissens, Berlin 2000, S. 20–30. Nicht zufällig gelang das bei Hegel nur auf der Basis der Familie, jenem genetischen Ort von Übertragung und allen damit verbundenen möglichen Bindungsstörungen. Vgl. hierzu Jacques Derrida, Glas, München 2006. Anke te Heesen, »Das Archiv. Die Inventarisierung des Menschen«, in: Nicola Lepp et al. (Hg.), Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 1999, S. 115 f. Die wesentlich unabgeschlossene Bedeutung auf eine offene Zukunft hin teilt das Ding im Archiv mit dem Original und der »Aufgabe des Übersetzers« im Sinne Benjamins. Das Original ist nicht, sondern wird im Prozess seiner Übersetzungen. Hier wie dort steht die Rolle und Verantwortung des handelnden Subjekts im Mittelpunkt: sei es als Übersetzer oder ›neuer Archivar‹ (vgl. hierzu Jacques Derrida, »Der Turmbau zu Babel«, in: Alfred Hirsch [Hg.], Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997, S. 119–165, hier S. 145). Während aber letztere ihr Ethos im Verschwinden der eigenen Spur zugunsten der zu erforschenden Gemengelage finden, hat der Über-

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Wuchern der Archivalien, und ein Ende dieses Prozesses ist auch im Zeitalter der Digitalisierung nicht abzusehen. Da bleibt nur, aus der Not eine nihilistische Tugend zu machen. Sammelwut führt jedoch nicht von selbst zu einem präskriptiven Resultat. Ein richtungsloses Sammeln produziert keinen Mehrwert und braucht ein Versprechen, einen Messianismus. Was etwas bedeutet, ob eine Anstrengung sich lohnt, lässt sich nur in einem abgegrenzten Zeitrahmen oder vom Ende her bestimmen. Durch die Erfahrungen der Totalitarismen diskreditiert und als Kollektivfigur im Nihilismus ohnehin verdächtig, hat sich diese Sichtweise jedoch weitgehend aus dem wissenschaftlichen Denken verabschiedet. Das Ethos des historischen Wissenschaftlers besteht dementsprechend heute eher in der Enthaltung von großen Theorien und Thesen über den Menschen. Stattdessen steht der Versuch, die Dinge so kontextuell und dicht wie möglich zu beschreiben, hoch im Kurs. Aus ihm soll sich der Fortschritt hin zu einer irgendwie gearteten besseren Welt ergeben. Geschichtlich ist dabei weiterhin der Preis zu berücksichtigen, den eine Kultur oder Gesellschaft und das heißt letztlich immer der einzelne für eine solche Haltung zu zahlen hat. Auch darum geht es ja der Psychoanalyse um »das subjektive Drama, das jede dieser Krisen kostet. Dieses Drama ist das Drama des Wissenschaftlers«.13 Er ist der sichtbar(st)e Schauplatz dieser Kosten, die sich psychoökonomisch als Krise, Krankheit oder auch kleine Gesundheit im Sinne Nietzsches äußern können. Die Wendung zum Archiv in den letzten 30 Jahren und im Gefolge Foucaults steht in dieser Tradition und verfolgt eine Strategie, die sich dem realen Einzelarchiv widmet und dem Versuch, aus ihm das Partikulare und die Abhängigkeit seiner Einheit von Entscheidungen herauszuschälen, die sich nicht auf Wissen und Wahrheit, sondern auf Macht, Willkür oder Zufall zurückführen lassen. Einer solchen bottom up-Analyse oder Genealogie geht es auch darum, den Evidenzen der Sprache und der visuellen Vorbildfunktion des Mesokosmos entgegenzuwirken und damit den Diskurs in Richtung »Ding« (sei es haptisch, technisch oder epistemisch gegeben) zu verrücken. In dieser Geste liegt offenbar eine Motivation aktueller Wissenschaftsgeschichte und Diskursanalyse. Sie knüpft damit – auch – an Lacans Diagnose an: Die Wissenschaft, so schreibt er in dem hier als Referenz gewählten Text, »vergisst, einmal konstituiert, die Peripetien, aus denen sie hervorgegangen ist, also eine Dimension der Wahrheit, die die Psychoanalyse in hohem Maße in Anwendung bringt«.14 Vermutlich hieran knüpft der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger an, wenn er seine eigene Arbeit mit dem

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setzer ein Bewusstsein von der Unausweichlichkeit und damit seiner positiven Aufgabe eines Eingreifens, das sich und den Text verwandelt. Umgekehrt weist die Utopie des Verschwindens in seinem Gegenstand Züge des Deleuze’schen Gefüges auf, von dem jedoch eine wissenschaftliche Form schwer vorstellbar ist. Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, S. 248 f. Ebd., S. 248.

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Ansatz Lacans in Beziehung setzt. Wir werden sehen, inwiefern das eine symptomatische Fehllektüre ist. Zurück zum Messie: Dieser erhebt in seinem Tun keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, obwohl er große Anstrengungen darauf verwendet, ein Archiv anzulegen. Aber archiviert der Messie eigentlich? Oder sammelt er? Bewegt man sich im Feld des Pathologischen, tut eine Differenzierung Not. Klinisch wird Sammeln verstanden als Zwangsstörung, in der es darum geht, a) etwas unbedingt behalten zu wollen und b) Vollständigkeit anzustreben. Der Wert des einzelnen Objekts ist dabei ein doppelter: als Unikat wie als Teil der Serie. Das Ganze trägt die Teile, gibt das Raster vor und ist in diesem Sinne Selbstzweck. Es dient der Einheit und legitimiert sich von ihr her. Insofern knüpft das Sammeln noch an die idealistische Geste des 19. Jahrhundert an: die vollständige Subsummierung aller Einzelfälle unter einen Begriff. Beim Archivieren dagegen geht es nicht um einen Selbstzweck (die Pathologien der Archivare, die ihr Archiv als Sammlung missverstehen, einmal ausgenommen); die Objekte als solche sind kaum von Belang und erlangen ihre Bedeutung nur als Dokument für einen symbolischen Zusammenhang. Sie sind zwar materiell, dies aber nur notgedrungen. Ihr vorrangiger Zweck ist die Herstellung und Erhaltung einer Einheit, die etwas anderes ist als sie selbst. Genau darin besteht der Unterschied: Ein Sammler sammelt etwas, ein Messie sammelt potentiell alles.15 Dem Sammler geht es um eine symbolische, dem Messie um eine imaginäre Funktion. Der Sammlung ist ihr Telos immanent: Sie will auf sich selbst bezogen vollständig sein. Das Messie-Archiv ist dagegen strikt fremdbezogen – es kann erst vollständig (und damit hinfällig) werden durch einen verlässlichen Bezug zu einem (menschlichen) Außen. Dieser Zusammenhang von innen und außen, Kontingenz und Sicherheit ist das ganze Problem. Wie beim Archiv lässt sich auch die Einheit einer Seele dadurch definieren, über klar gefilterte Ein- und Ausgänge und verlässliche Ordnungs- und Sortierverfahren zu verfügen. Gelingt ersteres nicht recht, spricht man von Psychosen; werden letztere dysfunktional, handelt es sich um Neurosen. Was dabei die schöne Seele von der weniger ansehnlichen unterscheidet, ist die Fähigkeit, die eigene Struktur bewusst und nach moralischen Kriterien zu verändern. Ob das tatsächlich möglich ist und nicht selbst wiederum von einer ontogenetisch invarianten Struktur (»meine Familie«) abhängt, ist umstritten. »Die Position des Psychoanalytikers lässt [hier, D.T.] keine Ausflucht, schließt sie doch die Zärtlichkeit der schönen Seele aus«.16 Umso mehr gilt, dass »die Frage nach der Konzeptualisierung der treibenden Kräfte, die durch den Messie zur Entfaltung kommen, uns [...] die Notwendigkeit einer analogen Destruktion der Dichotomisierung von individueller Symptomatik versus gesellschaftlichem Phänomen, von Krankheit/Verhaltensauffälligkeit versus 15

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Oder anders ausgedrückt: Der Messie sammelt nicht, er ist ein »Proto-Sammler« (Prandstetter, »Der Messie immer schon in uns«, S. 247). Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, S. 237.

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Gesundheit/Normalität vor Augen führt«.17 Das Tun der Archivare versteht sich nicht von selbst und erklärt sich nicht allein aus ihrer manifesten Funktion, da diese selbst als Grund nicht taugt.

III. Disposophobia Wie angedeutet, ist der Messie ein vergleichsweise junger Protagonist auf der Bühne psychischer Erkrankungen. Während das Messietum zunächst eher als Modeerscheinung angesehen wurde und als etwas esoterisches Forschungsfeld galt, vergrößert sich seit ca. fünf Jahren die wissenschaftliche Gemeinde stetig.18 Seine erste klinische Erwähnung wird gelegentlich mit dem Jahr 1947 angesetzt, als die Brüder Collyer tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurden, inmitten von 100 Tonnen Müll.19 Sie waren nicht nur zwanghafte Sammler, sondern offenbar auch unfähig gewesen, etwas wegzuwerfen. Ihre Wohnung glich denen, die man heute von Messies aus den Medien kennt. Der Begriff Messie ist erst seit 25 Jahren gebräuchlich und wurde als Autonym von Sandra Felton im Zuge der Selbsthilfe etabliert. Stärker in wissenschaftlicher Absicht argumentiert die im selben Jahr erschienene Publikation Das Vermüllungssyndrom von Peter Dettmering und Renate Pastenaci,20 weshalb 1985 als szientifische Signifikanzschwelle gelten darf. Nichtsdestoweniger ist der Messie weiterhin wenig präzise definiert, obwohl man heute allein in Deutschland von etwa 300.000 Betroffenen ausgeht, quer durch alle Schichten: Die »Prävalenzraten scheinen keine Korrelation mit ethnischer Gruppe, Bildungsgrad, Einkommen oder Familienstand zu zeigen«.21 Auch sonst fällt die Zuordnung schwer, und im ICD-10 kommt er gar nicht erst vor. »Eine Reihe von psychiatrischen Erkrankungen können dem ›Messie-Syndrom‹ zugrunde liegen, die sich über beinahe das gesamte Diagnosenspektrum des ICD-10 erstrecken«.22 Nicht nur die Feststellung, ob es sich beim 17 18

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Prandstetter, »Der Messie immer schon in uns«, S. 223. Die Literatur zum Messie ist inzwischen umfangreich. Zieht man die zahllosen Selbsthilferatgeber und sozialwissenschaftlich motivierten beschreibenden Fallstudien ab, relativiert sich die Forschungslage allerdings wieder: einige wenige Aufsätze in klinischen Periodika, ein bis zwei Monografien und zwei relevante Sammelbände. Da man Recherchiertes nur ungerne wegwirft, hier zumindest einige der Publikationen: Sibylle Räber, Claudia Rüsch, Phänomen »Vermüllung«. Soziale Arbeit mit Messies, Bern 2003; Gisela Steins, Desorganisationsprobleme. Das Messie-Phänomen, Lengerich 2003; Annina Wettstein, »Messies«. Alltag zwischen Chaos und Ordnung, Zürich 2005. Vgl. hierzu jüngst der allzu fiktive Roman von E.L. Doctorow: Homer & Langley, Köln 2010. Peter Dettmering, Renate Pastenaci (Hg.), Das Vermüllungssyndrom. Theorie und Praxis, Eschborn 2004. Katharina Reboly, »Fallgeschichte: Frau Berta Z.«, in: Pritz et al. (Hg.), Das Messie-Syndrom, S. 114. Martin Aigner, Ulrike Demal, Markus Dold, »Horten und Sammeln im Spektrum der Zwangsstörungen«, in: Pritz et al. (Hg.), Das Messie-Syndrom, S. 55 f.

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Kranken um einen Messie handelt, ist unklar, auch der Grad der Erkrankung ist schwer zu bestimmen. Hierfür gibt es erste Ansätze, etwa der so genannte MessieHouse-Index (MHI), der sich aus der noch begehbaren Fläche im Verhältnis zur belegten Wohnfläche ergibt. Völlige Begehbarkeit hat einen MHI von 0, Totalbelegung einen MHI von 10. Der Normalbereich liegt zwischen 1 und 4.23 Der Autor dieses Aufsatzes kommt im Selbstversuch auf einen Borderlinewert von ›5‹. Das sichtbare Problem des Messies ist schlicht: Er kann (fast) nichts wegschmeißen, er ist disposophob. Alles könnte noch mal zu etwas nütze sein. Und zwar wofür? Dies ist die entscheidende, manifest oder scheinbar auf die Zukunft hin ausgerichtete Frage. Bei aller Disparität der Ansätze beziehen die in Feldstudien und Interviewreihen gegebenen Antworten sich fast immer auf Probleme im Feld von Übertragung und Bindung. Entsprechend halten die meisten Psychotherapeuten und Ärzte das Messietum für eine Bindungsstörung. In der Bindungstheorie steht die Angst vor Trennung im Mittelpunkt bei der Aktivierung von Bindungsverhalten. Messies zeigen oft eine charakteristische Reaktionsbildung gegenüber dem Bedürfnis nach Bindung an Angehörige [...]. / [...] Dieses defensive Verhalten bei erfahrener Unzugänglichkeit der Mutter wird in der Bindungstheorie als das unsicher-abweisende Bindungsmuster bei Erwachsenen beschrieben. Während Messies sich oft aus sozialen Bindungen zurückziehen, halten sie an ihrem Sammelgut fest, sie können sich nicht trennen.24

Da die Übertragung keinerlei Selbstverständlichkeit besitzt, sondern umständlich inszeniert, vorweggenommen und kontrolliert werden muss, errichtet der Messie ein Imperium von Dingen, die für ihn nützlich sein könnten. Und die Nützlichkeit ist im Wesentlichen eine geborgte. Fast jeder wird diese Situationen kennen, dass einen nahe Verwandte bei einem der sporadischen Besuche mit einem kleinen Häuflein an Dingen (Zeitungsausschnitte, Prospekte, Fotos etc.) überraschen mit der Bemerkung: ›Das habe ich für dich aufbewahrt, das müsste dich doch interessieren‹. So wird man unversehens zum Sinngeber für andere. Beim Messie ist diese Schrulle dominant geworden und beherrscht seinen Alltag. Indem er seinen eigenen Haushalt zu Archiven (überwiegend informationeller) Übergangsobjekte umfunktioniert, sondert er sich zunehmend ab. Niemand darf das Zuhause betreten, weil er sich für das Chaos schämt, das sich dort auftürmt. Was eigentlich helfen soll, die Ängste zu lindern, führt dazu, dass sie erst Realität werden. Die Psychologie gibt dafür folgende Ätiologie an: »Gemeinsam in den aktuellen Ansätzen zur Theorie der Zwangsstörung ist die stärkere Berücksichti23

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Andreas Schmidt, »Der Messie-House-Index (MHI)«, in: Pritz et al. (Hg.), Das Messie-Syndrom, S. 91–98. Rainer Rehberger, Messies – Sucht und Zwang. Psychodynamik und Behandlung bei Messie-Syndrom und Zwangsstörung, Stuttgart 2007, S. 19.

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gung der Erziehungspraktiken und der Versagungen und damit der Objektbeziehungen«.25 Ein Grund liegt somit auch in einer gestörten Objektbeziehung, für die die zu archivierenden Dinge Surrogate darstellen.26 Der Mangel in der Übertragungsfähigkeit wird durch ein Arsenal der Dinge gepuffert und kompensiert. Sammeln ohne Ende ist auch Ausdruck einer süchtigen Bewältigung der unerträglichen Gefühlszustände von Leere und Sinnlosigkeit. Fülle bis unter die Zimmerdecke vertreibt die Erinnerung an Leere. Jeder gesammelte Gegenstand, jedes Papier bieten sich in der Fantasie für eine Sinnstiftung an. Alles soll einmal gebraucht werden. Der Mangel an Beziehungen wird dann als Folge der chaotischen Sammlung gesehen. So wird das Wissen, dass Beziehungsmangel die Ursache ist, verdrängt.27

Das ist die eine Seite. Der andere Mangel besteht im konkreten Umgang mit den angesammelten Dingen, der manifesten Unfähigkeit, sie zu hierarchisieren. »Es besteht Evidenz, dass Messies bis zu einem gewissen Grad unfähig sind, Brauchbares und Unbrauchbares zu trennen«.28 Dies versteht sich insofern von selbst, als es ja die Anderen sind, die durch ihr Begehren den Dingen Sinn geben. Unterstellt ist damit eine Prävalenz des Begehrens der Anderen und der Glaube daran, dass sie mit der Wahrheit in näherer Beziehung stehen, sie also, mit anderen Worten, über eine schönere Seele verfügen. Im Selbstbild des Messies ist dies anders. »Beim Horten sind typische kognitive und emotionale Störungen zu berücksichtigen [...]: Die Patienten haben Angst vor Fehlentscheidungen, die sie dazu verführt, Gegenstände erst einmal zu behalten. Sie haben Probleme damit, Kategorien zu bilden, nach denen sie ihren Besitz ordnen«.29 Alles ist gleichermaßen wichtig. Die Wohnungen werden zu kontrollierten Müllhalden, weil nichts weggeworfen werden kann und die Gruppenbildung assoziativ und korrelativ zur individuellen Bindungsfähigkeit erfolgen muss. An die Stelle der ordnenden Kraft des Symbolischen tritt die Unformalisierbarkeit der Übertragungsrelation, anders gesagt: die Liebe. Das Archiv des Messies ist causa efficiens und finalis in einem, zu Lasten der causae formalis und materialis, diesen Domänen abendländischer Wissenschaft. Zusammengefasst: Der Messie leidet an Bindungsunfähigkeit und braucht sein häusliches Archiv als Arsenal von Objekten, deren Bedeutung ausschließlich in ihrer möglichen Verwendung in der Übertragung liegt. Obschon als solches nicht

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Ebd., S. 69. Vgl. hierzu im Gefolge Winnicotts: Tilmann Habermas, Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt am Main 1999. Rehberger, Messies – Sucht und Zwang, S. 73. Pritz et al. (Hg.), Das Messie-Syndrom, S. 8. Arnd Barocka, »Krank oder nicht krank? – Psychiatrische Aspekte einer Organisations-DefizitStörung (sogenanntes ›Messie-Syndrom‹)«, in: Pritz et al. (Hg.), Das Messie-Syndrom, S. 74.

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von Interesse, steckt in jedem Ding eine Verheißung – ohne dass es möglich wäre, sie verlässlich vorwegzunehmen und die Dinge von dort her zu kategorisieren. Vor der Übertragung ist alles gleichwertig. Die Aufgabe des Sinns liegt beim Anderen, der über das Begehren mit dem neurotischen Subjekt verbunden ist, hierin dem Subjekt Pascals gleich und nicht dem Descartes’. Ob etwas wichtig ist, entscheidet sich nicht auf der Grundlage einer Einfachheit oder Reinheit, deren Verunreinigung genealogisch untersucht wird, sondern auf der Grundlage der Bindung an den Anderen. Getrieben von der Angst, nicht zu gewinnen, kauft der Messie in der Pascal’schen Wette auf Gott einfach alle Lose, die im Spiel sind.

IV. Der Preis des Messieianismus Die Objekte in ihrer irreduziblen Individualität nicht vorab zu kategorisieren, sondern offen zu sein für die Erkenntnis fördernde Macht des einzelnen Dings, zählt auch zu den Überzeugungen aktueller Kulturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte. Jedes Detail könnte wichtig sein.30 Das koinzidiert mit der Tendenz, die Dinge in ihrer Partikularität und Einzigartigkeit ins Herz der Theoriebildung zu platzieren.31 Begriffe wie »epistemisches Ding« und »Dingpolitik« stehen im Mittelpunkt einer Entwicklung, die die Erzeugungs- und Darstellungsweisen von Wissen neu in den Blick zu nehmen beansprucht. Diese avancierte Form von Wissenschaftsgeschichte32 ist angetreten, verborgene Zusammenhänge hinter der klassischen, fortschritts- und subjektorientierten Historiographie aufzuzeigen. Der Zufall oder scheinbar äußerliche Faktoren wie unbedachte technische Implikationen oder Machtinteressen werden als Generatoren von Wissen kenntlich. Dabei hat der Historiker dieses Wissens so sehr in den Hintergrund zu treten wie irgend möglich und stattdessen das Ding sprechen zu lassen. Personengebundene Autorität soll im Namen wissenschaftlicher Neutralität getilgt werden. Eben dies ist der »Diskurs der Universität«, wie ihn Lacan im Unterschied zum Diskurs des Herren, des Hysterikers und des Analytikers definiert hat. Ihn zeichnet aus, das Ungleichgewicht der imaginären Übertragungsrelation zugunsten des Symbolischen zu leugnen.

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Vgl. hierzu Daniel Tyradellis, »Olive und Urkilo. Im Zeitalter des Vergleichens«, in: Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.), Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 239–247. »Mein Ansatz versucht, dem Primat der Theorie zu entgehen« (Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 20). Vgl. hierzu etwa den Überblick von Nicholas Jardine, »Sammlung, Wissenschaft, Kulturgeschichte«, in: Anke te Heesen, Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001, S. 199–220.

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Wenn es aber eine theoriebegründete Autorität und Fokussierung nicht gibt oder nicht geben soll – wie lässt sich dann das Forschungsfeld noch ordnen und begrenzen? Durch die Stanze des modernen Kulturwissenschaftlers und Epistemologen: das Archiv. Dieses hat den Vorzug, dass es per definitionem nicht alles versammelt, sondern über historisch gewordene Kriterien verfügt, die entscheiden, was ins jeweilige Archiv hinein gehört oder eben nicht.33 Archive stellen deshalb ein ideales reaktives Forschungsgebiet dar, indem auf die generative Kraft, vulgo: die Gewalt der Selektions- und Sortierkriterien hingewiesen und damit die Autorität wohlfeil kritisiert werden kann. Das eigene Tun definiert sich ex negativo: Es soll nicht gefragt werden, bei welchem Hirnforscher a ein Einfluss des Philosophen b nachgewiesen werden kann; oder ob den Dichter x die Lektüre des Psychiaters y zu diesem oder jenem Satz inspiriert hat. Ein kulturhistorischer Ansatz, wie er hier verstanden wird, interessiert sich für Resonanzen und Korrespondenzen, Aufsprengungen und Ausschließungen, die sich zwischen verschiedenen Artikulationsweisen ergeben, achtet auf die Verschiebung von Fragen, Problemen und Praktiken, die sich im Zugriff auf das Gehirn ergeben; versammelt medizinische, psychologische, philosophische, künstlerische und ökonomische Zusammenhänge.34

Ein solches Unterfangen setzt zeitintensives und aufwändiges Forschen tief in den Archiven unserer Kultur voraus, und die Situation ähnelt der Frage, die man angesichts einer Messie-Wohnung stellen möchte: Wozu das alles? Welche Verheißung hat ein solches Tun, was verspricht man sich davon? Diese Frage richtet sich ebenso an den einzelnen Wissenschaftler wie an das gesellschaftliche Kollektiv, das in den technisierten Wissenschaften ihr utopisches Residuum findet und dafür große zeitliche (gemessen in Lebenszeit der einzelnen Wissenschaftler) und ökonomische (gemessen in volkswirtschaftlichen Kategorien und im Verteilerschlüssel des jeweiligen Staatshaushalts) Ressourcen aufwendet. Hier lässt sich vielleicht die Parallele wagen: Den pathologischen Messieianismus wie den wissenschaftlichen Messianismus zeichnet eine unausgesprochene Erwartung auf Sinn aus. Es ist eine Bindung hergestellt, hin auf einen oder eines, der oder das noch ausbleibt. Der Schwerpunkt liegt auf dem »noch«, anders ausgedrückt: Er fehlt an seinem Platz und ist deshalb in gewisser Weise immer schon da. Bei aller Unkalkulierbarkeit seines Erscheinens weiß man doch oder gibt zumindest vor zu wissen, was eher zum Fortschritt beiträgt und was nicht. Der Kampf33

34

Schwerer tut sich das Archiv mit dem Wegwerfen; was einmal drin ist, kommt nicht so leicht wieder raus. Die Maßnahmen, dass das nicht unter der Hand geschieht, sei es durch Brand, Papierfraß, Museumskäfer oder Langfinger, werden zunehmend erschwert durch digitale Technologien, die schneller altern, als ein Käfer fressen kann. Die Daten sind zwar noch da, aber keiner kann sie mehr abspielen. Michael Hagner (Hg.), Ecce cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns, Göttingen 1999, S. 11.

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platz dafür ist heute das Ding. Das Archiv liefert den dazu notwendigen Rahmen, sonst bewegt man sich im nichtsanktionierten Raum, macht Kunst oder einfach nur Unsinn. Zwar könnte man alles und nichts erforschen, aber der geschlossene Korpus des Archivs ist ein ideale Umrahmung,35 um das zu tun, was man möchte: frei Forschen und zugleich durch die Existenz von Institutionen gelenkt und eingeschränkt sein. Auch hier sind alle Dinge und ihre Relationen im Modus Potentialis. Sie könnten zu etwas nütze sein. Das ist die wissenschaftliche Gestalt des Nihilismus, die dem Messie gleicht. Deshalb ist zu klären, was dahinter steckt, wovon diese Praxis Symptom ist. Hierzu soll im Folgenden Hans-Jörg Rheinbergers schon angesprochener theoretischer Ansatz betrachtet werden. Prägnanter als andere Vertreter seiner Zunft erklärt sich dieser über seine wissenschaftlich-methodischen Grundlagen, und seine Perspektive scheint mir vorbildlich. Als Wissenschaftshistoriker setzt er gegen die unstatthafte Vereinfachung der tatsächlichen und konkreten Zusammenhänge die »Rehabilitation des ›Entdeckungszusammenhangs‹« epistemischer Dinge, wie er es mit Hans Reichenbach ausdrückt.36 Weiter schreibt er: In Fragen der Historiographie halte ich es mit Bruno Latour, der behauptet, dass ›es eine Geschichte der Wissenschaft gibt, nicht nur eine Geschichte von Wissenschaftlern, und eine Geschichte der Dinge, nicht nur eine der Wissenschaft‹. Meine eigene historische Perspektive ist innerhalb dieser Kaskade, die sich von den Wissenschaftlern über die Wissenschaft zu den Wissensobjekten erstreckt, auf der Ebene der Dinge vertäut. Man mag das eine Biographie der Dinge nennen oder eine Genealogie der Objekte, wenn man darunter nicht versteht, dass die Gegenstände darin wie Bilder einer Ausstellung aneinandergereiht werden; vielmehr geht es mir um eine Herausarbeitung der Prozesse, durch die sie ins Leben gerufen werden.37

Er nennt das »eine ›Epistemologie von unten‹«,38 und die Beschreibung der genetischen Prozesse folgt einem Dogma: Die Geschichte von Experimentalsystemen muss »so dicht wie es [...] die vorhandenen Quellen erlaub[en]«,39 beschrieben werden. Die Frage ist, was hier »dicht« heißen soll. Meine Vermutung ist, dass das gesamte Ethos dieser Forschungsrichtung in diesem Wörtchen und der Reichweite seiner Ausdeutung steckt.

35

36 37 38 39

Vgl. hierzu die Einleitung der Herausgeberinnen Anke te Heesen, Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen, die von der Faszination »für die Vielfalt der Welt in der Einheit des Raumes« (S. 9) sprechen. Rheinberger, Experimentalsysteme, S. 24. Ebd., S. 9 f. Ebd., Ebd., S. 243.

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»Wie die Frage nach dem Ding überhaupt ist die Frage nach dem epistemischen Ding eine eminent historische«.40 Das ist so neu nicht. Kants berühmtes Wort von der Unerkennbarkeit des Ding an sich meint ja die Tatsache, dass ein Einzelding nicht erkennbar ist, da alles, was ist, nur in seiner Verbindung mit anderen Dingen in Erscheinung tritt. »[E]in Ding ›an sich selbst‹ erkennen zu wollen, heißt [...] zunächst einmal nur, es unter Abstraktion von seinen Beziehungen zu anderen Dingen, bzw. vom ›Rest der Welt‹ erkennen zu wollen«.41 Und eben dies ist nicht zu haben. Mit Kant gesagt: »Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erfahrung vorkommen kann« (B 332/333). In dieser Bedeutung von Erfahrung liegt der Unterschied zwischen epistemischem Ding und dem Ding der Philosophen Kant und Hegel.42 Bei all der Betonung der durch die epoche des Archivs begrenzten Kontexterweiterung geht es darum, Kants Formel von der Unerkennbarkeit des Dings an sich zum Vorwand zu nehmen, die Relationalität von allem so nah und dicht zu bestimmen, wie es irgend geht. Hilfreich für diese Illusion ist es, dass die Referenz eben nicht mehr (wie bei Hegel) allein der Begriff ist, sondern etwa auch die Liste, die neben der Alltagssprache noch mathematische Notationen, Apparaturen, in denen Theorien implementiert sind (»technische Dinge«), Messerergebnisse als Verlängerung der eingesetzten Medien usw. kennt. Dadurch wird die Welt der Dinge im Archiv auf einen Schlag vervielfacht und ein altes Phantasma aktualisiert. Die Metaphysik, die dahinter steht, ist dieselbe: Man könne ein Ding tatsächlich exhaustiv und adäquat beschreiben. Dicht kann etwas nur sein, wenn es ein Richtmaß für Nähe gibt. Der Clou besteht darin, dieses nicht durch eine externe Instanz zu gewinnen, sondern durch das immanente Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Rheinberger formuliert das so: »So bleiben Wissenschaftler in das Paradox des Erkennens verwickelt: Sie handeln nach dem Prinzip der einfühlenden Distanzierung«.43 Im Mittelpunkt des Ansatzes steht die Übertragung, die der jeweilige Wissenschaftler mit sich und dem Ding ausmacht44 und so die Kontrolle darüber behält, ob und was von der Welt da draußen dazwischen treten darf. Wenn 40 41

42

43 44

Ebd., S. 25. Bernhard Rang, »Husserls phänomenologischer Dingbegriff und seine metaphysikgeschichtlichen Voraussetzungen«, in: Peter Janich (Hg.), Wechselwirkungen. Zum Verhältnis von Kulturalismus, Phänomenologie und Methode, Würzburg 1999, S. 43. »Die verschiedenen Dinge stehen in wesentlicher Wechselwirkung durch ihre Eigenschaften«, »die Eigenschaft ist diese Wechselbeziehung selbst, und das Ding ist nichts ausser derselben.« (G.W.F. Hegel, Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. XI, Frankfurt am Main 1986, S. 332) Ein Ding gewinnt für Hegel seine Identität über die dem Wechsel enthobene Eigenschaft, die nur aus dem prozessualen Vergleich, das heißt der Geschichte gewonnen werden kann. Hervorh. D.T. An anderer Stelle spricht Rheinberger von der Notwendigkeit »eine[r] gewisse[n] Liebe zu den epistemischen Dingen« (Hans-Jörg Rheinberger, Iterationen, Berlin 2005, S. 29).

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sich Distanz als konstitutiv für das Verhältnis von Geschichte und Vergangenheit erweist, dann handelt es sich bei der neueren Wissenschaftsgeschichte also um eine einfühlende Distanz. Die Frage nach dem Wozu im größeren Maßstab ist damit nicht beantwortet. Und so schließt Rheinberger sein Buch Experimentalsysteme und epistemische Dinge mit einer theoretischen Autorisierung: »Lacan hat einmal gesagt, dass das ›Subjekt das Korrelat der Wissenschaft bleibt, aber ein antinomisches Korrelat, weil sich nämlich die Wissenschaft durch den ausweglosen Versuch, es zu nähen, definiert erweist‹. Daher, so Lacan, gibt es ›etwas im Status des Objekts der Wissenschaft, das uns, seit der Entstehung der Wissenschaft, noch nicht erhellt erscheint‹. Dem Status solcher Objekte galt meine Aufmerksamkeit in diesem Buch«.45 Es fragt sich, ob diese Lektüre ganz dicht ist. Sollte nicht das Gebot der Nähe zum Objekt sich auch auf die theoretischen Referenzen erstrecken, zumal nichts dazu verpflichtet, sie zu wählen? Ist eine Theorie nicht auch ein »technisches Ding«? Oder gibt es andere, womöglich unbewusste Gründe für diese Verknüpfung? Denn zwar spricht Lacan an der zitierten Stelle vom Objekt der Wissenschaft. Er spricht aber nicht über das epistemische Ding oder überhaupt Dinge. Seine Frage ist, ob nicht »die ungeheure Fruchtbarkeit unserer Wissenschaft in ihrer Beziehung zu jenem Aspekt begründet liegt, aus dem die Wissenschaft dann leben würde: nämlich nichts-wissen-zu-wollen von der Wahrheit als Ursache«.46 – Was auch bedeutet, dass ihre Motivation im Verborgenen bleibt und sich nur zu erkennen gibt als Objekt a: »Vom Phallus selbst kündend, dass er nichts anderes ist als jener Zipfel des Mangels, den er im Subjekt anzeigt«.47 Dieses Objekt zum wissenschaftlich gesuchten Objekt zu erklären, bedeutet einen Fetisch zweiter Ordnung zu errichten. Bei Lacan dagegen ist es das Objekt, das das Subjekt dazu bringt, sich individuell auf diese oder jene Art dem Anderen gegenüber zu verhalten. Dabei knüpft Lacan in Die Wissenschaft und die Wahrheit nur im ersten Schritt an das Subjekt-Objekt-Verhältnis bei Descartes an, um danach nach einer Alternative zu suchen, die es gestattet, das cartesische Subjekt aus der Distanz heraus zu beschreiben und die Frage nach der Motivation dieses spezifischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses stellen zu können. Auch Rheinberger geht es um eine Alternative: »Diese ›intime Exteriorität‹ oder ›Extimität‹ des Dings, [...] kann man auch mit dem Begriff des Virtuosen umschreiben. Um diesen Aspekt des Umgangs mit den Gegenständen der Forschung geht es mir hier, und wir werden sehen, dass er in der traditionellen Fassung der Subjekt-Objekt-Relation, in der sich zwei transzendente Entitäten als res cogitans und res extensa unversöhnlich gegenüberstehen, nur schlecht aufgehoben ist«.48 Im selben Buch amalga45 46 47 48

Rheinberger, Experimentalsysteme, S. 246. Lacan, Schriften II, S. 254. Ebd., S. 257. Rheinberger, Iterationen, S. 53.

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miert Rheinberger zwei berühmte Wachs-Stellen der Philosophiegeschichte mit einem eigentümlichen Bild: Von hier aus führt ein Weg – expérience – zum Experiment als dem Signum und Signal der neuzeitlichen Wissenschaften, ihrer charakteristischen Art, formale Sequenzen von Dingen, graphematische Ketten von Ereignissen zu produzieren, ›epistemische Dinge‹ also. [...] Das Wachs des Physikers kommt nicht aus dem Bienenhaus. Es riecht nicht mehr nach den Blüten, denen es entstammt, sondern nach dem Schweiß der Methoden, die es gereinigt haben. Je sauberer, desto intensiver. Es wird zum Moment jener differentiellen, unabschließbaren ›Ausrichtung des Wissens‹ [G. Bachelard, D.T.] die sich an der Grenze zum Nichtwissen abspielt, an der das, was wir als Denken bezeichnen, in seiner graphematischen Materialität, die imaginären Spiegelungen des cogito noch im inneren Ausschluss haltend, ›am Machen‹ und ›im Tun‹ ist, wie es ein Dialekt zu sagen erlaubt. Hier befinden wir uns an dem Ort, wo das Einfache noch als das Vereinfachte erfahren wird, wo es noch die Spur seiner Degeneration aus dem Komplexen an sich hat. Hier befinden wir uns an dem Ort, wo das Wissen noch – ›nichts-wissen-(will) von der Wahrheit als Ursache‹, jenem Nichtswissen-Wollen-von, das ihm nach Lacan seine Fruchtbarkeit und Mächtigkeit verleiht.49

Es fragt sich, ob in Lacans Text sich dieses Nichts-wissen-Wollen auf das Subjekt bezieht, das nichts wissen will von der Genese des Dings, oder ob es nicht vielmehr darum geht zu fragen, was das Subjekt treibt, das Ding solcherart zu analysieren. Was ist dieses »Es« bei Rheinberger, das riecht und zugleich nicht mehr riecht? Denn »es gibt kein Begehren zu wissen, diesen berühmten Wissenstrieb, auf den Freud irgendwo hinweist«.50 Die Frage des Wissens ist keine erkenntnistheoretische, auch wenn eine lange neukantianische Tradition das suggeriert. Genauso wenig befragt die Psychoanalyse Descartes, der das Bild des duftenden Bienenwachses geprägt hat, auf die Wahrheit seines Wissens, vielmehr fragt sie nach seiner Motivation. Das sagt viel mehr über das Versprechen, die Ziele und die »Ausrichtung des Wissens« aus. Die Mathematikerin Geneviève Morel hat darauf hingewiesen, dass Lacan sich zur Zeit von Die Wissenschaft und die Wahrheit intensiv mit Pascal beschäftigt hat, dessen Subjektkonzept er hier in Anschlag bringt. »Schließlich klärt sie [die Pascal’sche Wette auf Gott, D.T.] das, was bei Descartes verhüllt bleibt: die Stellung des Objekts in der Beziehung des Subjekts zum Anderen«.51 Descartes’ Subjekt hängt insofern am Anderen, an Gott, als dieser das Subjekt vor der Möglichkeit der voll49 50 51

Ebd., S. 19 f. Jacques Lacan, Encore (Seminar XX), 21991, S. 114. Geneviève Morel, »Die Wette und die Teilung«, in: Jacques-Alain Miller et al., Von einem anderen Lacan, Wien 1994, S. 148–155, hier S. 149.

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kommenen Täuschung schützt. Damit ist die Wissenschaft die Verantwortung für die Wahrheit los, entsprechend wird die Frage nach ihr von den »neuen Experimentalisten«52 auch als naiv zurückgewiesen und umstandslos durch quellentreue, dichte Beschreibung im Stile einfühlender Distanz ersetzt. Lacans Einsatz mit Pascal besteht demgegenüber darin, der »Rückkehr der Wahrheit in einer anderen, einer realen Form, der Wahrheit nämlich als Materialursache in der Psychoanalyse«53nachzugehen. Das ist das Sujet seines Vortrages. Er fragt, wie es sich für einen Psychoanalytiker gehört, nach dem Begehren, das den Diskurs von Descartes begründet. Und dies geht mit Pascal nur über das Begehren nach dem Anderen, dessen Begehren wiederum unklar bleibt: Was will er – von mir, von uns? Die berühmte Wette Pascals ist eine Wette auf die Zukunft, in der der große Andere antworten wird und die Wahrheit verbürgt. Wissenschaft besteht genau darin, davon absolut nichts wissen zu wollen. Motiv und Symptom in einem könnte nach wie vor die Angst sein, die sich ganz kierkegaardkonform als Abulie äußert. Diese wird durch eine ständige Erweiterung der Kontexte perpetuiert und glorifiziert. Doch die Übertragung ist nicht zu objektivieren. Die Angst vor dieser Unmöglichkeit steht hinter diesem Tun. So wie der Messie alle Lose kauft, um sich so die maximal mögliche Sicherheit in Bezug auf den Anderen zu erkaufen (und dafür einen hohen Preis zahlt), ist der neue Wissenschaftshistoriker bemüht, alles zu versammeln und endlos zu kontextualisieren, um das, wodurch und wohin es führen könnte, so offen zu halten wie möglich. Beides umkreist das Begehren des Anderen als Sinngeber des eigenen Tuns und erfüllt damit den Tatbestand der Neurose. Methoden können nicht schwitzen, wohl aber Menschen bei allen möglichen Gelegenheiten, in geringerem Maße auch beim Erarbeiten von Methoden. Immerhin verweist Rheinbergers Beispiel auf das, was Wissenschaft nach Freud ist: Sublimierung sexueller Lustbefriedigung, indem man, hierin wiederum Fetisch zweiter Ordnung, die Methode genießen lässt. Dass dadurch die materielle Grundlage skripturaler Ereignisse mindestens so erotisiert wird wie das Schreiben in der Theorie Johann Georg Hamanns, verweist nur auf eine lange Tradition der Motivation für den Drang nach Objektivität als Ausschaltung des eigenen Anteils, wie dies Lorraine Daston und Peter Galison für die religiös motivierte »wissenschaftliche Askese« bis hin zur »Selbstverleugung« im 19. Jahrhundert beschrieben haben.54 52

53 54

Vgl. hierzu etwa Christoph Hoffmann, Peter Berz (Hg.), Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien, Göttingen 2001, S. 10. Morel, »Die Wette und die Teilung«, S. 149. Lorraine Daston, Peter Galison, »Das Bild der Objektivität«, in: Peter Geimer, Ordnungen der Sichtbarkeit, Frankfurt am Main 2002, S. 29–99, hier S. 96. Dort heißt es weiter: »Wie das Zölibat, das Fasten und die Nachtwachen die Priester für den direkten Kontakt mit der Gottheit reinigten und sie zum Sprachrohr für die göttliche Wahrheit und irdische Macht erhoben, so reinigte die Selbstbeherrschung der Wissenschaftler diese für den direkten Kontakt mit der Natur und machte aus ihnen Sprachrohre für die natürliche Wahrheit und irdische Macht. Nichtintervenierende Objektivität war das berufliche Ethos der Wissenschaftler«.

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V. Abgründige Dinge Ähnlich wie Rheinberger formuliert es Bruno Latour in seiner Absicht, auch den Dingen in der Verfassung eine politische Stimme zu geben: Wenn wir die Verfassung ändern, glauben wir weiterhin an die Wissenschaften, aber statt sie in ihrer Objektivität zu nehmen, ihrer Wahrheit, ihrer Kälte, ihrer Exterritorialität – Eigenschaften, die sie immer nur in der willkürlichen Wiederaufbereitung durch die Epistemologie besaßen – nehmen wir sie in dem, was immer schon das Interessanteste an ihnen war: ihrem Wagemut, ihrem Experimentieren, ihrer Ungewissheit, ihrer Hitze, ihrem ungebührlichen Mischen von Hybriden, ihrer wahnsinnigen Fähigkeit, das soziale Band neu zu knüpfen.55

Die Dinge sollen es richten, ihnen gilt die Hoffnung. Aber ist das Tun wirklich so wahnsinnig im Sinne einer Transgression? Oder ist der Wahnsinn nicht eher das ganze Gegenteil, die Intensivierung ein und derselben angstgeladenen Praxis? Das Symbolische ist – zumindest theoretisch – immer explizierbar (freilich stets nur bis zu einer bestimmten Grenze, die kultur- und das heißt gemeinschaftsabhängig ist: Evidenz). Die Übertragung dagegen ist sprunghaft, verspricht heute die Ewigkeit und ist morgen schon von gestern; sie ist das unbestechlichste und doch fragilste Band, das uns im Leben hält. Sie entscheidet über die Wahrheit, die es deshalb nur im Singular gibt, weil ihre Existenz an das einzelne Leben gekoppelt ist, die dafür ihren Preis zu zahlen hat – sofern sie dazu den Mut hat. Die Frage nach der Kontrollierbarkeit der imaginären Relationen und ihrer Stepppunkte durchzieht die Geschichte des christlichen Abendlandes bis heute. Seit Freud könnte dies auch Teil der Wissenschaftsgeschichte und -theorie sein. Nur dass davon die Wissenschaft nichts wissen will. Ein Symptom davon ist die ubiquitäre Beschäftigung mit dem Archiv. Sein Versprechen gleicht dem Furor der Kybernetik vor 50 Jahren: Im Innern des Systems zeigt sich etwas, das man nicht vorhersehen kann, im einen Falle induziert durch Rückkoppelungsschleifen und unumkehrbare nichtlineare Gleichungen, im anderen Fall durch eine irreduzible Dingmannigfaltigkeit inmitten gehegter Räume. In seiner Unerschöpflichkeit verspricht es eine Antwort auf die Frage des Wozu der Anstrengungen. Auch deshalb ist der Messieianismus eine sozialwissenschaftliche Frage, in der es um nicht weniger als die »psychoökonomische Berechnung der Kosten des Messianismus«56 geht. Die Bilanz ist schlecht. Die Geschichte der Wissenschaften und deren Epistemologie in der 55

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Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1998, S. 190. Jacob Taubes, »Der Messianismus und sein Preis«, in: ders., Vom Kult zur Kultur, München 1996, S. 43–49, hier S. 43.

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Moderne ist auch eine Geschichte der Angst. Das Wesen der Technik bleibt ungedacht. Sicher, jedes Ding ist potentiell abgründig und birgt Hoffnung auf Beziehung und Fortschritt. There is a crack in everything. Doch nicht die einfühlende Distanz, sondern das Pathos der Distanz ist die Bedingung für den harten Weg der fröhlichen Wissenschaft. Wie Nietzsche es ausdrückte: mit dem Hammer philosophieren, d. h. überall klopfen und hören, wo es hohl ist. Die Götzen wissenschaftlicher Evidenz müssen zerschlagen werden. »Epistemische Dinge« und »Dingpolitik« klingen wie Kirchenglocken, und leider erfüllen sie auch die gleiche Funktion bei Tausenden von Schäfchen. Was bisweilen fehlt, ist der Mut, Geschichte aktiv schreiben zu wollen. Dieser pathetische Schluss sei mit einer niederschmetternden Anekdote aus der Museumsszene bekränzt, die sich vor einigen Jahren zugetragen haben soll: Einem Aufseher in einem Museum in Italien war es unerträglich, dass ein von ihm geliebtes Ausstellungsstück, eine Vase, nach seiner anstehenden Pensionierung von einem anderen Aufseher bewacht werden würde. Kurzerhand griff er zum Hammer und zerschlug das Ding. Das ist Pathos. That’s how the light gets in.

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Das Archiv der Genesis Henning Teschke

Flüchtige Zeit: Nichts wird getan, was nicht auch schneller ginge. Denn die Formen der Steigerung, zu der die Gegenwart einlädt, sind rein quantitativ. Werden die Veränderungen dauerhaft, schwindet das Erinnerbare, entwertet sich die Vergangenheit. Erfahrung und Charakter konfligieren. Die fragmentierte Zeit macht das Gedächtnis zum Testament der Kohäsion. Ihre Bestimmung, Zusammenhang und Zusammenhalt zu stiften, geht an die Archive über. Liegt im Interesse für das Archiv also auch ein indirektes Zeugnis der Vergänglichkeit? »Und mit sichtbaren Zeichen üben wir wahrlich keine unbezeugte Macht, den Heutigen und den Künftigen zur Bewunderung«,1 so Perikles in der Leichenrede. Worin empfiehlt sich das Heute der Zukunft zur Erinnerung, was macht den Beginn des dritten Jahrtausends überlieferungsfähig, überlieferungswürdig? Das Bewusstsein, überlebt zu werden, verband jede Generation mit der nächsten, solange eine Idee, solange ein gemeinsamer Horizont – Religion, Kommunismus – bestand, der jedes »danach« in ein »deswegen« universeller Größe zu verwandeln versprach. Verschwindet das Maximum des Besten für alle, das die Unabgeschlossenheit der Geschichte wach hielt, ergreift die nackte Gewalt der Zeit die Menschen. Sie nimmt die Form des Archivs an, das Tag für Tag heillos die Bruchstücke der Menschheitsgeschichte zusammenträgt, ohne zu wissen wozu. Der Fortbestand der Gattung ist ungewiss geworden, das Futur II: es wird uns nicht gegeben haben, nicht ausgeschlossen. Doch die Stärke schwacher Bindungen, dass sich nichts setzt, nichts Nachhaltigkeit gewinnt, macht uns nicht nur zu Gefangenen der Gegenwart, sondern erleichtert den Ausbruchsversuch. Ein entchristianisiertes und postkommunistisches Europa hat seine Zukunft nur dann nicht hinter sich, wenn es den Glauben, der es lange trug, an seinem Anfang im Alten Testament und an seinem zweiten Anfang im Reich von dieser Welt2, aufsucht. Nicht, um über Gott, sondern über sich selbst umzulernen. Fragwürdig wird das Verhältnis von Archiv und Genesis nicht durch die Positionen von Nominativ und Genetiv, sondern durch die Bedeutung des Bezugs. Von der Religion in Form des Archivs zu sprechen, macht den Glauben zur Sache der Vergangenheit, dessen Alter nur die Dauer eines erhabenen Irrtums anzeigt. Dem Glauben wandte sich das 18. Jahrhundert mit eingedunkeltem Spott zu – »damals, 1 2

Thukydides, Der peloponnesische Krieg, Stuttgart 2000, Buch II, S. 35–41. Vgl. Alejo Carpentier, El reino de este mundo, Lima 1958 (EA: 1949).

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als die Seele noch unsterblich war«–,3 das 19. Jahrhundert polemisch und aggressiv, wenn die Kritik der Religion Voraussetzung aller Kritik war und der Tod Gottes die Bedingung des neuen Menschen, den das 20. Jahrhundert in die Wirklichkeit entließ. Das gemeinsame Ende von Atheismus und Monotheismus ist für die Gegenwart beschlossene Sache, die darin anhängige Streitsache inzwischen so unverständlich, dass sie bereits aus Verfahrensgründen in das Archiv abgelegter Begriffe überstellt wird. Posttheologisch, postmetaphysisch, postmodern, so lauten die Selbstanzeigen zur Bestandssicherung des anvertrauten Guts, das unter der trademark »Kultur« als Beute mitgeschleift wird. Gesellschaft und Universität stecken seit zwei Jahrzehnten in der Epoche von Biedermeier und Restauration. Dem entspricht eine archivarische Vorstellung von Geschichte, die im beschaulichen Geist des Sammelns und Hegens zu sich kommt und dann Archivtheorie heißt. Sie vollzieht die Verwandlung des Denkens in Museologie, sie spricht von großen und kleinen Texten, deren Summe das okzidentale Archiv konstituiert. Unter diesem Titel wird die theologische und philosophische Bibliothek Alteuropas entsorgt im Stile eines unfreiwilligen Hegelianismus mit Namen »Kulturwissenschaft«. Sie kulminiert im neuen Kult der Kultur, sie zieht aus dem vermeintlichen Ende der Metaphysik, aus der phantasierten Erschöpfung des Denkbaren die Lizenz, Plünderung und Kolportage auf die Höhe eines Methodenpostulats zu bringen, in dem hegemoniale und archivarische Ambitionen zusammenlaufen. Wir sehen dabei, mit anderen Worten, dem bürgerlichen Nihilismus der Gegenwart bei seinem Tagesgeschäft zu. Die Präsenz alttestamentarischer Stoffe in der jüngeren Geistesgeschichte – Kierkegaards Hiob, Freuds Moses, Thomas Manns Joseph, Joen Gionos Noé, Gides Le retour de l’enfant prodigue, Fuentes’ Terra nostra, Maradonas Mano de Dios – verweist auf etwas Unerledigtes, das weder durch die Kategorie der »Säkularisierung« zu entschärfen noch durch »Depotenzierung«4 ästhetisch zu emanzipieren ist. Darin wirkt die zweite Bedeutung des lateinischen Wortes religio fort, das Cicero von relego – wieder durchgehen, wieder durchlesen – ableitet. Mit dieser treuen wie untreuen Wiederholung verbindet sich eine Entstellung, welche den religiösen Texten einen Doppelsinn verleiht, der nicht nur ihre Erscheinung verändert, sondern sie an eine andere Stelle bringt, anderswohin verschiebt. Was die Heilige Schrift an Fundamentalem verliert, lässt ihre Ausdeutbarkeit an Boden gewinnen, Subjektivierung und Pluralisierung sind die Folgen der Verschiebung. Dieser Sachverhalt liegt den Geisteswissenschaften zugrunde. Alle Reformulierungen, Rekonstruktionen und Dekonstruktionen der literarischen Tradition sind Sekundärvorgänge, die sich vom Primärvorgang so unterscheiden wie die Arbeit am Welträtsel von den Arbeitbeschaffungsmaßnahmen für Akademiker. Auch die andere Bedeutung der religio, Bindung und Gebundenheit an Gott, kehrt verschoben und verschroben 3 4

Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, München 2005, F 576. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt am Main 2001, S. 327–406, hier S. 393.

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wieder in der kultischen Bindung an selbstreferentielle Literatur und Philosophie, deren weltentrückte Autoren nicht bezugslos zur Religion der Weltwirtschaft sind. Die ruhige Führung der Geschäfte wird von der ›Gewalt‹ ihrer Archivisten gewiss nicht behindert. Die alttestamentliche Genesis archivarisch zu nehmen, heißt von ihren Erzählungen im Perfekt zu sprechen. Doch in welcher Vergangenheitsform genau? Vollkommenheit ist eine theologische Kategorie, eine modale die Unterscheidung von Perfekt und Plusquamperfekt. Über den temporalen Index hinaus wird darin an etwas anderes erinnert. Nicht die nach Jahrtausenden zu bemessene Distanz zum Heute, nicht die historischen Phasen der Archaik, Frühzeit und Vorzeit, nicht die Fragen von Textgenese, Autorschaft, Verbalinspiration und Überlieferungsvarianten sind dabei wesentlich, sondern das Unerledigte der Genesis selbst. Wer sich auf sie einlässt – also auf die Geschichten der Weltschöpfung, des anthropomorphen Gottes und seines menschlichen Ebenbilds, Erkenntnis und Schuld, Natur, Herrschaft, Fluch der Arbeit und sabbatischer Frieden, Opfer und Brudermord, Sprache und Stigma, Katastrophe und Rettung – kann besser verstehen, warum der im Buch Mose erreichte Problemstand im Verhältnis von Mensch und Welt bis heute unüberwunden ist. Die gesamte europäische Geistesgeschichte arbeitet sich daran ab. Haben die Wissenschaften seither bessere Antworten gefunden? Das Abgründige – die Logiker sagen: das Aporetische – der Genesis-Geschichten, kaum merklich verschoben und verdichtet, macht das Abgründige des gegenwärtigen Weltzustands kenntlicher als alle Zeitkritik. Nur in diesem Sinne ist das erste Buch des Alten Testaments zu vergegenwärtigen: als Kopräsenz von Jetztzeit und einem Plusquamperfekt, das im Wortsinn »plus quam perfectum« zu verstehen ist: weder vorvergangen noch vergangen, nicht vorbei und vorüber, sondern im Hier und Jetzt umgehend und in die nahe Zukunft greifend. Dem naiven Glauben an das, was heute als Wirklichkeit zugemutet wird, wird damit der Rest gegeben. Als Indikativ, Imperativ und Konjunktiv erhält die Theologie ihren Realitätssinn zurück. »Und das unbestrittenste Recht hätte Gott, dass mit ihm der Anfang gemacht werde«.5 Hegels Satz aus Wissenschaft der Logik, die mit etwas Überlogischem beginnt, lässt sich auf einen Anfang ein, der logisch wie anthropologisch immer schon über sich hinausgegangen ist. Der Anfang als Entzweiung des Einen, das nicht bei sich bleiben kann, das es nicht bei sich aushält, wird sowohl durch seinen Singular zum Zwiespalt wie durch die theologisch beanspruchte Ursprungsmacht, die erstes, höchstes und bestes Sein wie selbstverständlich in eins setzt. »Und er sah, dass er gut war«: Der Arbeitsnachweis, mit dem der Genesis-Text jede creatio ex nihilo6 des Weltschöpfers zertifiziert, verbirgt einen Komparativ und einen Super5 6

G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Hamburg 1975, S. 63. »Die Vorstellung, dass der Mensch in seinem Schaffen an Material gebunden bleibt, während Gott aus dem Nichts hervorbringt, ist mittelalterlich, während die Auffassung vom Menschen als unumschränktem Herrn der Erde und der irdischen Natur charakteristisch für die Neuzeit ist. Beide

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lativ. Die Vergleichbarkeit kraft Gleichwertigkeit des Geschaffenen – Himmel, Erde, Licht, Wasser, Pflanzen, Tiere, Mensch – wird durch die Parataxe indiziert, sprachlicher Ausdruck unabschließbarer Einheit und herrschaftsfreier Stand der Versöhnung, anlog zum mosaischen Dekalog, der zwar die Herrschaft des Gesetzes errichtet, Gebote und Verbote aber auflistet und nicht nach ihrer Schwere bewertet. Der Superlativ schließt vom guten Werk auf die Güte des Werkmeisters, vom ersichtlich Guten auf den unvordenklich Besten, ohne dessen personale Natur in Frage zu stellen. Wer schafft was und warum? Am Ende seiner Neigung zu sich schafft Jahwe die Welt, erklärt die Bibel unzweideutig. Dagegen war die Philosophie Platons, wo sie sich auf kosmologische Fragen unter dem Primat des Guten einließ, unentschiedener, was die personale oder apersonale Natur des besten Grundes anging. Der bemerkenswerte Umstand, dass sowohl das erste Kapitel der Bibel als auch die Ideenlehre den Begriff des Guten als obersten Begriff setzen, verleiht dem streng objektiv gedachten platonischen Ideenkosmos das »Fluidum einer höheren Subjektivität«.7 In Variation der sokratischen Überlegung aus Platons Euthyphron, ob das Fromme fromm ist, weil es von den Göttern geliebt wird, oder ob die Götter es lieben, weil es fromm ist, ließe sich fragen, ob das Gute gut ist, weil es Gott geboten hat, oder hat er es geboten, weil es das Gute ist?8 Und wie der Schöpfungsbericht lässt Platons Höhlengleichnis Aufbau und Erkennbarkeit der Welt in einem Grund gründen, der nicht von dieser Welt, da ihre unbedingte Bedingung ist. Die Wahrheit muss überpersönlich werden, um nicht allzumenschlich zu bleiben, damit die Menschen in ihrem besten Part daran teilhaben können. Nietzsches Vermutung, dass jede große Philosophie ein ungewolltes und unvermerktes Selbstbekenntnis ihres Urhebers enthält, legt es nahe, auf den Schöpfer übertragen, im Gang von Geschichte und Welt die bis heute unabgeschlossene Autobiographie Gottes zu erblicken.9

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Auffassungen stehen in gewissem Widerspruch zu dem Geist der Bibel. Denn für das Alte Testament ist der Mensch der Herr aller lebenden Kreaturen, die zu seiner Hilfe geschaffen wurden; er bleibt ein Diener der Erde; und die Güter der Erde sind nicht Material für eine unabhängige, prometheische Schöpfungskraft« (Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1981, S. 452). Christoph Türcke, Der tolle Mensch – Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft, Frankfurt am Main 1989, S. 19. Der historisch unhaltbare Verdacht einer direkten Verbindung athenischen Denkens mit alttestamentlichem Geist hat Nietzsche dazu verleitet, von Sokrates und Platon, als sie die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, als »Juden oder ich weiß nicht was« (zitiert nach Türcke, Der tolle Mensch, S. 19) zu sprechen. »Nicht von ungefähr hatte ja der Pythagoräer Numenius von Apameia Platon ›einen attisch sprechenden Moses‹ genannt« (Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung, München, Wien 2003, S. 139). Vgl. Herbert Schnädelbach, »Mit oder ohne Gott? Ansichten des Atheismus«, in: ders., Religion in der modernen Welt, Frankfurt am Main 2009, S. 52–78, hier S. 59. Abzüglich ihrer Allmacht und Allwissenheit, also zuzüglich aller fabulatorischen Lizenzen, liegt diese autobiographische Perspektive Franco Ferruccis Die Schöpfung – Das Leben Gottes, von ihm selbst erzählt (München, Wien 1988) zugrunde.

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Was in den religiösen Texten – uralt, aber nicht ungeworden – festgehalten wird, ist für Erfahrung, Sprache und Denken fundamentaler als alle Genealogien, Kritiken und Transzendentalphilosophien des Diskurses. Carl Schmitts These aus der Politischen Theologie, wonach alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind, greift daher zu kurz. Denn nicht weniger als alle philosophischen Begriffe sind theologischen Ursprungs und nie restlos säkularisiert. Schmitts Analogien: Gott und Gesetzgeber, Souveränität und Dezisionismus, Ausnahmezustand und Wunder, benennen semantische Spätstadien des Gottesbegriffs. Der hat eine zweifache, griechische und jüdische Herkunft.10 Das griechische Verb rezein und das hebräische scham (sm) sind das Wortgedächtnis für diesen Sachverhalt. Rezein bedeutet sowohl »Opfer darbringen« als auch generell »handeln, tätig sein« und drückt aus, dass Opfern der Inbegriff menschlichen Handelns, die menschenspezifische Tätigkeit schlechthin ist. Das Wörtchen scham bedeutet »da«, und ist zumeist räumlich gemeint. In den Frühschichten des Alten Testaments gibt es die Formel Jahwe Zebaoth, was soviel wie »Herr der Heerscharen« heißt, zunächst im ganz irdisch militärischen Sinne eines israelischen Kriegsgottes. Als Gegenstück dazu bildet Ezechiel Jahwe schamah. Dadurch gewinnt schamah nahezu substantivischen Status: Jahwe, der Hier-Jetzt. Aber nicht als Epiphanie des Schreckens, wie am Berg Sinai oder in den Visionen der Prophetenbücher: bei Ezechiel wird eine Vision des Heils daraus. Wo Jahwe der Hier-Jetzt ist, hört alles Elend auf. Die Konsonantenfolge sm (scham) kommt auch noch als Substantiv vor und wird dann Schamah gesprochen, nur in der ersten Silbe mit kürzerem a, und bedeutet: Starre, Entsetzen, Schauder. »›Schamah‹ hat mich gepackt«, sagt Jeremia (8, 21) angesichts dessen, was sein Volk tut. Psalm 46, 9 spricht von den »schamot auf Erden«, den Jahwe bewirkt. Und schließlich heißt scham, wenn man es schem ausspricht, »Name«. Geschrieben wird beides gleich. Die Verfasser des Alten Testaments notieren ja nur Konsonanten. Rezein und scham, Handeln und Opfern, Handeln als Opfern, Entsetzen und Rettung, Entsetzen als Rettung, Name als Anruf und Gebet: Dieser Gegensinn der Urworte führt an den Primärprozess der Sprachbildung. Sie verraten etwas über die Entstehungslogik primärer Wortbildung im Primärprozess der Auseinandersetzung von Mensch, Gott und Natur. Ein halbes Jahrtausend später beginnt das im koinéGriechisch geschriebene Johannesevangelium mit den Worten En arché én ho logos »im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott«.11 Hier ist der Urtext längst überschrieben, also logifiziert, und das Wort Gott also souverän geworden. Aber Souveränität, die Entscheidung über den Ausnahmezu-

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Vgl. im Folgenden Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008, S. 62–64 und S. 180–183. Zur Unterscheidung des profanen vom sakralen Ursprung der Schrift im »Kainzeichen« vgl. Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code – Kritische Theorie der Schrift, München 2005.

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stand12, war ursprünglich gar kein politischer Akt in einer kultfreien Sphäre, sondern die ganz unsouveräne, angstgetriebene Reaktion von Hominidenkollektiven auf den Naturschrecken, dem man durch Opfer begegnete. Das Opfer ist, wie später das Gebet, die archaischste Form des Tausches. Das Menschenopfer ist der erste Ausnahmezustand. Das Alte Testament bewahrt dessen Spur, noch wo es, wie bei Abraham und Isaak, das Tieropfer an seine Stelle setzt. Das dritte Buch Moses schließlich, gleich nach Schöpfung, Sündenfall und den Zehn Geboten, befasst sich fast ausschließlich mit den Gesetzen, Riten und Festen des Opfers. So ist die alttestamentarische Genesis als Archiv elementarer Prozesse der Menschwerdung zu entziffern. Die Bibel stellt ein immenses Archiv von Begriffen und Figuren, Praktiken und Dispositionen dar, deren analytisches, im höchsten Maße ambivalentes Potential die Gegenwart im vollen Umfang betrifft.13 Was zur Stunde als »Wirtschaftskrise« gefeiert wird, ist die Wiederkehr archaischer Opfer- und Schlachtfeste. Das Wort »Bibel« ist griechischen Ursprungs. Nach der syrischen Hafenstadt Byblos nannten die Griechen sowohl den von dieser Küste eingeführten Papyros als auch das beschriebene Blatt, die Schrift- oder Buchrolle, byblos.14 Régis Debrays Lesart des Leben Gottes – Dieu, un itinéraire – deutet den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten als territoriale, mediologische und theologische Bewegung. Die Migration bringt eine Umcodierung Gottes mit sich. Die steinernen Transzendenzen, die schweren Götter Ägyptens waren nicht reisefähig, die Sichtbarkeit ihrer übergroßen Bildnisse hatte ihren ersten und letzten Wohnsitz am Rand der Wüste – Pyramide und ewige Residenzpflicht sind synonym. Erst wenn der Stein durch die Schriftrolle ersetzt wird, hören die unverrückbaren Götter auf, Immobilien zu sein. Damit geht das Göttliche mit einem Schlag in andere Hände über: Von den Architekten gelangt es zu den Archivisten, das Monument wandelt sich zum Dokument, der Glaube stützt sich auf die Schrift, die ihre Evidenz nicht in der Schau, sondern im Glauben hat. Die schriftgebundene Offenbarung zerschneidet die Verbindung von statischem Raum und starrer Transzendenz und verrückt den Gott ins Außerweltliche. Die jüdische Verschriftlichung Gottes bewirkt seine Übersetzung ins transportable Register. Beweglichkeit und Treue, Wanderschaft und Zugehörigkeit 12

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Spezifisch argumentiert Türcke hier gegen Giorgio Agambens hom*o sacer. »Nur wenn man Jahrtausende von Kultgeschichte ausblendet, kann man darauf verfallen, ›jenseits des Strafrechts wie des Opfers‹ den ›eigentlichen Ort‹ des hom*o sacer zu suchen und zu behaupten, er stelle ›die ursprüngliche Figur des in Bann genommenen Lebens dar und bewahrt das Gedächtnis der ursprünglichen Ausschließung, mittels deren sich die politische Dimension konstituiert‹« (Türcke, Philosophie des Traums, S. 187). Vgl. Hent de Vries, Philosophy and the Turn to Religion, Baltimore, London 1999, S. 35. »This alone might be sufficient reason to reinvoke the semantic, hermeneutic and critical resources of the historical phenomenon called religion« (ebd). Vgl. Harald Haarmann, Universalgeschichte der Schrift, Frankfurt am Main, New York 1991, S. 242 f.

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hören damit auf, Gegensätze zu sein. »Avec un absolu en caisse, un Dieu coffré, l’endroit d’où l’on vient compte moins que celui ou l’on va, le long d’une histoire dotée de sens et de direction. Sans cette logistique, la flamme monotheiste auraiteelle pu survivre à tant de déroutes?«15 Als Vermittlung von Gott und Mensch wird die Schrift theomorphes Medium. Sobald dies vergessen wird, verselbständigt sich die Kategorie der Vermittlung. Wo Vermittlung an die Stelle des zu Vermittelnden tritt – medium is message –, wird die verabsolutierte Vermittlung Mythos, die Schrift, die nichts mehr vermittelt, zum selbstgenügsamen Gott. Was aber vermittelt die Bibel? Die aus Griechenland kommende »Heilslehre«16 mit Namen Philosophie verdankt ihre Macht einer Trennung: das Sein des Parmenides, die Ideen Platons, die Lehren vom Schluss, Beweis, Gegensatz und Widerspruch in der aristotelischen Logik sind gleichwie getrennt von dem Stoff, aus dem wir selber sind: jene Zweideutigkeit des Lebens, die durch eben diese Trennung in Eindeutigkeit transponiert wurde. Herausgeworfen wird alles, was sich dem nicht fügt: die Triebe von Hunger und Durst, die Sphäre der Arbeit, die Geschlechterspannung, die Ambivalenz des Politischen. Wohin verschwindet das, was der vergöttlichten Vernunft zum Preis ihrer Reinheit ausgetrieben wurde? Weil es das Leben und den Menschen denken soll und nicht kann, hält es das Denken nicht bei sich aus. Diese Gebrochenheit kehrt mit aller Macht wieder. Sie kehrt wieder in den Mythen der Religionen, wo »die Gattungsgeschichte mit all ihren Zweideutigkeiten und Verdrängungsmechanismen offenbar« wird, auch auf die Gefahr hin, dass »Philosophie und Theologie zuletzt ununterscheidbar werden«17 und so schwer auseinander zu halten wie Platons Lehre von Urbild und Abbild vom jüdischen Gott, der den Menschen »zu seinem Bilde« (1. Mose 1, 27) schuf. Interessant ist der Stoff, den die Religionen präsentieren, weil die Konflikte, die darin festgehalten werden, immer noch andauern. Religion ist »kollektives Selbstbewusstsein und kollektive Selbstreflexion«18, Zeugnis der mehrtausendjährigen Geschichte des Gattungswesens Mensch, Knotenpunkt des Menschen auf dem Weg zu sich selbst. Auf das hin, was durch Kontemplation und Ideenschau an Realität liegen gelassen wurde und sich mitsamt aller traumatischen Erfahrung in 15

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Régis Debray, Dieu, un itinéraire. Matériaux pour l’Histoire de l’Eternel en Occident, Paris 2003, S. 130. In der dreiphasigen Geschichte der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ordnet Debray die ägyptische und jüdische Religion verschiedenen Typen von Bild, Repräsentation und Reproduktion zu. »Dans la logosphère, qui suit l’invention de l’écriture, ce qui était vraiment était absent. Le soupçon portait sur le visible […] Pour deux monothéismes sur trois, le Tout-Puissant n’a visage ni corps. Il est parole« (Régis Debray, Vie et mort de l’image, Paris 1992, S. 501). Zur Hybridisierung von Theologie und Mediologie bei Debray vgl. Peter Sloterdijk, Derrida ein Ägypter – Über das Problem der jüdischen Pyramide, Frankfurt am Main 2007, S. 48–53. Vgl. im Folgenden Klaus Heinrich, Anthropomorphe – Dahlemer Vorlesungen, Basel, Frankfurt am Main 1986, S. 30 f. Ebd., S. 9. Ebd., S. 14.

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der Religion darstellt, sind die Genesis-Texte zu lesen und in Aufklärung, zumindest in doppelte Buchführung, zu übersetzen.

Schöpfung Im Genesis-Bericht zu Beginn des ersten Buch Mose entstehen Mensch und Welt aus dem schöpferischen Wort Gottes. Diese Theologie ist auf ihre Logik durchsichtig zu machen. Sie hat die Form einer kosmologischen Frage: Wie wird aus nichts etwas, oder, wie Leibniz später formuliert: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Darauf gibt die Bibel eine klare Antwort: Alles, was ist, verdankt das Sein einer unvordenklichen Tat Gottes, creatio ex nihilo.19 Die konkurrierende Kosmologie, die Theorie vom Urknall, die vielen um vieles glaubhafter erscheint, ist dagegen logisch inkonsistent. Sie setzt voraus, was sie beweisen will: das Sein. Denn, wie immer entstofflicht, subatomar oder energetisch ich auch die Materie denke, ich darf sie nicht in Nichts verflüchtigen. Irgendetwas muss ja da übrig bleiben, was da knallen soll. Damit aber wird der Urknall selbst erklärungsbedürftig anstatt die Erklärung zu bringen. Diese Aporie des Ursprungs zumindest kennt die Genesis nicht. Für die Verfassung der Wissenschaft ist es im Übrigen bezeichnend, dass sie den Anfang der Erde in Gestalt einer ungeheuren Explosion entwirft, also nach dem Modell einer atomaren Katastrophe, die das vermutliche Ende menschlichen Lebens auf Erden sein dürfte. Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie beruhen auf zwei unvereinbaren Begriffen von Ursache und Folge, die beide auf die analytisch unlösbare Aporie des Anfangs verweisen. Für den religiösen Glauben ist der Schöpfer größer als das Geschaffene, die Ursache komplexer als die Wirkung. Deshalb steht die Vollkommenheit der Schöpfung am Anfang, deren weitere Entwicklung der Perfektion hinterherläuft, um sie in dem als Vollendung gedachten Ende der Welt wieder vor sich zu haben. Die Evolutionslehre kehrt diese Prämisse um. Durch Anpassung und Selektion gehen in der Geschichte des Lebens komplexe Systeme aus weniger kom19

Wenn das »Nichts«, in das der souveräne Gott sein schöpferisches Wort hineinspricht, nicht bereits zu viel negative Ontologie enthielte, ließe sich der Ausbruch ins Sein mit dem Aufbruch des Volkes Israel aus dem Leerraum Ägypten in Beziehung setzen. Kosmische und normative Gesetzgebung haben dieselbe Herkunft. »Dem Pentateuch zufolge ist es die souveräne Entscheidung der göttlichen Erwählung, die eine in Ägypten versprengte und versklavte ethnische Gruppe überhaupt erst zum Volk werden lässt; zugleich entsteht nur durch diese Ordnungsleistung ein kollektives Subjekt, das sich unter der Leitung von Mose im Modus der Selbstverpflichtung dafür entscheiden kann, mit Gott einen Bund zu schließen und dadurch Platz zu schaffen für die Thora als der alle Lebensbereiche umfassenden Gesetzgebung. Dieser creatio ex nihilo eines neuen normativen Universums durch die souveräne Entscheidung Gottes fügt die jüdische Offenbarungstheologie später auch die Schöpfung des natürlichen Universums aus dem Nichts hinzu« (Herbert Schnädelbach, »Zur politischen Theologie des Monotheismus«, in: ders., Religion in der modernen Welt, S. 107 f.).

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plexen Bedingungen hervor. »Damit verliert der Anfang seine Dignität, ohne dass das Ende sie dadurch gewönne«.20 Unendliche perfektible Entwicklung ersetzt die Perfektion des Anfangs. Natürlich sind die Probleme der Letztbegründung damit nicht gelöst. Zwar scheint die Selbsterklärung von Prozessen durch ihren Anfang evolutionsgeschichtlich verzichtbar, das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit ist damit aber nicht aus der Welt. Von theologischer Seite lassen sich Tod und Auferstehung Christi ebenso wie die Schöpfung als Offenbarung einer Möglichkeit deuten, die nicht mehr wirklichkeitsbedingt ist: Negation der Unmöglichkeit und Negation der Notwendigkeit.21 Übersetzt in die Sprache des Glaubens: Gnade oder Wille Gottes. Alle modaltheoretischen Fassungen von Möglichkeit und Wirklichkeit, an denen sich Theologie, Literatur und Philosophie seither abarbeiten, vom kontingenten Futur der Seeschlacht bei Aristoteles über Leibniz’ Exzess der Possibilitäten im Palast der Schicksale bis hin zu Bartlebys I would prefer not to stehen in Nachfolge dieser Unmöglichkeit oder dieses Ereignisses. Eine Möglichkeit, die durch keine Wirklichkeit mehr bedingt ist, dieses Paradox kehrt wieder beim Versuch, den Geist aus der Materie herleiten zu wollen. Der Streit zwischen Monismus und Dualismus ist alt. Seine aktuelle Front bildet die Selbstermächtigung der kognitiven Neurobiologie, Freiheit und Bewusstsein auf neuronale Prozesse zu reduzieren. Bewusstsein wird mit einem besonderen Typ von Synapsen in ursächliche Verbindung gebracht. Es gibt zwei Arten von Synapsen, welche die neuronale Erregung von Neuron zu Neuron, von Nervenzelle zu Nervenzelle weiterleiten. Zum einen chemische Synapsen, bei denen die elektrische Erregung durch chemische Botenstoffe, Transmitter, weitergeleitet wird, zum anderen elektrische Synapsen, bei denen zwei Nervenzellen über sehr enge Zellkontakte, »gap junctions«,22 verbunden sind, durch welche die elektrische Erregung von einer Zelle zur anderen hinüberläuft. Der Ausdruck »gap junction« zeigt an, dass dieses Hinüberlaufen in Wahrheit ein Hinüberspringen ist. Dieser Sprung, dieser Riss, ist das neuronale Elementarereignis, er unterbricht die Kontinuität von Ursache und Folge, Reiz und Reaktion. Der »gap« steht im neuronalen Code für die Offenheit, die Indetermination der neuronalen Anschlüsse und damit für eine Diskontinuität, deren älterer, philosophisch-theologischer Name Freiheit ist. Dasselbe Problem der Selbstvoraussetzung der Freiheit hält auch die Geschichte des Sündenfalls fest. Sie transzendiert biologische Beschreibbarkeit. Die sogenannte Neurotheologie, die religiöse Erfahrungen und Gefühle in bestimmten Hirnarealen verorten will, hat daraus die weitgehendsten und naivsten Konsequenzen gezogen. In einer Spätform 20 21

22

Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1996, S. 166. Vgl. Eberhard Jüngel, »Die Welt als Wirklichkeit und Möglichkeit«, in: Evangelische Theologie 29 (1969), S. 417–442. Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit – Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt am Main 1994, S. 38. Vgl. Michael Pauen, Illusion Freiheit? – Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt am Main 2004; Detlef B. Linke, Die Freiheit und das Gehirn. Eine neurophilosophische Ethik, München 2005.

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des Literalglaubens vermeint sie durch Hirnforschung endlich die Mittel in die Hand zu bekommen, um die Frage ›Wo ist Gott?‹, die Schleiermachers Spekulation über die »Religion als einer besonderen Provinz im Gemüte«23 regional eingrenzte, durch neuronale Heimatkunde zu klären. Besondere Bedeutung kommt der Erschaffung des Menschen zu. Gott spricht: »Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei […] Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib« (1. Mose 1, 26–27). Das stereotype Zitat der Gottesebenbildlichkeit bedarf der Erläuterung. Die Bibelexegese weist darauf hin, dass der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit keine Allgemeinheit biblischen Denkens ist, sondern im Alten wie im Neuen Testament eine »theologische Spitzenaussage«24 darstellt, die im Ganzen eine allenfalls marginale Rolle spielt. Vom Lebensbeginn spricht die Bibel nur selten auf der Ebene theologischer Begründungen, häufig dagegen sehr physisch; so die hymnische Sprache religiöser Poesie von Psalm 139 (13–14) über die embryonale Entwicklung: »Du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin«. Hiob jedoch spricht vom Beginn seines Lebens als dem Beginn seiner Klage (10, 8–9; 3, 11–12): »Deine Hände haben mich gebildet und bereitet, danach hast du dich abgewandt und willst mich verderben? […] Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam?« Das Christentum entnimmt die Gestalt des Gottessohns keiner theomorphen Idealgestalt des Menschen, es nimmt Maß am leidenden und gekreuzigten Christus. Von ihm sagt der Prophet Jesaja (53, 2): »Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte«. Neben den Aussagen vom gottgleichen Menschen stehen also gegenläufige, welche die Differenz von Schöpfer und Geschöpf hervorheben. Am Gegenpol der Formverwandtschaft von Gott und Mensch findet sich die Anthropomorphismuskritik des Alten Testaments. Dort soll man sich kein Bild machen von einem Gott, der von sich sagt: Ich bin, der ich bin.25 Die Kritik an der Selbstverdopplung der Menschen in ihren Göttern ist fällig, was aber die Auflösung von Theologie in Anthropologie verhindert, ist eine Menschheit, die, angesichts des schreienden sozialen Elends weltweit, sich selbst nicht genug ist, die nicht einmal ihrem eigenen Begriff gerecht wird, geschweige denn dem Gottes 23

24

25

Friedrich Schleiermacher, Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin, New York 1998, S. 72 (1. Rede). Über Gott als erstem Inhalt des menschlichen Nervensystems vgl. Christoph Türcke, »Religionskritik zweiten Grades«, in: Ingolf U. Dalferth, Hans-Peter Grosshans (Hg.), Kritik der Religion – Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006, S. 319–329. Ulrich H. J. Körtner, »Lasset uns Menschen machen« – Christliche Anthropologie im biotechnologischen Zeitalter, München 2005, S. 106. Zur Kritik an menschengestaltigen Göttern zwischen Xenophanes und Marx, zur morphologischen Ambivalenz des Bildes als Gestalt und Begrenzung des Göttlichen, zum Nicht-Aufgehen des Göttlichen in einer Gestalt vgl. Klaus Heinrich, Anthropomorphe, S.12–54 und S. 274–318.

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Bild. Die Frage, was der Mensch sei, beantwortet die biblische Genesis mit der Gottesebenbildlichkeit, nicht als Konstruktion oder Beschreibung, aber als zwingenden Optativ, die Bitte des Vaterunser – wie im Himmel so auf Erden – nach Menschenmöglichkeit gesellschaftlich zu realisieren. Aber hat die Religion noch etwas zu sagen, was nicht auch ohne sie gesagt werden könnte, nur unmetaphorischer? Unterscheidet sich das Archiv von der Registratur hinsichtlich der Aufbewahrungsfristen, so kommt dem nächsten Gebetsvers Unser tägliches Brot gib uns heute ungeheure Bedeutung zu. Das »Heute« ist, was alle teilen, das »tägliche Brot«, das, was alle teilt. Inmitten einer Welt von Brotfabriken wächst die Zahl der Hungernden in den Himmel, proportional zu denen, die den Mangel im Überfluss reproduzieren. Solange die Menschheit sich nicht als eine begreift und auf der einen Erde einheitlich handelt, hat sie nichts nötiger als die wieder und wieder an den einen Gott gerichtete Bitte. Sie will die menschliche Wiederholungslogik konvertieren. Wohin? Mit nicht nur erbaulichem Ton bat Brecht die Nachgeborenen: Ihr aber, wenn es soweit sein wird Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unsrer Mit Nachsicht.26

Sündenfall Der Schöpfungsbericht stellte die Frage nach dem Anfang, aber erst die Frage des Ursprungs von Gut und Böse steht vollends vor der analytisch unlösbaren Paradoxie, die immer dann entsteht, wenn die Freiheit an den Anfang gesetzt wird. Theologie und Philosophie teilen dasselbe Problem. Wer von Platons Gefangenen gelangt als erster aus der Höhle hinaus, in der ihm nichts fehlte, außer dem, was erst nach Verlassen der Höhle frei einsehbar wird? Warum vermag Dante nicht aus eigener Kraft das, was ihn ängstigt, zu verlassen und sich auf die Reise zu Gott zu begeben, für welche die Höllenetappen nur Anfangserschwernisse darstellen? Warum spricht Kant von der »selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen«, wenn doch der Ausgang daraus einen Eingang voraussetzt, den es gar nicht geben dürfte? Beim Sündenfall wiederholt sich das Problem, das zeigt, warum das Paradies so paradiesisch nicht gewesen sein kann. Denn das merkwürdige Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis nicht zu essen, kann der Mensch doch überhaupt nur zur Kenntnis nehmen, wenn er bereits das Wissen um gut und böse hat, das aus der Übertretung des Verbots erst entspringen soll. Wenn Gott die Evidenz, die das Paradies für seine Bewohner hatte, um ein Verbot ergänzt, das den Abgrund zwischen Sein und 26

Bertolt Brecht, »An die Nachgeborenen«, in: ders., Gedichte 2, Berlin 1988, S. 87.

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Urteilswahrheit aufreißt, kann die Sphäre der Evidenz nicht ganz irrtumsfrei gewesen sein. Ein Gott, der gebietet, gibt sich die erste Blöße, denn die Verführbarkeit ist Zeichen der Schwäche der Kreatur, aber auch das Indiz, ein Stück weit schon frei gewesen zu sein. Es sei denn, die Unentrinnbarkeit der Sünde korrespondierte der Unentrinnbarkeit des trügerischen Gottes. Die Aneignung des Wissens vom Baum der Erkenntnis, das die Schlange verspricht, hat eine passive Grundstruktur. Aus dem Bestimmtwerden geht die Bestimmung der Menschen zu einem Tun namens Arbeit hervor. Auf der Tat dieser Untat lastet der göttliche Fluch. »Weil du das getan hast, seiest du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde […] verflucht sei der Acker um deinetwillen. Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang […] Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist« (1. Mose 3, 14, 17, 19). In der eben erschaffenen Welt, von dem die ersten beiden Kapitel der Bibel berichten, kann es Arbeit nicht geben. Deshalb wird der Mensch im Paradies von Gott zwar zur Arbeit bestimmt: »füllet die Erde und machet sie euch untertan« (Gen 1, 28), ohne dass irgendeine konkrete Tätigkeit geschildert wird. Wie auch, wenn nichts anliegt, das zu tun wäre? Denn die Arbeit lässt sich nicht schildern, ohne den Fluch bereits vorauszusetzen, der die Harmonie zerbricht. Rechtfertigungen des status quo auf dem Niveau theologischer Theorie sind sehr alt. Neu ist, dass sich gattungsgeschichtlich erst der vollständige »Sieg des animal laborans«27 realisiert haben musste, damit sich der biblische Bann vollends bewahrheiten kann. Der älteste Konflikt, nämlich die Sache der Freiheit gegen Zwangsherrschaft aller Art, wird zur gegenwärtigen Weltstunde erbitterter denn je ausgetragen. Dass ihre Uhren aus sich selbst laufen, besagt keineswegs, dass der Uhrmacher verschwunden ist. Der Gegenstand der Apotheose hat sich lediglich verschoben. Arbeit sans phrase hat sich als das Absolute durchgesetzt, wenn nicht der Arbeitsbegriff selbst, an dem die Rechtfertigungslehre hing, zu hoch gegriffen ist in einer Gesellschaft der jobholders, die Synonym für das bloße Weitermachen sind. Reproduziert wird damit ein Zustand, wo jeder durch Unglück und Not anderer auf seine Kosten kommt. Dem biblischen Anfang der Geschichte, als noch keine Menschen die Geschichte machten, entspricht ihr auf Dauer gestelltes Ende, in dem es keine Menschen mehr sind, die die Geschichte machen, welche sich an ihnen vollstreckt. Mit der Vertreibung aus dem Paradies ist das allgemeine Gesetz benannt, unter dem die Arbeit seither wie unter einem Bann steht. In der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, so Türcke, kehrt der biblische Fluch der Arbeit in denkwürdiger Verkehrung wieder. Als Naturwesen müssen die Menschen arbeiten, um zu leben. Aber ob sie auch arbeiten dürfen, hängt nunmehr davon ab, ob der Kapitalprozess ihrer Arbeit auch bedarf. Die Profitmaximen des Marktes bestimmen den Bedarf an Arbeit, der nicht in der Macht des Einzelnen steht. Daher ist im »Abschluss eines jeden Arbeitsvertrages, so wenig es die Beteiligten auch ahnen 27

Vgl. Arendt, Vita activa, S. 407–417.

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mögen, ein theologisches Ereignis«28 zu sehen. Ob das Angebot, dass das arbeitswillige Individuum von sich macht, auch angenommen wird, ist Gnade. Das theologisch unlösbare Problem, wie das Zusammenwirken von Gnade und freiem Willen widerspruchsfrei zu denken sei, wird praktisch gelöst. Im Arbeitsvertrag gelingt es dem Kapital, den Fluch der Arbeit als Segen auszugeben, einen Segen, den es gnädig austeilt oder gnadenlos verweigert. Die Freistellung von der Arbeit jedoch realisiert sich als Fluch. Arbeitslosigkeit ist die unfreiwillige Parodie der Sehnsucht nach Erlösung von der Arbeit. Solange sich die Menschheit nicht entschließen kann, dem diabolischen Bewegungsgesetz der Gesellschaft gerade ins Auge zu blicken, werden die Folgen des Sündenfalls die Gottesebenbildlichkeit des Menschen verdecken. Die Besinnung auf das, was wir tun, wenn wir tätig sind, ist viel dringender als die Fixierung auf das, was wir tun könnten, wenn wir nicht tätig sind. Die Alternative von Arbeit und Arbeitslosigkeit ist falsch. Richtig ist daran nur der Aufweis des Dilemmas einer falschen Ökonomie. Denn im Gegensinn zu den sehr realen, sehr irrationalen Tendenzen – mehr arbeiten, länger arbeiten, härter arbeiten, billiger arbeiten – liegt das vernünftige Ziel gar nicht in der Vollbeschäftigung, sondern in der Minimierung der gesamtgesellschaftlich anfallenden Arbeit, die nicht erst infolge der digitalen Revolution immer weniger wird. Selbst kapitalfreundliche Analytiker gehen davon aus, dass im 21. Jahrhundert nur noch ein Fünftel der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung gebraucht wird, um die zum Leben notwendigen Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Wer wirklich will, was die kapitalistische Gesellschaft in Aussicht stellt, muss eine andere Gesellschaft wollen. Archivtheoretisch reformuliert: Sobald erkannt wird, dass die systematisch Waren, Krisen, Kriege, Demokratien und Diktaturen hervorbringenden Institutionen und Organisationen zur laufenden Aufgabenerfüllung nicht mehr notwendig sind, wird erinnerlich, dass die Bewusstseinsurkunden längst bereit liegen, sie endgültig zu schließen.

Geschlechtertafel Dies ist die Geschlechtstafel Adams: Am Tage, als Gott den Adam (= den Menschen) schuf, gestaltete er ihn nach Gottes Ebenbild; als Mann und Weib schuf er sie und segnete sie und gab ihnen den Namen ›Mensch‹ damals, als sie geschaffen wurden. Adam aber war 130 Jahre alt, als ihm ein Sohn geboren wurde, der ihm als sein Abbild glich und den er Seth nannte. Nach der Geburt Seths lebte Adam noch 800 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit Adams 930 Jahre; dann starb er. Als Seth 105 Jahre alt war, wurde ihm Enos geboren. Nach der Geburt des Enos lebte Seth noch 807 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug 28

Christoph Türcke, Kassensturz – Zur Lage der Theologie, Frankfurt am Main 1992, S. 114.

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die ganze Lebenszeit Seths 912 Jahre; dann starb er. Als Enos 90 Jahre alt war, wurde ihm Kenan geboren. Nach der Geburt Kenans lebte Enos noch 815 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit des Enos 905 Jahre; dann starb er. Als Kenan 70 Jahre alt war, wurde ihm Mahalalel geboren. Nach der Geburt Mahalalels lebte Kenan noch 840 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit Kenans 910 Jahre; dann starb er. Als Mahalalel 65 Jahre alt war, wurde ihm Jered geboren. Nach der Geburt Jereds lebte Mahalalel noch 830 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit Mahalalels 895 Jahre; dann starb er. Als Jered 162 Jahre alt war, wurde ihm Henoch geboren. Nach der Geburt Henochs lebte Jered noch 800 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit Jereds 962 Jahre; dann starb er. Als Henoch 65 Jahre alt war, wurde ihm Methusalah geboren. Henoch wandelte mit Gott; er lebte nach der Geburt Methusalahs noch 300 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit Henochs 365 Jahre. Henoch wandelte mit Gott und war plötzlich nicht mehr da, denn Gott hatte ihn hinweggenommen (vgl. Hebr 11,5). Als Methusalah 187 Jahre alt war, wurde ihm Lamech geboren. Nach der Geburt Lamechs lebte Methusalah noch 782 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit Methusalahs 969 Jahre; dann starb er. Als Lamech 182 Jahre alt war, wurde ihm ein Sohn geboren, den er Noah (d.h. Trost, Ruhe) nannte; »denn«, sagte er, »dieser wird uns Trost verschaffen bei unserer Arbeit und bei der Mühsal, die unsere Hände durch den Acker haben, den der Herr verflucht hat«. Nach der Geburt Noahs lebte Lamech noch 595 Jahre und hatte Söhne und Töchter. Demnach betrug die ganze Lebenszeit Lamechs 777 Jahre; dann starb er. Als Noah 500 Jahre alt war, wurden ihm seine Söhne Sem, Ham und Japheth geboren. (1. Mose 5)

So lautet die Genealogie der alttestamentlichen Menschen, die mit ihren Kindeskindern in absteigender Linie durch Abstammung verbunden sind und im selben Abstand stehen. Diskreter spricht diese Genealogie von der Macht der Nacht, der sich die Nachfahren verdanken. Die Geschlechtertafel im Fortpflanzungsmodus, die 1. Mose 11 noch von Sem bis Abraham verlängert, unterscheidet sich grundsätzlich von bürgerlichen Familienchroniken im Stile der Buddenbrooks. Die Abfolge derer, die lebten und starben, bleibt nicht der Familienraison unterworfen, die doch immer nur Damen und Herren von Welt hervorbringt, die nur Pardessus am Leibe tragen, nie Überweltliches. Dem sehr am Lübischen Patriziat abgelesene und auf sie proji*zierte Wovonher steht ein ganz anderes Woraufhin der orientalischen Juden entgegen: der Exodus aus Soll und Haben überhaupt. »Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod«, bilanziert Thomas Buddenbrook. Seine begabtesten, mithin weltlosesten Nachkommen haben dann nur noch Psychiatrie und Kunst vor sich. Weil Glück und Erfolg nicht auf Dauer zu stellen sind, muss das Alte Testament mit anderen Fristen rechnen. Weil die Schöpfungsgeschichte, zumal in der Fortzeugung der Geschöpfe auf anderes als die ewige Wiederkehr des Glei-

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chen plus Erbstreit ausgerichtet ist, also auf Erlösung, heißt »vergangen« nicht mehr nur »vorangegangen« im Tod. An keiner Stelle handelt die Generationenfolge von 1. Mose 5 von Erbe und Besitz, der Weitergabe des Geschirrs. Augenscheinlich verdienen die Menschen besseres als Hab und Gut. Ihre Bedingung, die Sesshaftigkeit selbst, wird diskreditiert, wenn in Aussicht gestellt wird, dass das Festsitzen und Nichtwegkönnen auf Erden nicht das letzte Wort sein muss. Heilsökonomisch doppelte Buchführung treibt die biblische Chronik in Noahs Sinne, der auch nicht auf eigene Kreide zecht. Die lakonische Reihung, das parataktische »und« der Geschlechterfolge stellt die Zeit, das unabsehbare »und so weiter«, als naturgeschichtliche Größe vor. Zum anderen aber liegt darin, und das ist der qualitative Sinn von Unendlichkeit, dass Zeit weiter reicht als die Geburtenfolge der Menschen, weiter als die Entstehung organischen Lebens, weiter als Entstehung und Ende der Erde selbst. Religionssoziologisch gehört der Stammbaum zum Typus der traditionellen Legitimation durch Herkommen und Geburt. Neu daran ist, dass nicht einfach weltliche Herrschaft transzendent legitimiert werden soll, sondern die Auserwählung Israels als Volks Gottes, das erst durch Moses bündnisfähig wurde, das seit den Pharaonen zahllosen Zwingherren unterstand, sich aber nicht mehr durch seine Stellung in weltlichen Reichen begründete, sondern durch die befreiende Erfahrung des Exodus aus Ägypten, der einen anderen Exodus verheißt. So wie Adam als Gottes Ebenbild geschaffen wurde, verblieben alle postadamitischen Juden im Verhältnis des Abbilds zum Urbild, dessen Macht mit der Entfernung zu ihm anwuchs. Nicht auszudenken, wenn Geburt, Geschlecht und Lebensdauer der Generationen ebenso Gegenstand eines Vertrags zwischen Jahwe und seinem Volk geworden wären wie die Abmachungen am Berg Sinai. Bereits die liefen auf eine Teilung der Souveränität (die politische als abkünftig von der göttlichen, die göttliche dekalogisch der politischen verpflichtet29) im nachmosaischen Judentum hinaus. Wären auch die Modi der Selbstreproduktion der Gattung uneingeschränkt verhandlungsfähig geworden, hätte sich das Verhältnis von Jahwe und Juden in Parität verwandelt und der Grund des Vertrags in nichts. Das konnte nicht sein. So blieb nur die souveräne Ergebenheit, das, was seit Menschengedenken nicht anders sein konnte: Geburt, Leben und Tod zu dem zu erheben, was nicht anders sein durfte: zum Willen eines einzigen Gottes. Damit zieht sich der Schöpfer aus dem Tagesgeschäft des Gebärens und Zeugens zurück. Die Nomenklatur von 1. Mose 5 legt die Resultate der ersten Arbeitsteilung der Geschlechter im Fleische vor. Je nachdem, welcher der beiden biblischen Versionen 29

Für Schnädelbach ist nicht der Wahrheitscharakter der Moses geoffenbarten Gottesworte zentral, sondern die Richtigkeit der Offenbarung, die Gehorsam verlangt. »Deswegen kann es sich bei der ›Mosaischen Unterscheidung‹ nicht wirklich um die zwischen wahr und falsch, sondern zunächst nur um die zwischen richtig und falsch gehandelt haben« (Herbert Schnädelbach, »Zur politischen Theologie des Monotheismus«, in: ders., Religion in der modernen Welt, S. 110).

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der Schöpfungsgeschichte geglaubt wird, wird das paradiesische Paar – »als Mann und Weib schuf er sie« (vgl Mose 1, 27, Matth. 19, 4) – als ursprünglicher Plural des Menschen begriffen, oder die Vielheit des Menschen wird aus der Vervielfältigung der einen Rippe erklärt, die Frau dem Mann damit produktionslogisch nachgeordnet. Darüber entbrannte mit großem Getöse ein Streit, der bis heute anhält und der allen Betroffenen viel Ärger, aber auch viele Forschungsprojekte einbrachte. Dagegen verteilt die erste Version den Nachteil, geboren zu sein und alles, was in Ansehung seiner Vorteile entstand, gleichmäßig auf beide Geschlechter. Was in beiden Fassungen beibehalten wird, ist der Fluch, der nach dem Sündenfall neben der Arbeit auch das Gebären trifft. »In Mühsal und Schmerzen sollst du Kinder gebären«, so dass jeder Weltneuling allemal schmerzerfahren seinen Dienst auf Erden antritt, was ihm später, beim Eintritt in die Arbeitswelt, als unbezahltes Praktikum und unvordenkliche Expertise zugute kommt. Dass Beschwernis der Arbeit und Beschwernis der Geburt überhaupt parallelisierbar sind, verdankt die alttestamentliche Exegese einem abseitig roten Rabbiner aus Trier, den es ins Weltliche verschlug, das für ihn alles andere als ein Geschäft sein sollte. Karl Marx in der Deutschen Ideologie: »dass die Menschen, die ihr eigenes Leben täglich neu machen, anfangen, andere Menschen zu machen […] Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung machen […] durch Arbeit produziert der Mensch sich selbst, durch Zeugung produziert er andere«.30 Die Gleichsetzung von Fruchtbarkeit und Produktivität, Natalität und Herstellung verliert seit der Entfesselung der Produktivkräfte im 19. Jahrhundert alles Metaphorische. Der Kapitalismus der Gegenwart setzt nicht nur Wirtschafts- und Lebensprozesse zusehends in eins, sondern greift hinter den Anfang des Lebens zurück, wenn biologisches Design das Sein ersetzt und pränatale Klassenkämpfe verspricht. Infolge der Minderung des paradiesischen Lebens nimmt die Lebenserwartung von Generation zu Generation ab, bis sie schließlich nur noch fünfmal so lang ist wie die mittlere Lebensdauer, welche die heutige Medizin für die nahe Zukunft in Aussicht stellt, schon um für die Verlängerung der Lebensarbeitzeit lohnende Voraussetzungen zu schaffen. Ein Leben, das sich in Arbeit verbraucht, ein Leben, das alle Tätigkeiten auf den Generalnenner der Arbeit bringt, ein Leben, das sich auf nichts anderes mehr versteht als zu arbeiten, fällt in seine naturgeschichtlichen Grund zurück: der einfache Wechsel von Tag und Nacht, Leben und Tod, Arbeit und Ruhe, Mühsal und Verzehr, Generation und Regeneration. Die Gesellschaft aus diesem sinnlosen Kreisen zu entbinden, verlangt aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen herauszuwachsen. Diese selbst haben einen Überfluss, Überschuss und eine Überfülle hervorgebracht, die nur außerhalb von ihnen, nur im Gegensinn zur Vergötzung des eigenen Vorteils zu entfalten sind – ein Diesseits und Jenseits von Herrschaft, das bei der Bibel und Marx fündig wird, wenn nach 30

Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, Berlin 1981, S. 17; vgl. Arendt, Vita activa, S. 125–129.

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einer Rangdifferenz gesucht wird, die den Menschen von sich als Tiergattung trennt, die er solange bleibt, wie er beim Geld die Schweine hütet. Dazu ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vom Gott der Philosophen zu unterscheiden, mit dem sich allerhand anstellen lässt: Letztbegründung, Säkularisierung, Archiv – beten kann man zu ihm nicht.

Arche Noah Das Wort »Arche« hat etymologisch nichts mit arché (Anfang) oder Archiv gemein, sondern kommt von lateinisch arca, Kasten. Neben der biblischen Geschichte der Sintflut stehen andere Flutmythen, etwa im Gilgamesch-Epos oder in der griechischen Deukalion-Legende. Merkwürdig am Genesis-Bericht sind seine Stellung und Funktion im Heilsplan. Unmittelbar nach Schöpfung, Sündenfall und Brudermord setzt Gott seine Schöpfung schon wieder unter Wasser. Die Geschichte der Arche Noah erhält nur dann einen Sinn, wenn ihre Bedeutung nicht im historischen Gehalt,31 sondern in der theologischen Aussage gesehen wird, dass Gott die Menschen nicht ein weiteres Mal der Vernichtung anheim geben wird, sondern seine Schöpfung unter dem Friedenzeichen des Regenbogens bewahrt. Archiv ist die Arche Noah in anderem Sinn. Die erste Registrierung vollzog sich nicht symbolisch im Buchstaben, sondern systematisch im Sein. Von allem Lebendigen geht ein exemplarisches Paar an Bord, damit den aufgeklärteren Nachfahren der Schiffsbesatzung nicht die Fundstücke für ihre Aufschreibesysteme ausgehen. Die Erneuerung der ersten Schöpfung durch einen zweiten Anfang konserviert die Formen des Lebens. Von allen Tieren, so Gottes Befehl an Noah, soll ein Paar auf das rettende Schiff gebracht werden. Evolutionsgeschichtlich hat es ein paar Jahrhunderttausende gedauert bis zur Konstanz der Arten und Gattungen, wie wir sie heute kennen. In diesem Stadium beginnt der große Regen, der das Siegel der geschöpflichen Perfektion bei den Kreaturen belässt. Die alten Tiere sind auch die neuen, so wie die Menschheit, die aus Noahs Nachkommen hervorgeht und von der die Völkertafel im Buch Genesis berichtet, auch keine neuen, nennenswert gebesserten Menschen hervorbringt, sieht man sich ihre Exemplare bis heute an. So als ob das gesamte Material, das bei der Schöpfung zur Verfügung stand, schon schadhaft gewesen sei.32 Legt man das Maß naturgeschichtlicher Immanenz an die maritime Katastrophenmetapher vom »Untergang« der Welt, der ein schlechter 31

32

Bis in die Gegenwart gibt es Versuche, die Überreste der hölzernen Arche auf dem anatolischen Berg Ararat zu finden, so etwa eine russische Expedition im Jahr 2003. Daneben sind es amerikanische Expeditionen, die im Geist evangelikaler Kirchen an der historischen Realität der Sintflut festhalten und dies durch Fundstücke am Ararat zu belegen hoffen. Die Arche Noah quasi im Blick stellt ein Königsberger, die Werften des nahen Meers im Blick, das Visier auf alle Zeiten scharf: »aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden« (Immanuel Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte

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Neuaufgang entsprach, so ergibt sich eine unheilige Allianz von Neo-Darwinismus und Altem Testament. Denn der bei weitem bedeutendste Faktor für den Verlauf der Evolution des Lebendigen sind die Großkatastrophen, welche in den vergangenen 700 Millionen Jahren mehrmals zwischen 50 und 95 Prozent der jeweils bestehenden Arten ausrotteten. Die Logik des zweiten Anfangs wirkt noch einmal bei der Entdeckung Amerikas. Einmal zoologisch, um Bibeltext und Wissenschaft in Einklang zu bringen: Wie waren die neu entdeckten Tierarten Amerikas und Afrikas mit dem Gattungsarchiv der Arche zu vereinen? Da es nur eine Arche gab, die nur an einem Ort stranden konnte, musste nach der Sintflut die gesamte Tierwelt von einem Punkt der Erde aus wiederbesiedelt werden. Die offensichtliche Erklärung war, dass nach der Zerstörung des Turms von Babel und der Zerstreuung der Völker jedes Volk »seine Tiere« in die neue Heimat mitnahm. Zurück blieb die Verlegenheit zu erklären, warum dann die Eingeborenen Nordamerikas Klapperschlangen mitnahmen und keine Pferde. Heikler waren die Probleme, die über die Reichweite des biblischen Textes im juridischen Sinn hinausgingen. Die Pathosformel der »Neuen Welt« verdeckte die Schwierigkeit, die neu entdeckten Kontinente in die spirituelle Raumordnung des Christentums zu integrieren. Kolumbus greift dazu unbefangen auf das religiöse Repertoire zurück, um seinen Taten durch außerjuridische Rechtsmittel höhere Herkunft zu geben. Wie Adam die Dinge im Garten Eden mit gottversicherten Namen belegte, verfällt Kolumbus, dem Amerika als unberührte Welt vor Augen steht, einer Benennungswut, die Namen und Dinge nicht auseinander hält. Und wie Noah, der als prähistorischer Kolumbus erscheint, nimmt der Genuese auf seiner zweiten Entdeckungsreise 1493–1496 alle Tierarten mit, die wie die Exemplare der Arche für den zweiten Anfang der Erde nach der Flut, für das Besiedeln der Neuen Welt überlebensnotwendig waren.33 Die Berechtigung von Kolonisierung, Mission und Conquista wird beim spanischen Dominikanermönch Francisco de Vitoria thematisch. 1538 erscheinen seine Relecciones, in denen die Rechtstitel der großen Invasion untersucht werden. Vitoria nennt Adam und Noah die ersten »señores del orbe«.34 Der völkerrechtlichen Unterscheidung von zwei freien Räumen unterlegt er ein alttestamentarisches Ordnungs- und Distributionsprinzip: die Sintflut als erste globale Linie. »Prescindiendo de todo lo que ocurríó antes del diluvio, después de Noé fue dividido el orbe en diversas provincias y reinos, ya sea por orden del mismo Noé, que sobrevivió trescientos años al diluvio y que envió colonias a diversas regiones«.35 Jahwes

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in weltbürgerlicher Absicht«, in: ders., Werke, Bd. 9, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, S. 33–53, hier S. 41). Vgl. Christoph Strosetzki (Hg.), Der Griff nach der Neuen Welt – Der Untergang der indianischen Kulturen im Spiegel zeitgenössischer Texte, Frankfurt am Main 1991, S. 14 f. Francisco de Vitoria, Relecciones sobre los Indios y el derecho de la guerra, Madrid 1946, S. 67. Ebd., S. 69 f.

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Strafe der großen Flut ist ein recht- und raumschaffender Nomos als »erste RaumTeilung und -Einteilung«, ursprünglicher »Zusammenhang von Ortung und Ordnung«.36 Infolge des von Gott mit Noah und seinen drei Söhnen nach Ende der Sintflut geschlossenen Bunds: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde« (1. Mose 9, 1) breiten sich ihre Nachkommen über die langsam wieder verlandende Erde aus. Den Zusammenhang von Landnahme, Herrschaft und Verteilung Amerikas wird von Vitoria in die Reihe der bis zu Noah rücklaufenden Besitzund Eigentumsverhältnisse gestellt. So wird die Conquista von Vitoria und seinem Interpreten Schmitt durch eine politische Theologie legitimiert. Dasselbe als anderes: In Platons Symposion wird Sokrates überdeutlich als Stifterund Heiligenfigur, als superman inszeniert. Erst weist seine geistige Überlegenheit die anderen in die Schranken, dann, am Ende der Lobreden auf den Eros, trinkt er auch alle anderen unter den Tisch, um schließlich in aller Seelenruhe ins Lykeion zu gehen, wo er sich salben lässt. Eine, folgt man dem Generationenregister in Moses 1, 5, von Gottes erstgeborenen Kreaturen hingegen, eben jener Noah der Flut und Arche, der nach dem ablaufenden Wasser gerade wieder soviel trockenen Boden unter den Füßen hat, um als Gottes Liebling mit ihm einen Bund zu schließen – dieser Noah trinkt sich in seinem Weinberg bei erster Gelegenheit halb um den Verstand. Als seine Söhne heimkehren und den Vater halbnackt im Zelt liegen sehen, gehen sie rückwärts heran und bedecken seine Blöße mit einem Kleid, während ihr Gesicht abgewandt bleibt. Rausch gegen Rausch, Wissen gegen Glauben. Die beiden Episoden verdeutlichen, warum es nicht Sokrates, nicht der Champion der Nüchternheit ist, sondern der soviel menschlichere Noah, der seinen Gott braucht. Das Erstaunlichste an diesem Suff ist vielleicht, dass Kafka sich seiner nicht angenommen hat; er, der doch sonst mit den alttestamentarischen Patriarchen – Oberkellner Abraham – nicht zimperlich umsprang, um im haggadischen Element der Komik die sonst kaum mehr glaubhafte Lehre zu überliefern. Der Mythos der Arche Noah entwirft einen Archetyp der Heilstechnik, die Technik als Heil. Dass ein von Menschen in Not erbautes Gefährt die katastrophisch hereinbrechende Natur überwinden und in neuer Gestalt hinüberretten soll, macht den Glauben an den Heilscharakter des Machbaren bis heute seefest. Wenn es angeht, im Zeichen steigender Meere und versinkender Inseln die Vorboten einer »Klimakatastrophe« zu sehen, die der Sintflut an Gewalt nicht nachsteht, tritt das Ungeheure dieses Ereignisses hervor. Für den Untergang ist der Zorn eines strafenden Gottes nicht mehr vonnöten, die Apokalypse wird selfmade, nachbiblisch und neopagan als Selbstopfer reinszeniert. Die unbeherrschte Herrschaft des Menschen über die Natur hat auf ihrem seit der Arche gehaltenem Kurs einen Wendekreis erreicht, wo die Notwendigkeit, das Ruder herum zu reißen, zum Imperativ des Jetzt-Sofort geworden ist, um die Deutung der letzten Dinge nicht einer Zukunft zu überlassen, deren Ausbleiben nicht auszuschließen ist. Den längst 36

Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, Berlin 1974, S. 36 f.

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brüchig gewordenen Zusammenhalt des »alle in einem Boot« hält nicht die Sorge um Fassungsvermögen und Tiefgang des Kahns in Fahrt, sondern die Frage nach der Möglichkeit einer »wieder als bündnisfähig wahrnehmbaren Natur – einer Natur vis-à-vis der Katastrophe – in uns ebenso wie außer uns«.37 Im Zeichen des alten Bundes von Gott und Noah steht auch der neue Pakt von Mensch und Natur. Die weltläufige Rede von »Kontingenz« ist dabei irreführend, denn die Zufälligkeit steht keiner schicksalhaften Notwendigkeit gegenüber, die nicht selber auf die Subjektseite fiele: der Mensch als subiectum, der drauf und dran ist, durch sich selbst unterzugehen. Noahs Logbuch aber archiviert noch etwas anderes: Die Endlichkeit bleibt Teil der Gezeiten, und die Segel sind so zu setzen, dass der Wind der Ewigkeit wieder stärker wird.

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Klaus Heinrich, Floß der Medusa, Basel, Frankfurt am Main 1995, S. 91.

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IV. OPERATIONEN DES ARCHIVS

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Attentäter im Archiv Von den Archiven des Desasters zum Desaster des Archivs1 Knut Ebeling

Das Archiv, allen voran das athenische Zentralarchiv, war kein neutraler und vor allem kein ungefährlicher Ort. »Wohlan, ihr Männer, wenn jemand das Metroon beträte, ein einziges Gesetz auslöschte«, fragte einmal der athenische Redner und Staatsmann Lykourgos, »würdet ihr ihn nicht tödten?«2 Derart drastische Maßnahmen erscheinen erst vor einem besonderen, ja außergewöhnlichen Ort gerechtfertigt – vor einem Ort der Gewalt. Dabei ist das wahrscheinlich 403 v. Chr. auf der athenischen Agora begründete Metroon eigentlich als das Gegenteil in jene (preußische) Geschichte eingegangen, die diesen Ort vor allem als Staatsarchiv feierte – als einen Vorläufer jenes »Gedächtnis des Staates« (Hardenberg), das nach dem Willen der preußischen Archivare das Modell des Preußischen Geheimen Staatsarchivs darstellte.3 Gewiss, das athenische Archiv besteht zuerst aus seinen Lücken, über den Ort namens Μητρωιον ist nicht viel mehr zu wissen, als dass es ihn gab und dass man über ihn nicht viel weiß4 – weswegen das Wissenswerte, das es über ihn zu berichten gibt, auch über weite Strecken die Form einer Fabel annimmt: genau die Form jener Fabel, mit der uns Derrida nicht zufällig auf den ersten Seiten seines Archivbuchs beglückt hat.5 Doch indem Derrida fabelhaft über die dezentralen griechischen Archive, die archeîa und ihre archonten berichtet, wird die Frage nach dem athenischen Zentralarchiv, dem Metroon, zugleich gestellt und ausgeklammert – eine Frage, die für das Thema der Gewalt der Archive ungleich bedeutsamer ist. Denn das Zitat des Lykourgos zeugt von der Komplizenschaft zwischen einer Institution, die während mehrerer athenischer Jahrhunderte Frieden stiftende Gesetze beherbergte, und dem Ort versammelter Schuld, der selbst einige Gewalt auf sich zog – zwischen der archivischen Gewalt, die ein solcher Ort verübt und über seine Einwohner ausübt, und der Gewalt auf das Archiv, die von den Einwoh1

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Dieser Text beruht auf Überlegungen aus: Knut Ebeling, »Die Asche des Archivs«, in: ders., Georges Didi-Huberman, Das Archiv brennt, Berlin 2007, S. 33–221. Lykourgos, zitiert nach Carl Curtius, Das Metroon in Athen als Staatsarchiv, Berlin 1868, S. 17. Vgl. ebd. Vgl. Cornelia Vismann, »Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft«, in: Knut Ebeling, Stephan Günzel (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 89– 106. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997.

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nern im Fall des Metroons auf das Archiv ausgeübt wird, wenn sie sich gegen die archivische Gewalt zur Wehr setzen. Denn diese beiden gegenstrebigen Bewegungen lassen sich bei dem wenigen, das überhaupt über antike Archive gewusst werden kann,6 rekonstruieren: Die archivische Gewalt mobilisiert im athenischen Fall die Gewalt gegen das Archiv; die Archivierung von Desastern zog das Desaster der Archive nach sich. Denn es war von Anfang an das Desaster des Archivs, die Archive der Desaster zu bewahren.

Das Archiv der Gesetze Das Metroon markierte jedoch keineswegs den Anfang oder Beginn des abendländischen Archivs, sondern mindestens ebenso sehr das Ende einer langen Tradition von Aufschreibesystemen, die in Ägypten und Mesopotamien, der Mykenischen und Persischen Welt begründet wurden. Im Unterschied zu deren Praktiken war das Metroon jedoch eine gesetzeszentrierte Erfindung. Auch wenn es zuweilen Schulden und Sklaventransfers ebenso beherbergte wie Kreditgeschäfte und Grabrechte, war das Metroon an die Verwahrung von Gesetzen gekoppelt. Wie seine Vorläuferinstitution, Derridas archeîa im 7. und 6. Jahrhundert, war das Metroon Ende des 5. vor allem ein Gesetzesarchiv. Spätestens im 4. Jahrhundert wurden alle Gesetze (nomoi) und Erlasse (psephismata) im alten Bouleuterion verwahrt – also jene »beiden Classen der öffentlichen Urkunden«,7 die damals das Rechtswesen organisierten. Demosthenes berichtet beispielsweise davon, dass das Metroon »voll von meinen Gesetzen und Erlassen«8 gewesen sei. Als er im Jahr 323 v. Chr. durch den athenischen Ghostwriter Deinarchos verdächtigt wird, eine Bestechung des Harpalos angenommen zu haben, des flüchtigen Schatzmeisters Alexander des Großen, zitieren sowohl Ankläger als auch Beschuldigter aus archivierten Erlassen – wobei Deinarchos sich delikaterweise auf genau jenen Bestechungserlass beruft, der seinerzeit von niemand anderem als Demosthenes dekretiert worden war.9 Doch wurden im Metroon nicht nur Gesetze und Erlasse deponiert. Dort befanden sich auch Klage- und deren Gegenschriften, Zeugenaussagen und andere Beweismittel.10 Ebenso wie Verträge mit Verbündeten abgelegt wurden, verwahrte man dort auch die Ernennungen und Wahlergebnisse von Archonten: Die Archon6 7 8

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Vgl. hierzu Ernst Posner, Archives in the Ancient World (1972), Chicago 2003. Curtius, Das Metroon, S. 18. Demosthenes nach Libanios, Declamationes 23–36. Alle Zitate antiker Autoren werden nach dem Oxford Classical Dictionary, 2nd edition abgekürzt zitiert. Vgl. dazu: Curtius, Das Metroon, S. 18; James P. Sickinger, Public records and archives in classical Athens, Chapel Hill, London, 1999, S. 116. Curtius, Das Metroon, S. 18; Claude Mossé, Athènes: Histoire d’une démocratie, Paris 1971, S. 165 f.; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 118. Curtius, Das Metroon, S. 19.

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ten, die dem Archiv seinen Namen gegeben hatten, waren vor ihm selbst nicht sicher. Während Orakeltexte und Briefwechsel, Bürgerregistrierungen und Register nicht ins Metroon wanderten, lagerten dort durchaus Protokolle von Gerichtsprozessen, Listen von Epheben und private Dokumente – also nicht nur Texte, sondern vor allem auch Urkunden, Tabellen und Listen.11 Insgesamt ist das athenische Archivgut noch sehr viel übersichtlicher als beispielsweise das römische, wo »von öffentlichen Festessen bis zu Streitigkeiten auf dem Marktplatz«12 alles im Amtsjournal landete. Man versteht daher das Lob des Cicero, nach dem die Griechen in der Bewahrung ihrer Urkunden sorgfältiger gewesen seien als die Römer.13 Das athenische Archiv war also an die Gesetze gebunden – weswegen eine Archäologie der Gesetze einen Rückgang nicht nur auf die römischen Archive fordert, welche nach einem anderen Wort Ciceros das Recht ihres Weltreichs den Pförtnern der Archive überließen.14 Während die Aktenanlage in Rom zur Regel geworden war, bildete sie in Athen die stecknadelförmige Ausnahme – was ihre Erforschung erstens übersichtlicher und zweitens archäologischer macht. Ausgehend von der Gesetzesförmigkeit des athenischen Archivs lässt sich das Metroon durch vier weitere Merkmale charakterisieren: Im Metroon lagerte etwas, das »sichtbar aber kaum lesbar«15 war – eine materielle Kultur, die eine andere wissenschaftliche Kultur erfordert als die hermeneutische (2.). Zudem wurde das Archiv in Athen als eine »hoheitliche Institution des Speicherns juristisch relevanten Wissens einer Gemeinschaft«16 erfunden (3.). Diese administrative Funktion des Archivs erlaubt seine strenge Unterscheidung von Bibliothek und Sammlung (4.) und eine unmittelbare Kopplung von Archiv, Gesetz und Politik (5.): Die politische Dimension der Archive, die heute erkannt wird, ist also eine athenische Erfindung. Kurioserweise war es ausgerechnet die Archäologie, die mit der Ausgrabung der Agora, eines Doppelbaus aus Rats- und Archivgebäude, den Beweis für die politi11

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Curtius (Das Metroon, S. 20) und Posner (Archives, S. 108) gingen beide von der Hinterlegung von Gerichtsprotokollen im Metroon aus. Doch während nicht bekannt ist, welchen genauen Verlauf ein Gesetz oder Erlass nahm, bevor er vor die athenische Versammlung kam, existiert ein genaues Wissen vom Prozess beispielsweise der Aufstellung einer Inventars-Liste von Dingen, die auf der Akropolis verwahrt wurden. W.C. West, »The public archives in fourth-century Athens«, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 30 (1989), S. 529–543, hier S. 540. Vgl. zu einer Mediengeschichte der Liste: Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 20 ff. Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 73 f. und S. 78. Cicero, De leg. III, S. 20. Ebd., S. 46. Vgl. zu einer Genealogie des römischen Rechts: Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 67 ff. Jacques Derrida, Feuer und Asche, Berlin 1988, S. 27. Wolfgang Ernst, »Das Gesetz des Sagbaren. Foucault und die Medien«, in: Peter Gente (Hg.), Foucault und die Künste, Frankfurt am Main 2004, S. 239. Wie später in Rom handelt es sich in Athen um »disparates rechtliches und administratives Material«, um »gebündelte Gebrauchstexte ohne feierliche Ausstattung« (Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 77).

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sche Dimension des Metroons erbracht hat. Denn derjenige archäologische Ort, auf den sich alle preußischen (und neuerdings auch amerikanischen) Halluzinationen des Archivs beziehen, ist das Bouleuterion, das Rathaus von Athen südwestlich der Agora. Es wurde von 1931 bis 1939 ausgegraben, gemeinsam mit Thermen und Palästen, archaischen Wasserkanälen, dem Zwölfgötter-Altar, Tholos, der Zeushalle, dem Apollon-Tempel, dem Theseion und dem angrenzenden Metroon.17 Doch das alte Bouleuterion bot trotz seiner großzügigen Anlage nur beschränkte Möglichkeiten der Hinterlegung von Papyrus-Dokumenten oder von Gravuren in Bronzen und Stelen.18 Aus diesem Grund war der Rat der boulé am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. in ein angrenzendes Gebäude südwestlich des alten Bouleuterions gezogen, das man der Einfachheit halber das neue Bouleuterion nannte. Nach diesem Umzug war im alten Rathaus Platz für ein zentrales Archiv in Athen geschaffen, das seit diesem (ungewissen) Zeitpunkt nach der Göttermutter Metroon, Μητρωιον, hieß.19 Das athenische Archiv teilte sich seinen Raum also nicht nur mit einer Heiligen,20 sondern auch mit dem Ratsgebäude. Das Archiv war in die athenische Staatsform eingebaut. Curtius pries die nachbarschaftliche Verbindung aus Metroon und Bouleuterion mit den folgenden Worten: »Als Inhaber der Staatsgewalt hielt der Rath seine Sitzungen im Bouleuterion […] welcher Ort war geeigneter zur Aufbewahrung der officiellen Actenstücke als das […] Metroon?« Und er erwähnt im Folgenden »die auch anderweitig bezeugte Verbindung der Curie, in welcher der Rath der Fünfhundert seine Sitzungen hielt, mit dem Metroon«21. Das Doppelherz der athenischen Demokratie, Versammlungsort und Aufbewahrungsort, band den Rat, die βουλη (boulé) unauflöslich an das Archiv. Im neuen Bouleuterion konnte man nur deshalb über neue Gesetze debattieren, weil man die alten im Nachbargebäude konsultieren konnte. Der Medienverbund aus altem und neuem Bouleuterion koppelte Versammeln und Speichern, Demokratie und Archivokratie in derselben Bewegung aneinander wie altes und neues Rathaus aneinander angrenzende Gebäude waren. – So fühlte sich der in die USA emigrierte Ernst Posner, »Hitlers

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Vgl. dazu die Ausgrabungspublikationen: The Athenian Agora: A Guide, hg. von J. Camp 41990, S. 25, Tafel 4; Old Metroon and Old Bouleuterion in the Classical Agora of Athens, hg. von S.G. Miller, Historia Einzelschriften 95 (1995), S. 146. Zur Topographie des Metroon Curtius, Das Metroon, S. 11 f. Einen guten Zugang zu Geschichte und Ergebnissen dieser Ausgrabung bietet die Seite http://www.agathe.gr/cgi-bin/feature?lookup=siteguide:14, letzter Aufruf am 10.10.2009. Curtius, Das Metroon, S. 24; West, The Public Archives, S. 531; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 83. Posner, Archives in the Ancient World, S. 103. Vgl. auch http://www.agathe.gr/cgi-bin/feature? lookup=siteguide:14, letzter Aufruf am 10.10.2009. Curtius (Das Metroon, S. 24) geht von verschiedenen Eingängen zum Heiligtum und zum Archiv aus. Curtius, Das Metroon, S. 13 ff. Dabei bezieht sich Curtius auf Aischines, 3, 187.

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Geschenk an die amerikanische archive-profession«22, nach seinem Job im Preußischen Geheimen Staatsarchiv angesichts der Washingtoner Federal Triangle auch an das alte Bouleuterion erinnert.23

Das Desaster des Archivs Im Metroon lagerten jedoch nicht nur Gesetze und Erlasse. Was das athenische Archiv für die Frage der Gewalt prekär werden lässt, ist die Tatsache, dass dort auch die Namen der von ihnen Betroffenen verwahrt und versperrt wurden. Aristoteles berichtet beispielsweise davon, dass der Name von Schuldnern so lange auf weißen Tafeln im Metroon verwahrt wurde, bis die Bezahlung erfolgte und der Name von der Tafel entfernt werden konnte.24 Die Verzeichnung auf der Tafel war die Erscheinung der Schuld.25 Die Angelegenheit der Schuld blieb im Metroon so lange erhalten, wie auch der Name im Archiv aufgeschrieben blieb. Wer alle Schuld ausradieren wollte, musste zunächst die bleibenden Zeichen dieser Schuld eliminieren. Aus diesem Grund handelt eine Episode, eine der ersten Archiv-Anekdoten, auch von dessen Manipulierbarkeit. Der berühmte griechische Staatsmann und Feldherr Alkibiades ist nicht nur deswegen eine Figur der Gewalt, weil er als einer der genialsten Staatsmänner und Feldherren der klassischen Geschichte gilt. Für die Frage nach der Gewalt der Archive interessanter erscheint die Tatsache, dass mit Alkibiades, im Urteil Egon Friedells »halb Verbrecher, halb Genie«,26 auch eines der ersten Attentate auf das Metroon verknüpft ist. In einer von Athenaeus überlieferten Episode wird nicht nur berichtet, dass Alkibiades den Peloponnesischen Krieg verlor, weswegen er bei den Athenern in Ungnade fiel. Alkibiades drang auch ins athenische Zentralarchiv ein, um dort den Namen seines Freundes Hegemon von Thasos zu entfernen: Athenaeus berichtet, wie Alkibiades ins Metroon »schritt, wo die Texte der Anklagen verwahrt wurden, und seinen Finger von seinem Mund befeuchtend, [...] die Schuld gegen Hegemon aus[wischte].«27 Alkibiades’ Praxis der Zerstörung und Manipulation öffentlicher Dokumente war in Athen allgemeine Praxis;28 mit dem athenischen Archiv wurden 22

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James M. O’Toole, »Introduction to 2003 Reissue«, in: Posner, Archives in the Ancient World, S. VII–XXVII, hier S. X. Posner, Archives in the Ancient World, S. 108. Aristoteles, Athenaion Politeia, 47, 2–5. Vgl. Curtius, Das Metroon, S. 19 f; Posner, Archives in the Ancient World, S. 108; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 127. Egon Fridell, Kulturgeschichte Griechenlands, München 1991, S. 219. Athenaeus, 9.407 b–c. Vgl. Alan L. Boegehold, »The establishment of a central archive at Athens«, in: American Journal of Archaeology 76 (1972), S. 23–30, hier S. 27; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 131; John K. Davies, »Greek Archives: From Record to Monument«, in: Maria Brosius (Hg.),

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offenbar auch die Attentäter des Archivs geboren. Im Metroon konnte man sich schon allein deshalb die Finger verbrennen, weil befeuchtete Finger hier einiges anrichten konnten. Dabei ist Alkibiades’ Attentat auf das Archiv heute nicht deshalb von Interesse, weil diese Tat jemanden frei und jemand anderen schuldig gesprochen hat – sondern weil Alkibiades begriffen hatte, dass man nicht vor den Göttern, sondern aufgrund dessen schuldig ist, was im Archiv steht. Um die bleibenden Zeichen einer Schuld zu eliminieren, musste man das Archiv eliminieren oder alternieren. Spätestens mit dem Metroon kommt also eine eigenartige Dynamik in die Welt: Jede aufgezeichnete und dokumentierte Aussage war seitdem eine manipulierbare Aussage – zumal dann, wenn wie in den meisten athenischen Streitfällen nirgendwo eine Sicherungskopie des Vorgangs existierte.29 Zwar beendeten Institutionen wie das Metroon die alte Anarchie des vorklassischen Griechenland im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert unter anderem durch die Niederschrift von Gesetzen und anderen Dokumenten sowie deren Archivierung.30 Doch an die Stelle der alten Anarchie ohne archiviertes Recht trat die neue Anarchie der Manipulation der Gesetze. Denn die Ansiedlung der Gesetze an einem äußeren Ort garantierte nicht nur ihre Gültigkeit. Ihre Verräumlichung riskierte auch ihre Veränderbarkeit: Die Gesetze waren entweder außen und damit manipulierbar oder sie waren ungültig. Das ist der ganze Schrecken des Archivs, dass die Wahrheit mit dem Archiv produzierbar wird, dass sie im Metroon prozessierbar wurde. Denn gerade mit seiner einmaligen und selbstidentischen Verwahrung war das dokumentiere Wahre vor Anschlägen nicht mehr sicher.31 Es folgten all jene Anschläge auf das Archiv, in denen man in diesen Bunker der Wahrheit eindringt, um gegen das statische Gesetz im Archiv das Recht des veränderlichen und verändernden Lebens zu setzen, gegen die Transzendenz der Wahrheit die Kontingenz des Verwahrten. Eine freilich riskante Operation – in Athen blühte Eindringlingen ins Archiv die Todesstrafe.32 Doch seit diesen Anschlägen ist das Archiv nicht mehr allein der Ort der Verwahrung und Enthüllung der Wahrheit. Mit den Fälschern im Metroon wird es auch zum Ort ihrer Manipulation und Steuerung. Das Archiv eröffnete hier eine Unter-

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Ancient Archives and Archival Traditions. Concepts of Record-Keeping in the Ancient World, Oxford 2003, S. 323–343, hier S. 330. Vgl. dazu Boegehold, The Establishment, S. 27; Adolph Wilhelm, »Über die öffentliche Aufzeichnung von Urkunden«, in: Beiträge zur griechischen Inschriftenkunde, Wien 1909, S. 229–299, hier S. 272; und Posner, Archives in the Ancient World, S. 101, berichten von Sicherungskopien auf Pergament oder Leder in Priene. Vgl. Sickinger, Public records and archives in classical Athens. »Wenn nur in der Welt ist, was in den Akten steht, reicht es umgekehrt aus, Akten zu vernichten, um eine unliebsame Wirklichkeit zu tilgen« (Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 90). Demosthenes [26], 24; Lysias 16.6–7; Lykourgos 1.67. Vgl. dazu Posner, Archives in the Ancient World, S. 114; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 194.

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welt des Kalküls, in der das Wahre und das Falsche nicht mehr von der göttlichen Wahrheit her kommen, sondern ganz und gar irdisch sind. Die Anschläge aufs Metroon zeugen von einer komplizierten Doppelbewegung, die beide Bewegungen der Gewalt darstellen: Die aus dem Verlangen nach äußerlich überprüfbaren Aussagen entstandene Institution ruft plötzlich auch das Begehren nach deren Veränderung und Vernichtung hervor. Mit dem Archiv wurde auch der Wunsch nach der Manipulation seiner Dokumente und vielleicht sogar das Verlangen nach seiner Zerstörung, dem Autodafé, geboren. Aus diesem Grund, weil das Archiv eine heikle und gewaltförmige Einrichtung darstellte, wurde das Metroon mit der Göttermutter ebenso in die Obhut einer Schutzgöttin gestellt wie das Parthenon in den Schutz der Pallas Athene.33 Ein vergeblicher Schritt. Denn das Archiv stellte sowohl ein Hindernis für die Manipulation der in ihm verwahrten Dokumente dar als auch die Bedingung für die Anschläge. Allein das Vorhandensein der Institution des Archivs erwies sich in Athen als hinreichend für Manipulationen; allein die Vorstellung der Unverfälschbarkeit und Aufrichtigkeit der Dokumente im Metroon führte ihm seine Attentäter unausweichlich zu: Denn nur weil man der Aufrichtigkeit des Aufgeschriebenen glaubte, hatte es Wert, seine Zeugnisse zu manipulieren. Aus dem gleichen Grund, aus dem man sich auf das athenische Archiv verlassen konnte, war seine Manipulation stets möglich. Die Manipulation des Archivs war stets möglich, nicht obwohl, sondern weil man sich immer blind auf das Archiv verließ. Das war das Desaster des Archivs, das nicht erst mit dem Metroon in die Welt gelangte. Dieselbe Kulturtechnik, die den Anspruch der Objektivität des Archivs verbürgte, sorgte auch für dessen Scheitern.34 Der Schrecken und das Desaster der athenischen Archive bestand darin, dass sie nicht nur Wahres abbildeten, sondern damit auch die Ursache für Veränderbarkeit und Manipulierbarkeit darstellten. Das war schrecklich, weil gerade die veränderte und manipulierte Wahrheit wirkliche Effekte zeitigte: Effekte hatte seit der Erfindung der Archive nicht mehr das Wahre, sondern nur noch das Archivierte. Von nun an kam der Rat Platons, ein Gesagtes nicht aufzuschreiben, weil ein Gedanke, sobald er aufgeschrieben und veräußert ist, nicht mehr sicher sei, immer schon zu spät: »Sieh Dich vor, dass Du nicht einmal zu bereuen habest, was Du jetzt in einer Deiner unwürdigen Weise veröffentlichst. Das sicherste Mittel, das zu verhüten, ist, es nicht niederzuschreiben, sondern es wohl sich anzueignen; denn bei dem Niedergeschriebenen lässt sich die Veröffentlichung nicht vermeiden.«35

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Posner, Archives in the Ancient World, S. 104. Aus diesem Grund kann »das Archiv [...] den möglichen Verlust, gegen den es aufgeboten wird, nicht bannen; ihm ist die drohende Gefahr eingeschrieben« (Hans-Dieter Gondek, Hans Naumann, »Einleitung«, in: Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 7). Platon, Briefe, 314 b–c.

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Die Urszenen des Archivs Was war mit dem Metroon – oder allgemeiner: mit der gewissenhaften Kulturtechnik des Archivierens und Publizierens von Aussagen – in die Welt gekommen? Warum musste man sich ab einem gewissen Zeitpunkt hüten, etwas zu Papier oder auf das Papyrus zu bringen? Nichts macht das Risiko und die ambivalente Möglichkeit, die mit dem Aufschreiben und Speichern von Aussagen in die Welt kamen, so deutlich wie die Archiv-Operationen von Aischines und Demosthenes. Bei diesen Personen handelt es sich um zwei Gerichtsredner, die man als professionelle Archiv-Ausbeuter verstehen kann. Die berühmten Gerichtsreden des Aischines und Demosthenes liefern Beispiele für eine archivbasierte Rechtsprechung – Urszenen der Kulturtechnik namens Archiv.36 Im Verlauf einer Rede des Aischines kommt es zu einem Ausruf, der in klassischer Zeit die Effekte nachklassischer Archive beschreibt: »Ihr bewahrt für alle Zeiten in den öffentlichen Archiven die Erlasse mit ihren Daten und den Namen der Männer, die über sie abstimmten.«37 So lautet das Motto des Metroons. Sein historischer Hintergrund ist einfach-kompliziert: Demosthenes war der bedeutendste griechische Redner. Gemeinsam mit Aischines und Philokrates gehörte er der zehnköpfigen Athener Delegation an, die 346 v. Chr. in Pella mit Philipp einen Friedensvertrag abschloss. Nach dem so genannten Philokratesfrieden von 346 v. Chr. stieg Demosthenes zum führenden Staatsmann Athens auf. Als solcher schmiedete er ein Bündnis gegen Philipp, das diesem 338 v. Chr. in der Schlacht von Chaironeia unterlag. Trotzdem konnte Demosthenes seine Stellung behaupten. Nunmehr klagte er Aischines, auch dieser ein bekannter athenischer Redner und Politiker, wegen dessen angeblichen Fehlverhaltens als Gesandter an. In den überlieferten Gerichtsreden rufen beide gespeicherte Entscheidungen der Ratssitzungen der ekklesía ebenso selbstverständlich ab wie Urteile der Ratssitzung oder Wahlaufzeichnungen.38 Im Jahr 343 v. Chr. kommt es zu einem Archiv-Krimi, in dem sich Aischines gegen die erhobenen Vorwürfe verteidigt. Demosthenes hatte ihn verdächtigt, Falschmeldungen produziert zu haben und (wie jeder gute Athener) bestechlich gewesen zu sein. Aischines widerlegt das Punkt für Punkt mit Verweis auf die von Demosthenes zitierten Gesetze und Urteile aus dem Jahre 346 v. Chr. Dreizehn Jahre später, 330 v. Chr., stehen sich beide in einem Aufsehen erregenden Prozess erneut gegenüber. Die dritte Gerichtsrede des Demosthenes berichtet 36

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38

Vgl. West, The public archives, S. 533. Weitere Beispiele von archivgestützten Verteidigungsreden finden sich bei Boegehold, »The Establishment«, S. 25; John K. Davies, »Greek Archives: From Record to Monument«, in: Brosius (Hg.), Ancient Archives and Archival Traditions, S. 323–343, hier S. 329. Eine detaillierte Schilderung eines antiken Prozesses findet sich bei Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 39 ff. Aischines 2.89. Vgl. West, The public archives, S. 534; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 118ff. Aristoteles, Athenaion Politeia, 43, 4–6.

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davon. In dem Prozess klagte Aischines den Freund des Demosthenes, Ktesiphon, wegen des angeblich gesetzwidrigen Antrags auf Verleihung eines Ehrenkranzes für Demosthenes an. Ktesiphon hatte Demosthenes eine Krone für dessen öffentliche Dienste verleihen wollen, was von Aischines mit der Waffe archivierter Dokumente bekämpft wird. In diesem Prozess beziehen sich Aischines und Demosthenes wiederum auf den archivierten Erlass aus dem Jahr 346 v. Chr.39 Unter Berufung auf das Archivmaterial rächt sich Aischines an Demosthenes, indem er sich gegen dessen Würdigung ausspricht. Jedoch stimmten seiner Anklage nicht einmal ein Fünftel der Richter zu, so dass Aischines eine Strafe zahlen musste und Athen verließ. Er soll nach Rhodos gegangen sein und Rhetorikunterricht erteilt haben. Das Metroon stellte in diesem Prozess die Anführbarkeit des Archivierten sicher, wobei allein die Möglichkeit einer Rekursion auf das Gesetz als die Geburtsstunde des Rechts erscheint. Folgerichtig wirken in dem Prozess einige der Praktiken, die mit dem Metroon in die Welt gelangen: Demosthenes wirft seinem Kontrahenten Aischines einen unlauteren Umgang mit dem Archivmaterial vor.40 Als Demosthenes im gleichen Prozess nach der Schuld eines Gläubigers gefragt wird, verweist er auf die Möglichkeit, diese Frage anhand gespeicherter Daten zu entscheiden.41 Mit ihrer Berufung auf ein sechzehn Jahre früher erlassenes Urteil demonstrieren Aischines und Demosthenes nicht nur, dass Gesetzeszitate in öffentlichen Prozessen ab einem bestimmten Zeitpunkt gefordert wurden. Spätestens seit Aischines den Demosthenes mit archivarischer Hilfe überführte,42 war auch das Einspruchsrecht archivierten Materials etabliert. Plötzlich faltet sich die Wirklichkeit ein und wird zum Effekt von gespeicherten Daten. Die Wirklichkeitsbedingung dieser Gerichtsszenen besteht in Daten, die der Überlieferung nach zum ersten Mal in den Zeugenstand gerufen werden. Hier wird nicht mehr nur ein vorliegender Fall entschieden; jeder vorliegende Fall liefert umgekehrt einen Sonderfall zu einem archivierten Fall. Seitdem die Realität sekundär wird, bildet jeder vorliegende Fall nur noch einen Anhang zu einem gespeicherten. Jeder Fall, der ins Archiv eingeht, bildet nicht nur einen vergangenen Vorgang ab, sondern codiert eine Vielzahl von neuen.

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Vgl. Curtius, Das Metroon, S. 18; Mossé, Athènes: Histoire d’une démocratie, S. 163 ff.; West, The public archives, S. 536; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 169. West, The public archives, S. 539. Demosthenes, 25.69–70. Aischines, 3.24.

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Die Codierung des Archivs In den geschilderten Gerichtsszenen treten nicht nur Redner auf, sondern auch Gesetzestexte. Was hier aufgezeichnet wurde und worauf sich Demosthenes bezieht, waren weniger Namen auf einer Liste – es war das Gesetz, das die Aufzeichnung der Namen überhaupt erst dekretierte: also eher eine Codierung als eine Repräsentation. Abgesehen von einigen Ausnahmen43 wurden Anklageschriften oder Schuldscheine in Athen nicht archiviert, wohl aber die Gesetzestexte oder Erlasse, auf die sie sich beriefen. Diese Regel ist vielleicht der Grund für die Tatsache, dass das athenische Archiv keiner Schuldnerverschwörung zum Opfer fiel: Es waren nicht die Athener, die die Schuld an der Zerstörung des Metroons mit seiner 500-jährigen Geschichte trugen. Die Verlagerung der Wirklichkeit ins Archiv änderte alles, vor allem die Zeitlichkeit des Eintrags. Auch die zahllosen Anschläge auf das Archiv zeugen von einem neuen Verständnis des Geschriebenen, das von Repräsentation auf Codierung umschaltete – was immerhin die Attraktivität des Archivs für die Medientheorie erklärt.44 Denn möglicherweise stand die Denkfigur und die Institution des Archivs einfach nur deshalb am Anfang einer Theorie der Codierung, weil Codifiziertes in ihm enthalten war. Das Metroon bewahrt also Dokumente, die nicht nur abbilden, sondern auch Effekte im Realen haben. Wären in den verwahrten Texten nur vergangene Wirklichkeiten abgebildet, bräuchten sie die Aggressoren des Archivs nicht zu interessieren. Doch das Metroon repräsentierte nicht nur Vergangenheiten, diese Vergangenheit codierte zugleich eine Zukunft – und damit eine Zeitlichkeit, für die es sich zu kämpfen lohnte. Die Robin Hoods des Archivs hatten wie Alkibiades verstanden, dass ihr Leben an diesem Ort hing, sie hatten begriffen, dass hier keine Vergangenheit abgebildet, sondern eine Zukunft codiert wurde. Denn was im Archiv lagert, ist immer eine wirksame Vergangenheit. In diesem Sinne repräsentiert das Archiv keine Geschichte, es macht Geschichten. Denn der Ort der Codierung, die »Kammer des Realen«,45 ist zugleich der Ort der Macht und ihrer Gewalt.46 Doch nicht nur die Mächtigen hatten Zugang zum Metroon. Umgekehrt produzierte der Zugang zu den athenischen Gesetzen auch eine Macht – die Macht, nicht nur über Wirklichkeiten, sondern über die Steuerung der Wirklichkeit zu entscheiden. Daher war zumindest in Athen »souverän [...], wer die Archive

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Diogenes Laertius (2.40) berichtet von einer Anklage gegen Sokrates, die auch wegen der Popularität der sokratischen Schulen im Metroon aufbewahrt worden sein könnte. Vgl. Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 132. Vgl. Ebeling/Günzel (Hg.), Archivologie. Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 47. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Archiv und Macht: Arlette Farge, Le goût de l’archive, Paris 1989, S. 40 f; Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, Berlin 2001, S. 16 ff. und S. 43.

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instruiert«.47 Die souveräne Gewalt des Archivs ist immer Befehlsgewalt: Wer zum Archiv Zugang hat, kann dasjenige befehlen und verändern, was die Wirklichkeit steuert. Das Archiv ist die Schaltzentrale des Realen, hier entscheidet sich, was wirklich werden wird und was auf immer dem Schweigen anheim fällt. Dieses Reale wird im Archiv verzeichnet und verräumlicht: Verläufe, die man nicht errechnen, Protokolle, die man nicht ausdenken, und Urteile, die man nicht vorhersehen kann: Dinge, die nicht wir, sondern die uns in ihrer Gewalt haben. Im Metroon lagerten zwar keine Kadaver und keine Knochen, aber die präskriptiven Entscheidungen und Urteile und Befehle, die zu ihnen führten. Jedes Zeichen im Metroon konnte kurzerhand in einen Befehl verwandelt werden.48 Das war das Desaster. Ein Archiv wie das Metroon war voller Unheil, weil es automatisch die Befehle auslöste, die alles verwüsteten. Es enthielt nicht die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit und die Wirksamkeit der Gewalt. Denn ein Archiv wie das Metroon birgt nicht wie die Bibliothek nachträgliche und unbeteiligte Zeugnisse, das Archiv sammelt das Ereignis selbst, die Entscheidung, das Urteil, die Abstimmung. Das Archiv trägt die Codierung der Gewalt. Damit ist es das Reale selbst, realer als die Realität, die nur als blinde Exekution erscheint. In der sekundär gewordenen Wirklichkeit werden nur noch die Taten ausgeführt, die im Archiv vorprogrammiert sind. Seitdem vom Archiv her über die Gegenwart und sogar über die Zukunft befunden wurde, wurde jede Aktualität vom Archiv ausgelöscht. Das Metroon löschte die Gegenwart aus, denn es beherbergte die Betriebsgeheimnisse der Vergangenheit – jenen Terror, der nicht in den aufbewahrten Schrecknissen besteht, sondern davor noch in der Unzugänglichkeit, in der sie ihre anonyme Aktivität in Abwesenheit der Opfer entfalten. Die Attentate aufs Archiv zeugen nicht zuletzt davon, dass sich die Vergangenheit hier gegen die Gegenwart verschworen hatte, weswegen jede Vergangenheit im Archiv zur Verschwörung tendiert.

Die Politik des Archivs Weil man im Archiv den Lauf der Dinge beeinflussen konnte, verwehrte man nicht nur Knoblauchessern den Zutritt ins Metroon – die Kraft des Krauts sollte den heiligen Ort nicht entweihen.49 Auch Delinquenten durften diesen Ort nicht betreten. Daher war zumindest im Fall des Metroons die Frage nach der Zugänglichkeit des Archivs die eigentlich politische Frage. Wenn die polis des vierten vor47

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Wolfgang Ernst, Cornelia Vismann, »Die Streusandbüchse des Reiches: Preußen in den Archiven«, in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 21 (1995), S. 87–107, hier S. 89. »Jeder Aktenvermerk enthält indirekt einen Befehl.« (Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 23) Curtius, Das Metroon, S. 9; Posner, Archives in the Ancient World, S. 114.

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christlichen Jahrhunderts die Wiege der modernen Demokratie abgeben sollte, mussten die Archive dieser Zeit als allgemein zugänglich und öffentlich gedacht werden. Diese Zugänglichkeit zum Metroon scheint für die privilegierten ArchivAusbeuter Demosthenes und Aischines keine Schwierigkeit gewesen zu sein.50 Nach der Verlesung eines Erlasses wird eine Geschworenen-Jury von Aischines sogar an die Leichtigkeit erinnert, mit der man, sofern man autorisiert ist, die Daten im Archiv nachprüfen könne. Die Frage der Zugänglichkeit des athenischen Archivs ist insofern politisch, als das Archiv einer Demokratie von der klassischen politischen Theorie als zentrale Verbürgung des demos verstanden wurde. Die klassische Demokratietheorie setzte die Transparenz des demos und damit die Zugänglichkeit des Archivs blind voraus. Je öffentlicher die Archive eines Staates, desto gastfreundlicher beherbergt er die Demokratie; ein Staat, der keine Einsicht in seine Archive bietet, darf sich nicht Demokratie oder Rechtsstaat nennen.51 Bereits Curtius verstand die Aufstellung der solonischen Gesetze auf dem Areopag als Aufforderung zur »Selbstregierung«.52 Doch man muss gar nicht erst die »demokratischen Tendenzen zur reichlichen Veröffentlichung von Dokumenten«53 beispielsweise in den USA herbeizitieren, wie es Posner gern tat,54 um zu sehen, dass die steinerne Mythologie des Archivs auf der modernen Ideologie der Transparenz alles Schriftlichen aufbaut, die Einsehbarkeit mit Lesbarkeit und Abrufbarkeit mit Öffentlichkeit verwechselt. Sofern der demos herrscht und diese Herrschaft für alle nachvollziehbar und einsehbar sein soll, benötigt man ein Medium, um diese Transparenz und Einsehbarkeit zu gewährleisten. Dieses Medium der Demokratie ist das Archiv. Es muss sich »in der Regel im Brennpunkt jeder Stadt«55 befinden, wie die Halluzination von Altertumswissenschaftlern lautet, die die Symbolstruktur mit der Zentrumsfunktion des »Staatsheerds«56 gleichsetzt. So entschieden wie die Zentrumsfunktion des Archivs von Preußen aus ins antike Athen rückproji*ziert wurde, so unentschieden ist heute der Streit um die 50

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Vgl. West, The public archives, S. 533 ff., zitiert Aischines: »You can find any decree in the public archives and tell the date of it and who moved it.« (Übers. West, S. 535) »The frequency with which a polity set up public documents reflected the ›advancedness‹ of its democracy.« (Davies, »Greek Archives«, S. 338) Curtius, Das Metroon, S. 4. Albert Rehm, »Die Inschriften«, in: Walter Otto (Hg.), Handbuch der Archäologie im Rahmen der Altertumswissenschaft I, München 1939, S. 229. Posner, Archives in the Ancient World, S. 96. Günter Klaffenbach, »Bemerkungen zum griechischen Urkundenwesen«, in: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, Sitzungsberichte Nr. 6, 1960, S. 22 ff. Curtius (Das Metroon, S. 5) führt den Nachweis, dass die Amtslokale und Archive auch in anderen griechischen Städten – außer in Athen in Sparta, Leontini, Megalopolis, Megara, auf Kreta, in Iasos und in Thyateira – »auf dem Markt als dem politischen Mittelpunkte der Stadt gelegen waren«. Curtius, Das Metroon, S. 13.

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tatsächliche Zugänglichkeit ins Archiv. Wer durfte ins Metroon? Heute stehen die Verteidiger der demokratiefreundlichen Zugänglichkeit des athenischen Archivs Skeptikern wie Georgoudi oder Brosius gegenüber, die die alten Archive in der Obhut von Königen, Priestern, Magistraten und anderer Dunkelmänner sehen.57 Für Elena Esposito wird die Konsultationsfähigkeit des Archivs zu seiner eigentlichen Wesensbedingung. Doch in Athen war der Status der Archive offenbar nicht unmittelbar an deren Zugänglichkeit koppelbar. Die Verschränkung von Öffentlichkeit und Nachprüfbarkeit – öffentlich ist das, was nachprüfbar ist, und als überprüfbar gilt, was der Öffentlichkeit in irgendeiner Weise zur Verfügung steht – wird eine Erfindung jenes politischen 20. Jahrhunderts sein, das auch die »Leitdifferenz von Öffentlichkeit und Geheimnis«58 etabliert. Tatsächlich konnten diese Fragen der Zugänglichkeit oder Verschlossenheit der Gesetze überhaupt erst ausgehend von den athenischen Archiven gestellt werden. Erst ausgehend von diesen Fragen lässt sich auch abschätzen, was mit Derridas Archivtheorie auf dem Spiel stand: Die von ihm erzählte Fabel dezentraler Archive entzieht der automatischen Verbindung aus Archiv und Demokratie den Boden. Mit den archeîa steht nicht Transparenz und Einsehbarkeit am Anfang des abendländischen Archivs, sondern Manipulation und Gewalt, Willkür und Macht. Sobald die athenischen Gesetze nicht mehr der Allgemeinheit unterstanden, sondern der Willkür einiger weniger, stand die Herrschaft des demos in Frage: Waren die Aufzeichnungen in den Archiven immer schon einsehbar und öffentlich, wie es die Geburtstagsgäste der Demokratieparties wollen?59 Oder hat es eine Phase der privaten Verwahrung und willkürlichen Deutung der Gesetze gegeben? Um diese Fragen zu beantworten, hat man sich zu fragen, was öffentlich gewesen sein muss: die Art oder der Sitz des Archivs, seine Funktion oder sein Ort? Müssen die Dokumente im Archiv durch die Hände eines Magistratsangehörigen gewandert oder müssen sie öffentlich ausgestellt worden sein? Was ist das Kriterium des Öffentlichen und der Öffentlichkeit? Sind nur die gravierten Inschriften als öffentlich anzusehen oder auch die im Metroon archivierten? Und kann die Demokratie aller Einsichthabenden spätestens mit der Errichtung des Metroons 403/2 v. Chr. beginnen, das 1868 von Curtius’ Das Metroon in Athen als Staatsarchiv als eine Wiege der demokratischen Verfassung gefeiert wurde?

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Stella Georgoudi, »Manières d’archivage et archives de cités«, in: Michel Détienne (Hg.), Les savoirs de l’écriture en Grèce ancienne, Lille 1988, S. 221–247; Maria Brosius, »Ancient Archives and Concepts of Record-Keeping: An Introduction«, in: dies. (Hg.), Ancient Archives and Archival Traditions, S. 1–16. Vismann, Akten. Medientechnik und Recht,, S. 28. C.W. Hedrick, J. Ober, The Birth of Democracy: Celebrating the 2500th Anniversary of Democracy, Princeton, Washington 1993.

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Die Wahrheit ohne Macht Derridas Frage nach der Existenz von dezentralen Archiven in Athen ist für die Archäologie der Demokratie ebenso zentral wie für die demokratische Funktion der Dekonstruktion. Beide haben es auf eine Transzendenz abgesehen, die nicht nur mit der Metaphysik, sondern weitaus folgenreicher noch mit dem Metroon installiert wurde. Das wäre also die zentrale archäologische und zugleich politische Frage nach allen historischen Beschwörungen der demokratischen Erschöpfungen des athenischen Staats, der allzu oft das Bild einer chaotischen, von demagogischen Prozeduren dahingerafften Gemeinschaft abgegeben hat – ein Bild, das ebenso sehr das Problem der Geschichte wie auch das ihres Bildes und der Repräsentation der Geschichte gewesen ist.60 Die sich zwischen Aischines und Demosthenes abspielenden Szenen des Archivs zeigen ein anderes Bild: Sie demonstrieren, dass der Auftritt von Gesetzestexten nicht Effekt einer plötzlichen, teleologischen Bewusstwerdung der Bedeutung der Gesetze war. Er beruhte auf einem lang vorher etablierten Aufschreibesystem, dessen erster Schritt das »äußerliche Dasein der Schrift« (Derrida) darstellte, das die Griechen als ihre »größte künstlerische Leistung»61 schufen. Auf den Akt der Exteriorisierung des Gedächtnisses folgte mit dem Archiv ein zweiter. Die Erscheinung des Archivs schuf die Gesten der Berufung und der Zeugenschaft, der Anfechtung und der Widerlegung, die auf immer mit ihm verbunden sein werden. Plötzlich nimmt man sich das Recht, »einer Macht ohne Wahrheit eine Wahrheit ohne Macht entgegenzusetzen«.62 Diese »Wahrheit ohne Macht« ist in der Tat eine gespenstische Angelegenheit. Denn auch wer gegen das Metroon vorging, sicherte nur seine Macht. Alle Ausschreitungen gegen diese Institution zeugten zunächst von der Anerkennung der Macht des Hinterlegten. Unternimmt 60

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So wenn Fridell (Kulturgeschichte Griechenlands, S. 226) von jenem Geschworenenproletariat berichtete, »das nur erschien, um sich durch Nichtstun einen Tagelohn zu verdienen«, weswegen »die Ämter auch dem moralisch und geistig Tiefstehenden zugänglich« gewesen seien, die »wohl weniger die geringe Bezahlung lockte als die Okkasion der Bestechung«. Fridell, Kulturgeschichte Griechenlands, S. 59. Eine kulturtechnisch informierte Archäologie der Schrift und des Aufschreibens hat uns über dieses Ereignis informiert. Vgl. stellvertretend: Eric Havelock, Preface to Plato, Cambridge (MA) 1963; ders., The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences, Princeton 1982; Jack Goody, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge (MA) 1977; ders., The Logic of Writing and the Organisation of Society, Cambridge (MA) 1986; ders., The Interface between the Written and the Oral, Cambridge (MA) 1987; Barry B. Powell, Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991; Friedrich Kittler, »Zur Archäologie der Schrift. Das Alphabet der Griechen«, in: Stefan Altekamp, Knut Ebeling (Hg.), Die Aktualität des Archäologischen – in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt am Main 2004, S. 252–262; Wolfgang Ernst, Friedrich Kittler (Hg.), Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund, München 2006. Michel Foucault, »Die Wahrheit und die juristischen Formen«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. II: 1970–1975, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2002, S. 669–792, hier S. 707.

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man nichts gegen sie, ist man ihr unterstellt; doch ficht man diese Macht an, bestätigt man sie umso mehr. Das Archiv hat uns in der Macht – und nicht umgekehrt. »Wenn man glaubt, Erlasse zu lesen, die nur für die anderen gelten, ist man bereits ganz nah am Gesetz, man verbreitet es, man ›trägt bei zur Durchsetzung eines staatlichen Erlasses‹«,63 wie Foucault Blanchot zitiert. Kurz: Wer gegen das Archiv einschreitet, weiß, dass seine Zukunft an diesem Ort hängt. Wer die Gesetze zerstört, sichert nur ihre schrankenlose Herrschaft.

Die Materialität des Archivs Doch die Schranken des Archivs waren durchaus eine räumliche und materielle Angelegenheit. Die schrankenlose Herrschaft des Metroons war an ganz reale Schranken gebunden. So berichtet Ernst Posner von Zäunen, die an Monumenten angebrachte Stelen umgaben, um die Distanz zum Gesetz (und damit das Gesetz selbst) sicher zu stellen.64 Die Wirksamkeit der Gesetze war also gleichbedeutend mit ihrer Unnahbarkeit. Seit »Schranken den räumlichen Zugang zu den Architekturen des Rechts organisieren«,65 fällt das Gesetz mit seiner Sicherstellung zusammen. Das erste Gesetz war im Metroon die Sicherstellung des Gesetzes. Schließlich besteht die Gewalt des Archivs nicht zuletzt darin, die Befehlsgewalt über die Wirklichkeit an einem Ort zu versammeln – und diese Versammlung radikal unzugänglich zu gestalten. Also nicht aufgrund jener von Fridell kolportierten »Abneigung des Griechen gegen alles Nichtumgrenzte« wurden die Gesetze separiert, kein ästhetisches Gefühl bildet den Ursprung der distanzierenden Kulturtechniken. In Athen wurden die Gesetze außer Reichweite gebracht, um ihre Unantastbarkeit – und damit ihre Wirksamkeit – zu garantieren. Das Gesetz war schon in Athen die Distanz zum Gesetz und die Instanz seiner Entzifferung. Schon im alten Griechenland gab es eine Technik der Distanzierung, die das Gesetz entfernte und unentzifferbar machte. Die Gewalt dieses Archivs bestand in der Verweigerung eines Zugangs zu diesem Ort, an dem sich alles entscheidet. Vielleicht aus diesem Grund vergrub Aristomenes bei der Unterwerfung seines Vaterlandes Messenien eine Hydria voll Zinnplatten mit Mysterienschriften in der Heimaterde.66 Aristomenes, der Eingräber jenes Krugs, der zuweilen auch als Behälter für Totenasche verwendet wurde, hatte ein Merkmal des athenischen Archivs verstanden: Das Archiv hat immer schon verloren, was es aufhebt. Kein Archiv hat jemals

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Michel Foucault, »Das Denken des Außen«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I: 1954–1969, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2001, S. 670–697, hier S. 683. Posner, Archives in the Ancient World, S. 97 ff. Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 39. Nach Pausanias 4. 26, 8. Vgl. Curtius, Das Metroon, S. 3.

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eine vergangene Wirklichkeit unveränderlich aufgehoben, in welchem Medium auch immer. Die Materialität der Zeit und die Zeitlichkeit des Materiellen lassen sich nicht aufheben. Das Archivmaterial ist ein Material, das stets gewissen Veränderungen unterliegt. Was außen ist, was außen aufgehoben ist wie im Metroon, verändert sich und bleibt sich nicht gleich. Das Außen des Archivs steht der Metaphysik der Präsenz und Identität fremd gegenüber. Die Kunst weiß, was die Archäologie lehrt: dass jede Bewahrung eine Veränderung und jede Veränderung eine Mannigfaltigkeit bedeutet. Eine Ablage bedeutet nie, dass das Abgelegte gleich oder mit sich selbst identisch bleiben würde. Allein das Ablegen markiert eine Differenz, ein Gefälle, das zuallererst in der Materialität selbst liegt. Jedem Material ist seine Veränderung wesentlich, so wie jede Materialität eine Differenz darstellt.67 Es ist eine Illusion zu glauben, die Materialität einer Speicherung sorge für deren Unveränderlichkeit, das Materielle wäre der Bürge der Wahrheit. Das Gegenteil ist der Fall: Nichts ist so heftigen Veränderungen ausgesetzt wie die Materie. Nichts ist so korrumpierbar und so kompostierbar. Weil es ausgesetzt ist, weil es außen ist, weil es dort ist, wo die Regenwürmer und Ameisen sind, die Füchse, Dachse, Kaninchen, Hamster, Ziesel, Wühlmäuse und Murmeltiere.68 Diese Geschöpfe wühlen in einem Realen, das sich stets verändert und das sie stets verändern. Die bisweilen winzigen materiellen Veränderungen und Verwirbelungen sind der Feind jedes Archivs. Denn was im Archiv lagert, besitzt nur einen Wert und eine Bedeutung, insofern es unveränderlich, unantastbar und tot ist (und selbst das Tote verändert sich noch).69 Ein Archiv wie das Metroon gilt als sicher, wenn sein Inhalt nicht verändert werden kann. Wenn alles wie ein Friedhof ruht. Doch gerade die monumentale Friedhofs-Ordnung des Archivs kann durch einen Lufthauch wieder aufgewirbelt werden wie Staub. Dagegen sträubte sich im vierten vorchristlichen Jahrhundert nicht zuletzt eine zeitgleiche Erfindung namens Metaphysik, die darin bestand, alles auf erste Prinzipien und unveränderliche Ursachen zurückzuführen – und die immerhin mit Aristoteles von jemandem erfunden wurde, den in Gestalt der Athenaion Politeia der Aufbau eines Archivs von Konstitutionen beschäftigte, das selbst auf Informationen aus den Archiven der griechischen Stadtstaaten beruhte. Wie die Metaphysik bestand auch der Totenkult des Archivs in der Feier einer Unveränderlichkeit, die ebenso wenig zu erreichen war wie Ruhe auf der Agora. Die Aporie jedes Archivs besteht darin, dass diese Institution auf unveränderbare materielle Hinterlegungen angewiesen ist, aber jedes Material sich stets verän67

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Die eindringlichste Darstellung der Materialität der Akten und ihres Archivs findet sich bei Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 7 ff. Aus: Ulrike Sommer, »Zur Entstehung archäologischer Fundvergesellschaftungen. Versuch einer archäologischen Taphonomie«, in: Elke Mattheußer, Ulrike Sommer (Hg.), Studien zur Siedlungsarchäologie, Bonn 1991, S. 51–193. Vgl. Georgoudi, Manières, S. 245; Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, S. 107.

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dert. Zwar kann das Geschriebene nur abgerufen werden, weil es materiell abgelegt ist, doch weil es materiell abgelegt ist, kann es auch verändert werden. Aus diesem Grund wird die unveränderte Ablage in derselben Bewegung unmöglich, in der archiviert wird. Sobald archiviert wird, verändert sich ein Archiviertes, es muss nicht nur aufgeschrieben und materialisiert werden, sondern auch wieder (auf-) gefunden und abgerufen werden können.

Die Exteriorität des Archivs Diese Äußerlichkeit und Exteriorität bezeichnet Derridas »Conditio des Archivs«: »Äußerlichkeit des Ortes, topographische Bewerkstelligung einer Technik der Konsignation, Errichtung einer Instanz und eines Ortes der Autorität. [...] Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne draußen«.70 Ein Archiv wie das Metroon ist also auf die »Festigkeit äußerer Dinge«71 angewiesen. Entweder seine Dokumente sind verdinglicht oder sie sind nicht. Dokumente, die man nicht dauerhaft abrufen kann, existieren nicht, ein unabgelegtes und unkonsultierbares Gesetz ist nicht in der Welt. Ein ›ungeschriebenes Gesetz‹ ist überhaupt kein Gesetz. Erst wenn ein Gesetz gegen sein Verschwinden abgesichert ist, ›ist‹ es überhaupt. Diese Äußerlichkeit des Archivs hat zwei Folgen: einmal die Möglichkeit der internen Veränderung, des Verfalls und die Möglichkeit der externen Manipulation. Denn sobald die Gesetze erst als Dinge wirksam wurden, die in der Welt waren, musste man natürlich auf die Idee kommen, diese Dinge auch wieder aus der Welt zu schaffen. Wenn die Dokumente nicht zu verändern waren, ohne ihre Macht zu bestärken, konnte man sie nicht wenigstens in Luft auflösen? Wenn das Eindringen ins Archiv eine ausweglose, verzweifelte Angelegenheit war, konnte man dann nicht wenigstens einige seiner Gesetze verschwinden lassen? Eine der spätesten Legenden um das Metroon ist jene des Aufzeichnungsfanatikers Apellikon von Teos.72 Dieser Mensch war offenbar so vernarrt in Dokumente, dass er nicht nur die von Alexander gesponserten Bibliotheken von Aristoteles und Theophrast erwarb. Er brannte auch mit diversen Erlassen aus dem Metroon durch.73 Was Apellikon nicht hatte mitgehen lassen, wurde von den römischen 70 71 72

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Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 4 und S. 25. Ebd. In Teos war man so aufzeichnungsfanatisch, dass sogar Vorschriften für Flüche aufgezeichnet wurden. Vgl. Cornelia Vismann, »Fluchen in Stein«, in: Peter Friedrich, Manfred Schneider (Hg.), Fatale Sprachen. Eid und Fluch in Literatur- und Rechtsgeschichte, München 2009, S. 57–66. Athenaeus 5.214 d–e. Vgl. Curtius, Das Metroon, S. 19; Bruno Keil, ed. Anonymus Argentinensis, Fragmente zur Geschichte der Perikleischen Athen aus einem Straßburger Papyrus, Straßburg 1902, S. 190; Georgoudi, Manières, S. 240.

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Truppen Sullas im ersten vorchristlichen Jahrhundert geraubt oder verschwand 267 n. Chr. bei Herulians Plünderung von Athen. Später fand man die Bauteile des Metroons in der Herulischen Mauer. Doch was regiert außen, was ist für Auffindbarkeiten in Mauern wie in Archiven verantwortlich? Was außen regiert – und was das Außen regiert – ist nicht das Denken, sondern die Technik. Daher dürfen wir laut Derrida »nicht die Augen schließen vor der im Gang befindlichen grenzenlosen Umwälzung der Archivtechnik«.74 Bei der Technik der antiken Archive war vor allem die Frage der Lokalisierung und Auffindbarkeit der Dokumente zentral. Heute erscheint es selbstverständlich, dass Daten niemals neutral sind, dass sie bei ihrer Übertragung und Verlagerung neu formatiert werden. Weil das Archiv mit seinem Ort identisch ist, bedeutet ein neuer Ort des Archivs – wie beispielsweise das neue Bouleuterion in Athen – eine Neuformatierung des gesamten Archivinhalts und aller gespeicherten Daten. So beteuerte auch Derrida: »Die sogenannte Archivtechnik [bestimmt] nicht mehr nur allein den Moment der bewahrenden Aufzeichnung, sondern schon die Institution des archivierbaren Ereignisses«. Aus diesem Grund sieht Derrida, dass »diese Archivtechnik kontrolliert, was schon in der Vergangenheit [...] als Vorwegnahme die Zukunft instituierte und konstituierte«.75 Mit anderen Worten: Der archivierte Inhalt, das »archivierbare Ereignis« wird von der »Archivtechnik« und ihrem Ort mit bestimmt. Weil der Ort, und besonders der Ort des Archivs, immer mitredet und mitspricht, wenn ein Dokument spricht, bedeutete der Umzug der Akten vom alten ins neue Bouleuterion die Instituierung eines komplett neuen Archivsystems.76 Die Funktion eines antiken Archivs wie des Metroons beruhte also auf gewissen Techniken. Auch ein ›primitives‹ Archiv wie das Metroon arbeitete mit Techniken der Referenz, die Dokumente aus dem Verkehr zogen und entlegene Dinge körperlos kurzschlossen. Das Abendland ist stolz auf sein öffentliches Archivsystem, sein offenbar gut funktionierender »reference service«77 wurde seit Posner unzählige Male gefeiert. Auch bei Gerichtsrednern wie Aischines und Demosthenes scheint das System der Referenzierung offenbar reibungslos funktioniert zu haben. Doch welche Technik beseitigte diese Reibung, welche Archivtechnik beherrschte das Metroon? Welche unsichtbaren Hände führten Demosthenes und Aischines die von ihnen zitierten Dokumente zu? Beziehen wir uns nur auf das Ablagesystem im Metroon und lassen wir alle medialen Fragen der Aufschreibung beiseite. Zwar ist die Struktur eines Ablagesystems von Papyrusrollen oder Holztäfelchen im Metroon nicht bewiesen. Dennoch könnte im Metroon ein nummeriertes Regalsystem

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Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 38. Ebd. Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 114 ff. Posner, Archives in the Ancient World, S. 113.

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Attentäter im Archiv

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wie im Parthenon existiert haben.78 Möglicherweise gab es auch Löcher oder Nischen in den Wänden oder »wagrechte Holzbalken von Gestellen«,79 die als epistylia, als Aufhänge- oder Verwahrungstechnik gedient haben.80 Das Archiv war schon zweitausend Jahre vor Foucault ein Gestell zur Aufhängung von Wahrheiten und Wahrsagbarkeiten: ein Dispositiv des Wahrsagens. Den einzigen Hinweis auf die Existenz von Ablage-Gefäßen oder großformatigen Krügen finden wir in der Anekdote vom Kyniker Diogenes, der angeblich samt seiner Tonne sein temporäres Heim im Metroon aufschlug – was nicht nur das Archiv in einen philosophischen topos, sondern umgekehrt die Tonne des Philosophen in ein Archiv verwandelte.81 Die human resource, die für jede Bewegung im Archiv sorgte, waren jedoch Sklaven. Die elementaren Kulturtechniken der Adressierung und Referenzierung von Dokumenten, ihre reference und retrieval, wurde von speziellen Archivsklaven besorgt, die für den Verkehr und die Zirkulation der Dokumente sorgten. Demosthenes berichtet beispielsweise von einem öffentlichen Archivsklaven, der beim Auffinden der Gesetze behilflich und offenbar notwendig war.82 Und Aristoteles berichtet, dass Archiv-Sklaven für jede Bewegung im Zentralarchiv verantwortlich waren.83 Kurz: Es war mit der Hilfe von Archiv-Sklaven, dass wir Abendländer zu Sklaven des Archivs wurden. Die Universalität jener Zugänglichkeit »für jeden, der zu untersuchen wünscht«,84 wurde von Sklaven ermöglicht, die selbst von allem ausgeschlossen waren. Damit sind die Archivsklaven die absoluten Opfer des Archivs, die Verkörperung seines Desasters: Ihr Sklavenstatus ist vom Archiv festgeschrieben. Wie die ersten von Solon aufgeschriebenen Gesetze sich mit der Blutrache beschäftigten, so ist das Archiv die Blutrache der Institutionen. Deren Inhalte kann man ebenso wenig ändern wie die eigene Geburtsurkunde, die immer schon im Archiv gelandet ist, bevor wir uns ihrer bemächtigen können. Der von Cioran betrauerte Nachteil geboren zu sein wird also erst mit der Erfindung des Archivs wirksam. Weil es mit seinen Urkunden das Leben gibt und instituiert, kann das Archiv dieses gesetzmäßige Leben in jedem Augenblick wieder nehmen. Bevor man im Archiv gebunkert war, konnte man sich jederzeit bequem wieder aus dem Staub machen, der man war.

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Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 148 Adolph Wilhelm, »Über die öffentliche Aufzeichnung von Urkunden«, in: Beiträge zur griechischen Inschriftenkunde, Wien 1909, S. 248. Posner, Archives in the Ancient World, S. 112. Nach Diogenes Laertius 6.2.23. Vgl. dazu Posner, Archives in the Ancient World, S. 112; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 246. West, The public archives, S. 539; Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 123. Aristoteles, Athenaion Politeia 47.2. »toi boulomenoi skopein«, übers. nach Sickinger, Public records and archives in classical Athens, S. 78.

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Kommentare als Archiv Relektüren der Genesis von Lucas Cranach und Martin Luther Beate Fricke

Lucas Cranachs Bilder mit Szenen der Genesis weisen eine ganze Reihe von Besonderheiten auf, die den engen Austausch des Malers über Detailfragen der Auslegung der Genesis mit Martin Luther vor Augen führen. Sie sind in den 1530er Jahren in Wittenberg entstanden, wo Luther bereits von März 1523 bis September 1524 über das erste Buch Moses gepredigt hatte. 1535 wandte sich der Theologe erneut diesem Text zu und arbeitete bis zu seinem Tod an seinem Genesis-Kommentar. Beide, der Maler wie der Theologe, greifen in ihren Werken, den Bildern mit Szenen aus dem Paradies als auch im Kommentarwerk zur Genesis, auf ein Archiv älterer Deutungstraditionen der Paradiesgeschichte zurück. Es handelt sich dabei nicht um ein konkretes, sondern ein ›imaginäres Archiv‹, das im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit als Folge der wachsenden Verbreitung des gedruckten Buches einen fundamentalen Wandel erfährt.1 Cornelia Vismann hat die Veränderungen im Hinblick auf das juridische System in dieser Epoche als Übergang von »Urkunden zu Akten« umschrieben,2 im Fall von Bibliotheken ist es ein schleichender Übergang von der Handschrift zum gedruckten Buch. Die Geschichte der Institutionen, die als Vorgänger dessen betrachtet werden, was später als Archiv bezeichnet worden ist,3 ist gut erforscht. Aufmerksamkeit wurde vor allem den Veränderungen der Sammlungen von Handschriften, Urkunden und Dokumenten am Ausgang des Mittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit gewidmet sowie den neu entstehenden Sammlungen von Gerichts- oder 1

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Der Begriff ›Archiv‹ wird hier ahistorisch verwendet. ›Imaginär‹ geht auf Hans Blumenberg zurück, der Leibniz’ Versuch einer Weltbeschreibung als »imaginären Handschriftenfund von Annalen und Chroniken« auffasst. Er stützt sich dabei auf Leibniz’ Brief von 1671 an den Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg, in dem er berichtet: »ich habe dadurch alles, was erzehlet werden soll, gefunden« (Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1979, S. 128 f.). Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 127–203. Vgl. Randolph Head, »Mirroring governance. Archives, inventories and political knowledge in early modern Switzerland and Europe«, in: Archival Science 7/4 (2007), S. 317–329; ders., Knowing like a state: The transformation of political knowledge in Swiss archives 1450–1770, Chicago 2003; Randolph Starn, »Truths in the Archives«, in: Common Knowledge 8/2 (2002), S. 387–401; Adolf Brennecke, Wolfgang Leesch, Archivkunde, München 21993.

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Handelsdokumenten.4 Systematisch werden in dieser Zeit ältere Bestände erweitert, neu mit ihrer Sammlung begonnen oder große Konvolute von Texten und Dokumenten in Bibliotheken, Handschriften- und Urkundensammlungen in Klöstern und Städten, an Höfen und Gerichten, in Familien- und in Gelehrtenbibliotheken zusammengeführt. Ich gehe im Folgenden nicht von konkreten Sammlungen aus, sondern verfolge zwei exemplarische Gänge in ein imaginäres Archiv von Schriften, die sich auf das erste Buch der Bibel beziehen. Dabei zeichne ich nach, wie Lucas Cranachs und Martin Luthers Rückgriffe auf dieses Archiv spätantiker und mittelalterlicher Genesis-Auslegungen eine Ausübung von Deutungsgewalt darstellt, indem sie zur Verdrängung von Lesarten der Genesis oder zum Gegenteil, zu ihrer Kanonisierung, beitragen. Lucas Cranach d. Ä. hielt sich seit 1505 am kursächsischen Hof in Wittenberg auf und war mit Philipp Melanchton und Martin Luther befreundet.5 Wie zentrale Anliegen der Reformation sich auf die Kunst ausgewirkt haben, ist an seinem Werk

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Als ein wichtiges Beispiel für Luthers Arbeit sei die Einrichtung der Bibliothek im Kontext der Universitätsgründung genannt: Die Universität in Wittenberg (Leucorea) wurde 1502 vom Kurfürsten Friedrich III. gegründet. 1512 beauftragte er seinen Geheimsekretär, Georg Spalatin, mit dem Aufbau einer Bibliothek, die im Schloss untergebracht war. Die Gründungsurkunde des Kurfürsten Johann Friedrich von 1536 benennt den Vetter Herzog Friedrich als Gründer und verleiht einen Etat von 100 Gulden im Jahr sowie 40 Gulden jährlich als Lohn für einen Verwalter und Aufseher, »ainen frommen man, der ain gelerter magister sei«. Nach der Schlacht bei Mühlberg 1547 ging sie in den Besitz des Fürsten über und gelangte nach Jena, wo sie 1558 als Bibliotheca Ducalis den Grundstock für die Universitätsbibliothek darstellte. Vgl. Geschichte der Universitätsbibliothek Jena 1549–1945, hg. von der Universitätsbibliothek Jena, Weimar 1958 (= Claves Jenenses 7); Bernhard Tönnies, Die Handschriften der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Bd. 1: Die mittelalterlichen lateinischen Handschriften der Electoralis-Gruppe, Wiesbaden 2002; Carl Georg Brandis, »Luther und Melanchthon als Benutzer der Wittenberger Bibliothek«, in: Theologische Studien und Kritiken 2 (1917), S. 206–221; Maria Grossmann, Humanism in Wittenberg 1485–1517, Nieuwkoop 1975, hier S. 100–112; Ernst Hildebrandt, »Die kurfürstliche Schloß- und Universitätsbibliothek zu Wittenberg 1512–1547. Beiträge zu ihrer Geschichte«, in: Zeitschrift für Buchkunde 2 (1925), H. 1, S. 34–42, H. 3, S. 109–129, H. 4, S. 157–188; Sabine Wefers, »Wissen in Fässern und Kisten. Von Wittenberg nach Jena«, in: Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, in: Volker Leppin, Georg Schmidt, Sabine Wefers, (Hg.), Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 204, Gütersloh 2006, S. 191–207; Bernhard Wilkomm, »Die Bedeutung der Jenaer Universitätsbibliothek für die reformationsgeschichtliche Forschung«, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 30/6 (1913), S. 245–261. Edgar Bierende, Lucas Cranach d. Ä. und der deutsche Humanismus. Tafelmalerei im Kontext von Rhetorik, Chroniken und Fürstenspiegeln, München u. a. 2002; Hanne Kolind Poulsen, »Between convention, likeness and iconicity: Cranach’s portraits and Luther’s thoughts on images«, in: Andreas Tacke (Hg.), Lucas Cranach d. Ä. 1553–2003. Wittenberger Tagungsbeiträge anlässlich des 450. Todesjahres Lucas Cranachs des Älteren, Leipzig 2007 (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 7), S. 205–216.

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exemplarisch erörtert worden.6 Er führte eine gut organisierte Werkstatt, in der er ab den 1530er Jahren auch seine Söhne Hans und Lucas d. J. beschäftigte; von 1537 bis 1544 bekleidete er mehrfach das Amt des Bürgermeisters.7 Er ist wie seine Zeitgenossen auf der Suche nach neuen Bildern für eine alte Geschichte.8 In der Zeit um 1500 werden – wie auch für viele andere biblische und mythologische Stoffe – grundlegend neue Bilder für die Schöpfungsgeschichte in der Genesis erfunden.9 Offen zur Schau gestellte Sexualität begleitet den Sündenfall,10 der Engelssturz ergießt sich über das Paradies, in dem die Schöpfung des Menschen in mehreren Szenen über das Bild verteilt gezeigt wird. Zu malen, was vorher war – das »inanis et vacua« der Vulgata, das »ἀόρατος καὶ ἀκατασκεύαστος« der Septuaginta oder das ‫( תֹהוּ ָובֹהוּ‬Tohuwabohu, Chaos) der Torah – regt die Künstler dieser Epoche zu zahlreichen Innovationen in ihren Darstellungen an.11 6

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Joseph Leo Koerner, The reformation of the image, London 2004, sowie Berthold Hinz, »Lucas Cranach d. Ä.: Stil- und Themenwandel im Zuge der reformatorischen Bilderkrise«, in: ebd., S. 217–232; Andreas Tacke, »Das Hallenser Stift Albrechts von Brandenburg. Überlegungen zu gegen-reformatorischen Kunstwerken vor d. Tridentinum«, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hg.), Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Ein Kirchen- und Reichsfürst der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1991 (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 3), S. 357–380; Werner Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, München 1983. Bodo Brinkmann (Hg.), Cranach der Ältere. Ausst.-Kat. Städel Museum, Ostfildern 2007; Berthold Hinz, Lucas Cranach d. Ä., Reinbek bei Hamburg 1993; Dieter Stievermann, »Lucas Cranach und der kursächsische Hof«, in: Claus Grimm, Johannes Erichsen, Evamaria Brockhoff (Hg.), Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken, Regensburg 1994, S. 66–77; Berthold Hinz, Lucas Cranach d. Ä., Reinbek bei Hamburg 1993. Franz Matsche, »Lucas Cranachs mythologische Darstellungen«, in: Claus Grimm, Johannes Erichsen und Evamaria Brockhoff (Hg.), Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken, Regensburg 1994, S. 78–88. Sabine Bark, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Das Thema des Sündenfalles in der altdeutschen Kunst (1495–1545), Frankfurt am Main u. a. 1994 (= Europäische Hochschulschriften Reihe XXVIII 203); Maryan W. Ainsworth (Hg.), Man, myth, and sensual pleasures. Jan Gossart’s Renaissance, the Metropolitan Museum of Art, New York, New Haven u. a. 2010; Edgar Wind, Pagan mysteries in the Renaissance, London 1958; Jean Seznec, La survivance des dieux antiques. Essai sur le rôle de la tradition mythologique dans l’humanisme et dans l’art de la Renaissance, London 1940; Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Saturn and melancholy. Studies in the history of natural philosophy, religion and art, London u. a. 1964. Anne-Marie Bonnet, »Der Akt im Werk Lucas Cranachs. Bedeutung u. Spezifität der ›nacketen Bilder‹ innerhalb d. deutschen Renaissance-Malerei«, in: Claus Grimm, Johannes Erichsen, Evamaria Brockhoff (Hg.), Lucas Cranach. Ein Maler-Unternehmer aus Franken, Regensburg 1994, S. 139–149. Hans Martin von Erffa, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Schriftquellen, 2 Bde., München 1989 und 1995, hier Bd. 1, S. 178–193; Pieter W. van der Horst, »Chaos«, in: Dictionary of Deities and Demons in the Bible, hg. von K. van der Toorn, B. Becking und Pieter W. van der Horst, Leiden 21999, S. 185–189 sowie Claus Westermann, Genesis 1–11, Darmstadt 1972 und Ronald S. Hendel, »Introduction and Commentary on Genesis«, in: Harold W. Attridge (Hg.), Harper Collins Study Bible Fully Revised and Updated, New York 2006, S. 3–82.

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Es ist auch Gutenbergs Erbe, der die Illustration der Genesis im Rahmen von Bibelausgaben wieder mit der gesteigerten Nachfrage nach neuen Bildern zu neuen Bildschöpfungen inspiriert und auf diese Weise das Archiv der Texte in überlieferten Handschriften für ein größeres Publikum zugänglich macht. Diese Schriften waren bis zu diesem Zeitpunkt vor allem in Klosterbibliotheken, geistlichen und weltlichen Schatzkammern sowie Bibliotheken von Fürsten und Gelehrten aufbewahrt, gesammelt, kopiert und ergänzt worden und daher nur einem sehr eingeschränkten Leserkreis zugänglich gewesen.12 Maler wie Lucas Cranach wurden beauftragt, Kupferstiche für bekannte Texte wie auch für erstmals gedruckte Schriften anzufertigen. Und so entstand 1512 Die Erschaffung Evas für Ein ser andechtig Christenlich Buchlein aus Hailigen schrifften vnd Lerern von Adam von Fulda in Wittenberg.13 Wenn man bedenkt, dass Druckgraphiken und gedruckte sowie illustrierte Bücher mit Motiven des Alten Testaments weit verbreitet waren, erstaunt es, dass im Werk von Albrecht Dürer Illustrationen zum Alten Testament eine so geringe Rolle spielen, zählten doch sein Stich des Sündenfalls und die beiden Tafelbilder mit demselben Thema bereits zu seinen Lebzeiten zu seinen bekanntesten Bildern (Abb. 1).14 Dürers Bildschöpfungen zum Sündenfall haben mit ihrer Betonung der erotischen Spannung zwischen Adam und Eva zahlreiche Grafiker und Maler inspiriert, so auch Lucas Cranach d. Ä., der in den 1530er Jahren an einer Serie von Paradiesbildern arbeitet. Holzschnitte und Zeichnungen des Sündenfalls hat er bereits seit 1509,15 zahlreiche Gemälde des Themas besonders in der Zeit von 1530 bis 1540 angefertigt.16 12

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Gutenberg. Aventur und kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution, hg. von der Stadt Mainz anlässl. des 600. Geburtstages von Johannes Gutenberg, Konzeption von Eva-Maria Hanebutt-Benz, Katalogkoordination und -red.: Wolfgang Dobras, Mainz 2000. Vgl. Johannes Jahn (Hg.), Lucas Cranach d. Ä. Das gesamte graphische Werk. Mit Exempeln aus dem graphischen Werk Lucas Cranachs d. J. und der Cranach-Werkstatt, Berlin 1972, S. 545–554. So z. B. in der kleinen Passion von 1510, als Beispiel für ein anderes alttestamentarisches Thema, das er behandelt. Hier sei auf Lot mit seinen Töchtern verwiesen, die auf der Rückseite des Madonnenbildes in Washington von 1495 dargestellt sind. Vgl. ausführlich zur Sexualisierung des Sündenfalls: Anne-Marie Bonnet, »Akt« bei Dürer, Köln 2001 sowie Bark, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Z. B. der Holzschnitt von 1509, vgl. Jahn (Hg.), Lucas Cranach d. Ä. Das gesamte graphische Werk, S. 292 sowie die verlorene Zeichnung (Dresden), ca. 1525, vgl. Michael Hofbauer, Cranach. Die Zeichnungen, Heidelberg 2010; Lucas Cranach d. Ä. Die Erschaffung Evas, 1512, Holzschnitt in: Ein ser andechtig Christenlich Buchlein aus Hailigen schrifften vnd Lerern von Adam von Fulda in teutsch reymenn gesetzt, Wittenberg 1512, vgl. Jahn (Hg.), Lucas Cranach d. Ä. Das gesamte graphische Werk, S. 545–554. Auch die im weiteren Umfeld des Themas anzusiedelnden Gemälde des goldenen Zeitalters werden auf die Zeit um 1530 datiert, z. B. in München und Oslo, vgl. Max J. Friedländer, Jacob Rosenberg, Lucas Cranach, Berlin 1932, Nr. 261 und 262. Christian Schoen, Albrecht Dürer. Adam und Eva, die Gemälde, ihre Geschichte und Rezeption bei Lucas Cranach d. Ä. und Hans Baldung Grien, Berlin 2001; Caroline Campbell (Hg.), Temptation

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Abb. 1: Albrecht Dürer, Sündenfall, Kupferstich, 1504

Neu an den Paradiesbildern Cranachs (in Dresden, Abb. 2, und Wien, Abb. 3) ist, dass Adam nicht als Erwachsener, sondern als Kind bzw. Jugendlicher geschaffen wird. Der Gedanke des als Kind geschaffenen Adams geht auf Irenäus von Lyons Schrift gegen die Häresien zurück, die dieser gegen Gnostiker und andere Lehren im zweiten Jahrhundert verfasst hat.17 Diese Vorstellung ist mit weitreichenden Implikationen für eine Reihe von theologischen Fragen verbunden, die über die

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in Eden. Lucas Cranach’s »Adam and Eve«, Courtauld Institute of Art Gallery, London 2007; Karin Kolb, Bestandskatalog der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden – Cranach-Werke in der Gemäldegalerie Alte Meister und der Rüstkammer, in: Harald Marx, Ingrid Mössinger (Hg.), Cranach, Köln 2005, hier Nr. 1: Paradies, Gal.-Nr. 1908A, S. 200–206, hier S. 205. Irenaeus von Lyon, Adversus Haereses, 4.37.1; 4.38.3, in: Irenaeus Lugdunensis, Adversus haereses. Griechisch, lateinisch, deutsch, übers. und eingel. von Norbert Brox, 5 Bde., Freiburg im Breisgau 1993–2001 (= Fontes christiani 8). Zum Verhältnis der Lesart Ireneäus’ zu den Lehren der Ophiten und Valentinianer siehe Thomas Holsinger-Friesen, Irenaeus und Genesis. A study of competition in early Christian hermeneutics, Winona Lake 2009, insbes. S. 42–103. Zu Irenäus’ Schöpfungsvorstellungen siehe Matthew Craig Steenberg, Irenaeus on creation: the cosmic Christ and the saga of

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Abb. 2: Lucas Cranach d. Ä., Paradiesbild, Öl auf Holz, 1530, Kunsthistorisches Museum, Wien

Jahrhunderte immer wieder neu erörtert wurden: wie lange die Schöpfung der Welt dauerte, ob die Zeit erst danach begann, ob die Schöpfung ex nihilo und in einem Moment vollzogen wurde, oder ein Prozess war bzw. ob die Angabe von sechs Tagen eine Metapher für eine längere Zeitspanne ist. Genesis-Kommentare und theologische Traktate, die sich auf die Genesis beziehen, sind das Archiv dieser Auseinandersetzungen. Nur über sie lassen sich die Debatten verfolgen, die zeitund raumübergreifend mit immer neuen Argumenten, von sehr verschiedenen Positionen aus und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten geführt wurden. Die Diskussion über den kindlichen Adam führt soweit, dass im 13. Jahrhundert Richard de Mediavilla darüber spekuliert, ob Adam und Eva bereits im Paradies Sex hatten und Kinder zeugten, und der Franziskaner darüber nachdachte, ob diese Kinder dann sterblich waren oder nicht.18 In der Kunst wird die Formung Adams

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redemption, Leiden 2008; allgemein zu Irenäus siehe Eric Osborn, Irenaeus of Lyons, Cambridge 2001. Richard de Mediavilla, In secundum Sententiarium, Venedig 1505–07, hier II. Sent. D. XX a. 1, q. 1, S. 251, q. 3, S. 253 und q. 4, S. 254 sowie a. 2, q. 3, S. 256. Edgar Hocedez, Richard de Middleton, sa vie, ses œuvres, sa doctrine, Louvain, Paris 1925 (= Spicilegium sacrum lovaniense. Etudes

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Abb. 3: Lucas Cranach d. Ä., Paradiesbild, Öl auf Lindenholz, 1536, Gemäldegalerie Dresden

aus Lehm immer wieder dargestellt, jedoch in erster Linie mit Referenz auf die Begründung künstlerischer Arbeit in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der ein Gott, der wie ein Bildhauer operiert, entgegen kommt. Die volkssprachlichen Texte sprechen von Lehm oder einem Erdkloß als Material.19 Soweit der Bestand an erhaltenen Werken eine Rekonstruktion dieser Vorstellung zulässt, ist jedoch der kindliche Adam aus Lehm eine Erfindung Cranachs.20

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et documents 7), hier S. 261 f. sowie Alain Boureau, L’inconnu dans la maison. Richard de Mediavilla, les franciscains et la vierge Marie à la fin du XIIIe siècle, Paris 2010. »Do got all ding beschaffen het// Als Genesis geschrieben stet// Und Adam aus dem erden klos// Er sant in yn einSchlaff was gros// Und name ein Rip aus seinem leib// Darauß er im beschuff ein weyb« (Adam von Fulda, Ein ser andecthig cristenlich buchlein, mit 8 Holzschnitten von Lucas Cranach, 1512 von Symphorian Reinhart in Wittenberg gedruckte Ausgabe, die als Faksimile nach dem Exemplar in Berlin nachgedruckt vorliegt, hg. von Eduard Flechsig, Berlin 1914); Hans Georg Thümmel, »Lucas Cranach d. Ä., die Reformation und die Altgläubigen«, in: Uta Schedler, Susanne Tauss (Hg.), Kunst und Kirche: Beiträge der Tagung Kunst und Kirche, 20.–22. September 2000 in Osnabrück, , Osnabrück 2002, S. 53–76. In der Spätantike und im Mittelalter gibt es vereinzelt Darstellungen, in denen der von Gott geformte Adam etwas kleiner als Gott bzw. kleiner als in den folgenden Szenen dargestellt wird, vgl.

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Wie kommt nun ein Maler in den 1530er Jahren dazu, einen Gedanken aufzugreifen und erstmals im seinem Bild umzusetzen, der in der Spätantike entwickelt, aber nie in Bildern dargestellt wurde? Wie werden solche Vorstellungen vermittelt, wenn sie nicht einfach eine sogenannte ikonographische Tradition sind, d. h. eine Form und Vorstellung, die Maler voneinander übernommen und weiterentwickelt haben? Da nur in sehr wenigen Fällen bekannt ist, über welche theologischen Kenntnisse Maler im Mittelalter verfügten, behilft man sich mit theologischen Schriften, die in ihrem regionalen oder personalem Umfeld entstanden sind. Wir wissen nicht, ob Cranach selbst mit Irenäus von Lyons Traktat vertraut war. Aber sowohl Melanchthon kannte Irenäus’ Schrift21 als auch Luther, der Teile dieser Schrift übersetzte. Der Reformator verwendete ein Argument Irenäus’ im Streit mit den Papisten, mit Oekolampad und mit Zwingli 1526/27 um die Interpretation verschiedener Stellen aus Adversus haereses. Luther nimmt »Irenäus als Kronzeugen für sein Abendmahlsverständnis in Anspruch«.22 Im Herbst 1526 schreibt Melanchthon an Johann Agricola: »Ich schicke Euch Irenäus wie versprochen und eine Auslegung Luthers zu gewissen Stellen von ihm, welche Euch gefallen wird, wie ich hoffe«.23 Dabei handelte es sich vermutlich um Luthers Schrift »Drey spruche stehen ym Irenaeo, welche vom Sacrament lauten«. Sie nimmt bereits vorweg, was er zu einem Traktat über das Abendmahl (»Das diese worte Christi ›Das ist mein Leib etc.‹ noch fest stehen wider die Schwarmgeister«) im Jahr darauf ausarbeiten wird.

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hierzu z. B. den Sarkophag des 4. Jahrhunderts in Frankreich, Aire-sur-l’Adour (Vicus Julii), St. Pierre (St. Quitterie). In einigen volkssprachlichen Texten wird explizit das Alter von 30 Jahren genannt, vgl. Michael Beheim, Zugwiese, V. 253–55, S. 13: »Der mensch gemachet wart in menlicher gestalt er was gefurmet und gestelt in mossen als ob er wer pe y dreissig jaren alt.« (zitiert nach: Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. Cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. Cpg 312 und der Münchener Hs. CGM 291 sowie Hans Gille, Ingeborg Spriewald [Hg.], sämtlicher Teilhandschriften, Bd. 1, Berlin 1968, S. 13) Vgl. hierzu Eginhard Peter Meijering, Melanchthon and Patristic Thought: The Doctrines of Christ and Grace, the Trinity and the Creation (= Studies in the History of Christian Thought 32), Leiden 1983. Zum Gebrauch der Kirchenväter in der Auseinandersetzung zwischen Oekolampad, Melanchthon, Luther und Zwingli vgl. G. Hoffmann, Sententiae patrum. Das patristische Argument in der Abendmahlskontroverse zwischen Oekolampad, Zwingli, Luther und Melanchthon, Diss., Heidelberg 1972. Karl-Heinz zur Mühlen, »Luther und Irenäus«, in: Athina Lexutt, Volker Ortmann (Hg.), Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationsszeit, Göttingen 2011, S. 11–21, hier S. 11.

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Die Deutung und ihre Genese In den beiden Paradies-Bildern (Abb. 2 und 3) setzt Cranach beim Betrachter die genaue Kenntnis der Geschichte voraus, um die über den Bildraum verteilten Szenen zu erschließen. Anders als bis dahin in der Malerei üblich gibt Cranach – außer mit den Szenen selbst – keinerlei Hinweise darauf, wie die Lektüre des Bildes erfolgen soll. In den sog. Simultanbildern der Epoche leiten Maler den Betrachter durch das Bild, indem sie Wege, Durchgänge oder voneinander abgegrenzte Räume wie eine Bühne aufbauen oder die einzelnen Szenen entsprechend der Lesegewohnheit von links nach rechts anordnen.24 Nicht so Cranach in seinem singulären Umgang mit der Chronologie der Einzelszenen in seinen Paradiesbildern: Im Dresdner Bild von 1530 (Abb. 2) entdeckt der Betrachter den Anfang der Geschichte, die Formung Adams (in kleiner Gestalt) aus Lehm ganz hinten, etwas links von der Mitte. Die Erschaffung Evas folgt oben rechts etwas weiter vorne, zur Belehrung über den Baum der Erkenntnis stehen die Stammeseltern mit Gottvater in der Bildmitte, der Sündenfall erfolgt weiter links etwas tiefer im Bildraum, während Gottvater bei der Bestrafung bereits der Sichtbarkeit entzogen aus dem Himmel zürnt (2. Szene von rechts) und die Vertreibung durch Gabriel am linken Bildrand ganz hinten erfolgt.25 Im Wiener Bild von ca. 1536 (Abb. 3) beginnt der Parcours mit der Erschaffung Adams (ganz rechts), der Erschaffung Evas (im Hintergrund in der Mitte), streift die Belehrung der Stammeseltern über die verbotene Frucht (im Vordergrund) und kommt zuletzt zum Sündenfall (rechts im Mittelgrund), zu ihrer Scham und zum Zorn Gottes (links im Mittelgrund) sowie zu ihrer Vertreibung aus dem Paradies (ganz links).26 Doch nicht nur die Art, wie der Betrachter gezwungen wird, das Bild nicht nur anzusehen, sondern in einem vergleichenden Leseakt seine Chronologie zu verstehen, ist ungewöhnlich – auch die Vielzahl der Tiere, meistens als Paar gezeigt, ist besonders im Fall von Dresden einzigartig. Eine Rehherde mit Hirsch, Pferde, ein Einhorn, Pfauen, Affen, Kraniche, Schwäne, ein Fuchs, Kühe, Löwen, ein Hase,

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Ehrenfried Kluckert, Die Erzählformen des spätmittelalterlichen Simultanbildes, Tübingen 1974 sowie zu Memling im Speziellen ders., »Die Simultanbilder Memlings, ihre Wurzeln und Wirkungen«, in: Das Münster 27 (1974), S. 284–295; Traugott Stephanowitz, »Sinn und Unsinn des Simultanbildes«, in: Bildende Kunst (1972), S. 327–331. Neben dem sog. Simultanbild, das besonders für die Passionsgeschichte, aber auch für andere Legenden seit Mitte des 15. Jahrhunderts eine beliebte Erzählform war, gibt es auch die Gepflogenheit, die Vor- oder Nachgeschichte in den Bildmittel- oder den Bildhintergrund zu verlegen, eine Praxis, die Lucas Cranach hier aufgreift. Kolb, Bestandskatalog, hier Nr. 1: Paradies, Gal.-Nr. 1908A, S. 200–206, hier S. 205, mit einer Bibliographie. Die Tafel ist aus Lindenholz, misst 118 x 80 cm, und ist rechts unten mit der Schlange mit stehenden Flügeln und der Jahreszahl 1530 »signiert«. Karl Schütz, Nr. 10 in: Lucas Cranach der Ältere und seine Werkstatt. Jubiläumsausstellung museumseigener Werke, Kunsthistorisches Museum Wien, Wien 1972 mit bibliographischen Angaben zum Werk. Die Tafel misst 81x114 cm.

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Störche, Reiher u. a. sind über die gesamte untere Bildhälfte verteilt und vermitteln in ihrem einträchtigen Nebeneinander eine Vorstellung von paradiesischem Frieden. Doch ist ihre Auswahl ein Ausschnitt, oder verweisen die verschiedenen Tierarten auf eine weitere Bedeutungsebene? Alle sind einschlägig als symbolträchtige Wesen bekannt. Worauf sie im Detail verweisen, haben zahlreiche kunsthistorische Studien an diesem Fall und anderen Beispielen, wie etwa dem bereits genannten Dürerstich von Adam und Eva (Abb. 1) und seiner Rezeption durch Cranach (Abb. 4), erarbeitet und die Quellen hierfür, aus deren Wissen Künstler wie Rezipienten schöpften, ausfindig gemacht.27 Die Menge an Tierarten jedoch lässt bei den Paradiesszenen Cranachs fast schon an die Szene mit Adams Benennung der Tiere denken. Nicht zuletzt durch diesen Kunstgriff erinnert der Maler den Betrachter daran, dass die Deutungshoheit noch immer beim Urheber, dem Schöpfer, liegt. Die Namensgebung der Tiere betrifft jedoch eine Szene aus dem »anderen« Schöpfungsbericht, der hier gerade nicht als Grundlage gewählt wurde. Adam wird aus Lehm (als Kind und nicht als Erwachsener) und Eva aus seiner Rippe geschaffen, und genau das ist die Variante, die in der sog. Schrift des Jahwiten, in Gen 2, 4b–3, 24, erzählt wird. Die andere, hier nicht gezeigte Variante, setzt mit der Erschaffung des Kosmos ein und erzählt im Sechs-Tage-Werk die Erschaffung des Menschen als gleichzeitige Schöpfung von Mann und Frau. Cranach wählt im Wiener Gemälde beim Sündenfall den Moment, ehe Adam in den Apfel beisst, und er zeigt Eva als Verführerin (in Rückenfigur). Im Dresdener Bild hingegen legt Lucas Cranach besondern Wert auf das gemeinsame Essen des Apfels und darauf, dass der Kopf der Schlange das Aussehen Evas angenommen hat, um Adam zu täuschen.28 Hier tritt das gemeinsame Moment der Entscheidung, davon zu essen und zu erkennen (und erst dann begehren zu können), stär27

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Thomas Noll führt am Beispiel von Albrecht Dürers Darstellungen des Sündenfalls vor, auf welche Erzählungen der Paradiesgeschichte Dürer Bezug genommen haben könnte und macht das an der Rolle Evas und ihren positiven wie negativen Besetzungen fest. Thomas Noll, »Albrecht Dürers ›Adam und Eva‹ im Prado. Erzählstil, Zeitstruktur und Deutung«, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 63 (2010), S. 225–252, hier vor allem S. 233–237. Ausführlich zu den Schriftquellen für den Sündenfall siehe von Erffa, Ikonologie der Genesis, hier Bd. 1, S. 178– 193. Diese Idee geht auf Petrus Comestor zurück, der diesbezüglich auf Beda Venerabilis verweist, vgl. Petrus Comestor, PL 198, Sp. 1072B: »Elegit etiam quoddam genus serpentis, ut ait Beda, virgineum vultum habens, quia similia similibus applaudunt, et movit ad loquendum linguam ejus, tamen nescientis, sicut, et per fanaticos, et energumenos loquitur, nescientes, et ait: Cur praecepit vobis Deus ut non comederetis de omni ligno paradisi, id est, ut comederetis de ligno, sed non de omni«. In der Ikonographie des 12. und 13. Jahrhunderts ist die Schlange mit einem Frauenkopf ähnlich der Eva weit verbreitet und bezieht sich auf die Eva-Lilith des Petrus Comestor. Das ist auch der Fall im Sybillen Boich des 14. Jahrhunderts, das 1513/14 gedruckt in Köln erschien, in: Oskar Schade (Hg.), Geistliche Gedichte des XIV. und XV. Jahrhunderts vom Niderrhein, Hannover 1854 (Neudruck: Amsterdam 1968), S. 291–332 (299, V. 93–99), vgl. Noll, »Albrecht Dürers ›Adam und Eva‹ im Prado«, S. 233.

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Abb. 4: Lucas Cranach d. Ä., Sündenfall, Öl auf Holz, 1531, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin

ker in den Vordergrund.29 Er trennt offensichtlich strikt zwischen den zwei, andernorts oft vermischten Handlungen: der Verführung Evas durch die Schlange und ihrem Biss in den Apfel einerseits sowie der Weitergabe des Apfels und der Verführung Adams andererseits. Im Heilsspiegel (Speculum humanis) wird das Geschehen in zwei Bildern geschildert. Mit dieser positiveren Sicht auf Eva verdrängt er die auf Paulus und Augustinus zurückgehende Lesart, dass sie zunächst alleine vom Apfel gegessen und dann erst Adam (zusammen mit der Schlange) verführt habe. Diese Variante war in vielen volkssprachlichen Texten weit verbreitet, wie z. B. im Leben Adams und Evas, bei Hans Sachs,30 ebenso wie in theologischen Schriften wie bei29

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Ausführlich hierzu Wayne Martin, »The judgment of Adam. Self-consciousness and normative orientation in Lucas Cranach’s Eden«, in: Joseph D. Parry (Hg.), Art and phenomenology, London 2011, S. 105–135. Hans Sachs, Tragedia von schöpfung, fal und außtreibung Ade auß dem paradeyß. Hans Sachs folgt der Auffassung, dass Eva verführbar war, weil sie nichts vom göttlichen Verbot wusste, bzw. nur

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spielsweise dem Sentenzenkommentar Bonaventuras, der sich auf die paulinische Tradition (1. Tim 2, 14: die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot) stützt.31 Cranach ist hierin ungewöhnlich präzise, die beiden Varianten nicht zu vermischen und ›eine‹ stringente Geschichte zu erzählen. Ein drittes Werk von Cranach, der linke Flügel eines Altars mit dem Jüngsten Gericht (Berlin, Abb. 5), offenbart, wie genau Cranach es mit dieser Trennung nimmt und zeigt zugleich, wie nahe Cranachs Lesart der Schöpfungsgeschichte des Menschen derjenigen Martin Luthers steht.32 Im Berliner Gemälde ist eindeutig, wo die Geschichte beginnt: mit der Erschaffung der Menschen, wobei die Erschaffung Evas so dargestellt ist, dass der Ausstieg aus der Rippe Adams bereits vollzogen ist. Letztere ist in Zeiten mit zunehmend höherem Wirklichkeitsanspruch an die Malerei ein problematisches Sujet geworden. Vielleicht wurde die Erschaffung Evas von Cranach in den Paradiesbildern Wiens und Dresdens auch deshalb ganz in den Hintergrund platziert.33 Etwas weiter gen Bildmittelgrund verführt die Schlange im Baum Eva, und Eva Adam. Noch etwas weiter rechts schwingt Gabriel sein Schwert und treibt die Schamerfüllten aus seinem Reich. Je weiter der Betrachter ihnen ins Bild folgt, umso unheimlicher werden die Details und umso augenfälliger wird die Rezeption Boschs. Inszeniert wird die Konsequenz des Engelssturzes, der Eintritt des Bösen als herrschende Gewalt in die Welt, der sich gleichzeitig darüber ereignet. Der Engelssturz wird in der Genesis nicht erzählt und stellte Künstler, die chronologisch die Schöpfungsgeschichte schilderten, während des Mittelalters immer wieder vor die Frage, wo sie diese Szene ›einfügen‹ sollten. In der Zeit bis 1500 lösten sie dieses Problem, indem

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von Adam davon unterrichtet wurde, da sie erst nach seiner Aussprache geschaffen worden ist. Vgl. Bonaventura, »Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi«, in: Quaracchi (Hg.), Opera omnia, 4 Bde., 1882–89, hier Bd. 2 (1885), lib. 2, dist. 21, cap. 8, S. 491: »ut per virum ad mulierem perveniret mandatum; quia mulier, quae subiecta viro fuit, non nisi mediante viro divinum debuit accipere praeceptum«. Vgl. Heinrich Köster, »Urstand, Fall und Erbsünde in der Scholastik«, in: Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, 3b, Freiburg im Breisgau u. a. 1979, S. 113; Adelbert von Keller, Edmund Goetze (Hg.), Hans Sachs, 26 Bde., Tübingen 1870–1908, Bd. 1 (1870), S. 19–52 (29). Der Franziskaner erkennt an der Tatsache, dass der Teufel zuerst mit Eva beginnt, zwei Grundlagen bestätigt: Gottes Weisheit und die eigene Verschlagenheit, über die der Teufel beide verfüge; vgl. Bonaventura, »Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi«, in: Quaracchi (Hg.), Opera omnia, hier Bd. 2, lib. 2, dist. 21, art. 1, qu. 3, S. 496–97. Rainer Michaelis, »Studien zum Berliner Weltgerichtsaltar des Lucas Cranach«, in: Aachener Kunstblätter 58 (1989/90), S. 115–132. Es gibt in dieser Zeit nur noch vereinzelt Beispiele, die die Erschaffung Evas, während sie aus der Seite Adams steigt, ganz im Vordergrund darstellen, vgl. das Gebetbuch, Cod. 1847, fol. 2v, Halle, Georg Glockendon d.J. 1537. Hinter der Erschaffung Evas ganz vorne ist der Sündenfall links in der Mitte zu sehen. Die Vertreibung der Stammeseltern zeigt Glockendon in der Mitte dahinter, und das Opfer Kains und Abels auf dem Hügel im Hintergrund.

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Abb. 5: Lucas Cranach d. Ä., linker Flügel des Weltgerichtsaltares, 1514–1534, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin

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sie die Szene entweder zu Beginn oder im Anschluss an das Sechs-Tage-Werk setzten – oder sie gleich als Einzelbild darstellten.34 Die Tiere auf dem linken Flügel des Altars von Cranach führen deutlich vor Augen, was aus der Verwandlung der Engel in Dämonen folgt. Sie offenbaren die Unterwanderung der sichtbaren Welt durch eine im Verborgenen wirkende Gewalt: Der Luchs pirscht sich im Schatten der Bäume zwischen Auerhahn und Eichelhäher an ein graues Kaninchen heran. Über dem Hirsch schläft die nachts jagende Eule, ein Löwe hat ein Reh gerissen, ein Bär trottet durch den kargen Mittelgrund. Darüber hinaus sind es gerade diejenigen Tiere, die auch von Martin Luther in der Auslegung der Genesis, am Ende seines Kommentars zu Gen 1, 26, explizit erwähnt werden. Seine Darstellung dessen, was genau beim Sündenfall passiert, geht von ihnen aus.

Augen besser als die eines Luchses oder Adlers Luther legt im letzten Teil seines Kommentars zu Gen 1, 26 dar, was genau sich für die Menschen im Moment der Erbsünde verändert hat: Er umschreibt diesen Moment als Infektionsgeschichte, in der der Tod, der in den Menschen nach der Erbsünde kriecht wie Lepra in einen gesunden Körper, alle dessen Sinne beeinträchtigt (sed post lapsum irrepsit mors tanquam lepra in omnes sensus). Die Betonung liegt im gesamten Abschnitt auf der Beeinträchtigung der Sehfähigkeit, wenn auch alle anderen Sinne erwähnt werden: Adam z. B. kann nicht mehr so gut sehen wie vor dem Sündenfall, als die Kraft seiner Augen die eines Luchses oder Adlers überstieg.35 Luther führt Beispiele an, in denen die sinnlichen Fähigkeiten von Tieren die des Menschen übersteigen – seit dem Sündenfall. Der Mensch kann zwar jetzt begehren und sich vermehren, aber er ist nicht mehr so stark wie Löwen und Bären. Was für Luther das Leben vor und nach dem Tod unterscheidet, ist die Angstfrei-

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Vgl. Erffa, Ikonologie der Genesis, hier Bd. 1, S. 178–193 sowie Yona Pinson, »Fall of the Angels and creation in Bosch‘s Eden. Meaning and iconographical sources«, in: Maurits Smeyers, Bert Cardon (Hg.), Flanders in a European perspective. Manuscript illumination around 1400 in Flanders and abroad, Leuven 1995, S. 693–705. Denselben Gedanken, dass die Stammeltern beim Sündenfall einen Teil ihrer Sehfähigkeit zugunsten der Möglichkeit, begehren zu können, einbüßen, führt Luther im etwa zeitgleichen Kommentar zu Psalm 8, 3 aus, in dem er argumentiert, dass Adam noch genau so scharfe und klare Augen gehabt und vermocht hätte, in die Sonne wie ein Adler zu schauen, wenn er unschuldig geblieben wäre. Erst durch die Sünde und den Sündenfall der Menschen wären ihre Sinne beieinträchtigt worden. Ausführlich zur Veränderung der Sehfähigkeit beim Sündenfall: Beate Fricke, »Zeugen und Bezeugen. Vom Anfangen, Blicken und Enden. Zu Lot und seinen Töchtern von Joachim Patinir«, in: Heike Schlie, Wolfgang Drews (Hg.) Zeugnis und Zeugenschaft. Perspektiven aus der Vormoderne, München, Paderborn 2011, S. 271–297.

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heit, wofür er Evas furchtloses Gespräch mit der Schlange anführt. Diese Angstlosigkeit trägt laut Luther zum Begehen der ersten Sünde bei. Luther erweitert das Essverbot (Gen. 2, 16–17: »Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben«) entsprechend: Adam et Heua, vos nunc vivitis securi, mortem non sentitis nec videtis. Haec est imago mea, qua vivitis, sicut Deus vivit. Si autem peccaveritis, amittetis hanc imaginem et moriemini.36

Die Verschiebung dahin, dass sie die Gottesebenbildlichkeit und nicht nur ihre Unsterblichkeit verlieren, erscheint mir zentral: Der Sehsinn, das Vermögen, zu erkennen und absolut zu sehen, ist für Luther unmittelbar mit der Gottesebenbildlichkeit verknüpft. Er verknüpft den Topos der außergewöhnlichen Sehkraft von Luchs und Adler mit dem Moment der Erkenntnisfähigkeit des Menschen und seiner Veränderung im Moment des Sündenfalls. Die besondere Stärke von Luchsaugen ist im Spätmittealter nicht nur durch den Physiologus bekannt, sondern ein in Chroniken, Heiligenviten und anderen Schriftquellen verbreiteter Gemeinplatz – lange bevor die Accademia dei Lincei ihn zu ihrem Wappentier erhebt.37 Für Luther macht der Verlust dieser Ähnlichkeit mit Gottes Bild, diese partielle Reversion des Schöpfungsvorganges, im selben Maße deutlich, wie stark der Abdruck des Teufels seine Spuren in uns hinterlassen hat. Dasselbe gilt für die Fähigkeit, körperliche Lust oder Gottesliebe zu empfinden. Beides sind keine rein klaren Empfindungen mehr, sondern sind seit dem Sündenfall verunklärt (zu Wollust, Hass oder Blasphemie).38 Das erklärt für Luther auch die veränderte Stellung des Menschen, dem nicht mehr qua gottesebenbildlicher Überlegenheit alle Tiere untertan sind. Adam und Eva, das betont Luther ausdrücklich, verfügten über dasselbe Wissen. Eva wusste, was sie tat. Luther argumentiert nicht wie frühere Kommentatoren, dass Eva noch gar nicht erschaffen war, als Gott das Verbot aussprach. Darin bestehe jedoch der zentrale Unterschied zu den Tieren, die nichts über ihren Ursprung und ihr Ende wissen, die nicht wissen, woraus und warum sie geschaffen wurden. Dieses Wissen um die Anfänge zeichnet den Menschen, so Luther, aus, 36

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Martin Luther, Über das erste Buch Mose Predigten, hg. von G. Rossmane und D. Reichert, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 42, Weimar 1911 (Neudruck: Weimar 2006), S. 1–637, hier S. 47. David Freedberg, The eye of the lynx. Galileo, his friends, and the beginnings of modern natural history, Chicago u. a. 2002. Luther, Über das erste Buch Mose Predigeten, S. 47: »Extenuent igitur peccatum originis, qui volent, profecto apparet tum in peccatis tum in poenis, longe esse maximum. Inspice solam libidinem, an non est vastissima tum concupiscendo tum fastidiendo? Quid autem de odio erga Deum et blasphemiis dicemus? Hi enim sunt lapsus illi insignes qui vere arguunt imaginem Dei amissam esse«.

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macht ihn überlegen, erinnert an die frühere (stärkere) Gottesebenbildlichkeit und verleiht ihm die Fähigkeit, über die Tiere und Pflanzen zu herrschen.

Kommentierung und Kanonisierung In diesen Re-Lektüren des Wortlautes der Erschaffung des Menschen (Gen. 1, 26 bzw. Gen. 2, 7, der beiden Verfasser der Genesis) gelingt es Luther, den »wichtigsten Schritt in der Kanonbildung«, den »Akt der Schließung«, wieder aufzuheben. Kanonische Texte selbst sind, so Jan Assmann, nicht fortschreibbar, aber sie können – und das tut Luther während der Arbeit an seiner Genesis-Vorlesung – im Hinblick auf ihre Normativität in Frage gestellt werden. Der Wortlaut des biblischen Textes bleibt dabei unangetastet. Ausführlich erörtert werden aber seine Auslegung, die verschiedenen exegetischen Traditionen und Überlegungen zu ihrer Übersetzung. Luther greift dabei – explizit und implizit – auf eine Vielzahl von Genesis-Kommentaren zurück. In Kommentaren exemplifizieren Autoren ihre Lesart eines Textes, der entweder bereits als kanonisch betrachtet wird oder zu dessen Kanonisierung die Kommentare beitragen. Der kommentierte Text erfährt durch seine Kommentierung – anders als bei der Glosse (Erläuterung eines Wortes) oder dem Scholion (ausführliches Interpretament einer Passage) – einen nicht unerheblichen Eingriff: Der Autor des Kommentars erweitert oder widerspricht der im Text ausgedrückten Perspektive, er zieht weitere Texte hinzu, sieht Parallelen oder zieht Traditionslinien, indem er Lesegewohnheiten voraussetzt oder neu einführt. Darüber hinaus kann er andere Meinungen ausschließen, den behandelten Text gliedern und Zentren der Aufmerksamkeit für Themen oder Textstellen etablieren. Der Verfasser des Kommentars übt auf diese Weise eine geistige Gewalt aus: Er beansprucht eine (andere) Deutungshoheit, verdrängt bestehende Auffassungen und schreibt exegetische Traditionen fort, die gegenteilige Meinungen seiner Auffassung unterwerfen oder durch ihre Nichterwähnung aus dem ›Kanon‹ der Meinungen eliminieren und dem Vergessen aussetzen, wenn nicht ein jüngerer Kommentator sich wieder auf diese bezieht. Um Kommentare als ein Archiv intellektueller Auseinandersetzungen vor allem der Spätantike (aber auch der Folgezeit, z. B. der Scholastik) zu betrachten, muss man die Prozesse der Kanonisierung und der Rezeption von ›heiligen Texten‹ berücksichtigen.39 Jan Assmann definiert kanonische Texte über ihre Kombination der Eigenschaften von kulturellen und von heiligen Texten:

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Claudia Rapp, »Holy texts, holy men and holy scribes. Aspects of Scriptural holiness in late antiquity«, in: William E. Klingshirn, Linda Safran (Hg.), The early Christian book, Washington 2007, S. 284–332.

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Heilige Texte verlangen wortlautgetreue Überlieferung. [...] Ein heiliger Text ist eine Art sprachlicher Tempel, eine Vergegenwärtigung des Heiligen im Medium der Stimme. Der heilige Text verlangt keine Deutung, sondern rituell geschützte Rezitation unter sorgfältiger Beobachtung der Vorschriften hinsichtlich Ort, Zeit, Reinheit usw. Ein ›kultureller‹ Text dagegen verkörpert die normativen und formativen Werte einer Gemeinschaft, die ›Wahrheit‹. Diese Texte wollen beherzigt, befolgt und in gelebte Wirklichkeit umgesetzt werden. Dafür bedarf es weniger der Rezitation als der Deutung. [...] Von ›Kanonisierung‹ sprechen wir, wenn die normative und formative Verbindlichkeit kultureller Texte und die wortlautgebundene Unantastbarkeit heiliger Texte in eins zusammen fallen. Der Umgang mit kanonischen Texten verlangt den Dritten, den Interpreten, der zwischen Text und Adressaten tritt und die normativen und formativen Impulse freisetzt, die in der sakrosankten Textoberfläche eingeschlossen sind. Kanonische Texte können nur in der Dreiecksbeziehung von Text, Deuter und Hörer ihren Sinn entfalten.40

Assmann spricht ›mit Hölderlin‹, während er im Anschluss dieses Zitates den Prozess sozialer Differenzierung beschreibt, mit dem der Prozess der Kanonisierung verbunden ist. Implizit verdeutlicht er, was in einer säkularisierten Gesellschaft an die Stelle des kanonischen Textes als Referenzobjekt tritt – Bildung und Wissenschaft. Was jedoch genau bereitet diese Entwicklung in der Frühen Neuzeit vor? Am Beispiel von Luther möchte ich zeigen, welche Formen der Gewalt in der Reformation im Umgang mit ihrem vielleicht umfangreichsten Archiv vergangener Auseinandersetzungen, den Kommentaren zur Bibel, die seit der Spätantike und während des Mittelalters in großer Zahl verfasst wurden, zur Anwendung kommen: Kritik, Kanonisierung und Verdrängung. Der Kommentar zur Genesis von Luther ist in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Fall in der Geschichte der Kommentierung sowohl des ersten biblischen Buches wie auch der theologischen Tradition der Kommentare. Er ist der letzte in einer langen (spätantik-mittelalterlichen) Tradition der Kommentierung, die mit Lücken operiert und Autoren bewusst ausschließt, da es um die Verhandlung von Dogmen, von zentralen Inhalten des Glaubens geht. Zum Ende des 16. Jahrhunderts beginnt dann eine ganz andere Art der Kommentarpraxis, die enzyklopädisch und systematisch argumentiert.41 Beschleunigt wird dieser Umbruch auch durch 40 41

Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis: zehn Studien, München 2 2004, S. 57 f. Arnold Williams, The Common Expositor: an Account of the Commentaries on Genesis 1527–1633, Chapel Hill 1948; Joanna Picciotto, Labors of Innocence in Early Modern England, Cambridge (MA) 2010; dies., »Reforming the Garden: The Experimentalist Eden and Paradise Lost«, in: English Literary History 72/1 (2005), S. 23–78, z. B. die Genesis-Kommentare von Petrus Maryr Vermigli, posthum 1569 von Josiah Simler publiziert, vgl. Torrance Kirby, Emidio Campi, Frank A. III James (Hg.), A companion to Peter Martyr Vermigli, Leiden 2009, oder von Marin Mersenne (1623). Siehe auch Francis Patrick Moloney, The mirror of paradise: Language and politics in medieval and early modern political thought, Microfilm, PhD Rutgers 1994.

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die leichtere Verbreitung aufgrund immer besserer Techniken, den immer weiter reichenden Einsatz der Druckgraphik und des Buchdrucks, der für eine immer größere Verbreitung von alten und neuen Texten sorgt. Das gilt auch für Texte von Autoren der Spätantike, deren Texte über das Mittelalter hindurch in erster Linie Gelehrten in Form von Abschriften in Manuskripten zugänglich waren. Wer über Handschriften in entsprechender Zahl verfügte und neben Latein auch Altgriechisch oder Hebräisch beherrschte, konnte Deutungsgewalt ausüben und sein Scherflein zur Verdrängung der in ihnen überlieferten Vorstellungen mit Kommentaren oder eigenen Traktaten beitragen oder an der Kanonisierung favorisierter Auffassungen arbeiten. Luther ist ein Kind seiner Zeit, eine Figur des Umbruchs vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, was sich auch darin zeigt, dass er sowohl innovative als auch konservative Formen der Bibelexegese verwendet. Der biblische Wortlaut bedarf zur Zeit der Reformation keiner Kanonisierung mehr, sondern vielmehr einer Aktualisierung und ›Übersetzung‹. Um die Vorraussetzungen hierfür zu schaffen, greift Luther auf seine spätantiken und scholastischen Vorgänger zurück, die – unter anderen Vorzeichen und mit anderen Interessen – ebenfalls den Wortlaut der Genesis interpretiert und kommentiert haben. Dieser Rückgriff ist aus heutiger Sicht eine Art Gang in sein persönliches Archiv. Von heute aus betrachtet glauben wir zu wissen, welche Diskussionen und Kommentare Luther nicht berücksichtigt hat. Wir können es jedoch nur vermuten, denn wir wissen nicht, ob sich Luther bei seinerzeit bekannten Kommentierungen des ersten biblischen Buches bedient hat, die sich heute aber der schriftlichen Überlieferung entzogen haben und deren Spur vollends verwischt wurde. Wie jedoch bezeichnet man Kommentare zu Texten, deren Kanonisierung bereits abgeschlossen ist? Texte (sowohl Gesetze als auch Literatur) »nehmen Autorität oder – im Fall der Literatur-Kommentare – Klassikerstatus an, sobald sie kommentiert werden«.42 Der essentielle Unterschied zwischen Texten und Kommentaren ist erstens, dass Texte einen Anfang und ein Ende haben, Kommentare jedoch prinzipiell endlos erweiterbar sind. Zweitens ist »auch die Stummheit des Textes [...] ein Distinktionsmerkmal. Sie steht gegen den quasimündlichen Modus des Kommentierens«. Ist jedoch der Prozess der Kanonisierung eines Textes bereits abgeschlossen, kann man die Kommentare als ein Archiv intellektueller Auseinandersetzungen betrachten. Kommentatoren zu einem kanonischen Text bemühen sich weiterhin darum, seine Stummheit zum sprechen zu bringen, seine dunklen Stellen zu beleuchten, die Michel Foucault als den »nicht formulierten Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat«, beschreibt.43 Sie sind nicht in 42

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Markus Krajewski, Cornelia Vismann, »Kommentar, Code und Kodifikation«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte III/1 (2009), S. 5–16, hier S. 6. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1999, S. 14.

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einen Prozess des »Rechthabens« (im Hinblick auf das geltende Gesetz der Gegenwart oder die zeitgenössische Literatur) eingebunden, sondern in einen Akt der Auslegung, der Offenbarung im Hinblick auf eine Wahrheit jenseits der Gegenwart. Der Begriff ›Archiv‹ wird hierbei in dem Sinn verwendet, wie er von Michel Foucault 1966 in die moderne theoretische Diskussion eingeführt wurde. Ein Archiv im metaphorischen Sinn ist ebenso wie die Kommentare selbst, aus denen es sich aufbauen lässt, von geradezu konstitutiver Unendlichkeit. »Der Kommentar ist ohne Ende, weil er auf der Suche nach dem fundamentalen Urtext ist, der unterhalb der sichtbaren Texte verläuft, aber immer wegläuft und neue Kommentare erfordert«.44 In der zweiten Ausgabe der Geburt der Klinik erklärt Michel Foucault den Mechanismus, der Kommentare zu »Archiven« in seinem Sinne werden lässt: »Der Kommentar setzt per definitionem einen Überschuss des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten voraus, einen notwendigerweise nicht formulierten Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat, einen Rückstand, der dessen Wesen ausmacht und der aus seinem Geheimnis hervorzuholen ist«. In seiner akribischen Verfolgung des Falles durchläuft der Kommentar zwei Etappen: Zuerst bezieht er Signifikanten auf Signifikate, dann verbindet er die Signifikate in der »eigentlichen Bedeutung«.45 Genesis-Kommentare sind kein Konvolut von Schriftzeugen, das zu einem Zeitpunkt als klar umrissene Sammlung bestand oder besteht. Sie sind nicht in einer bestimmten Zeit gesammelt und zur Bewahrung zusammengestellt worden, sondern sind die mehr oder weniger zufällig überlieferten spätantiken und mittelalterlichen Schriften, die sich erläuternd auf das erste Buch der Bibel, die Genesis, beziehen. Diese Schriften sind in der Regel nicht in der Intention verfasst worden, als Beleg und Referenz für zukünftige Fragen aufbewahrt zu werden, eher noch, um eine bestimmte Diskussion für in der Ferne lebende oder künftige Autoren festzuhalten und verfügbar zu machen. Aus den erhaltenen Schriften, die den biblischen Text kommentieren und erörtern, konstituiert sich erst im Rückblick für den Autor eines späteren Kommentars eine Sammlung ihm zur Verfügung stehender GenesisKommentare, die ihm Aufschluss über vergangene Diskussionen ermöglicht. Seit der Antike erörtern jüdische, griechische und christliche Gelehrte in ihren Kommentaren zur Genesis ihre jeweilige Lesart des biblischen Wortlautes. Das Buch, das von den biblischen Büchern mit der größten Zahl an Kommentaren bedacht wird, ist das erste Buch der Bibel, die Genesis. Wegweisend für viele jüngere Kommentatoren zur Genesis waren die Überlegungen Philos von Alexandrien († 40 n. Chr.), der den Wortlaut des biblischen Textes zunächst buchstäblich und dann allegorisch auslegt (zweifacher Schriftsinn): Adam steht, so Philo, im übertragenen Sinn für das Denken (noÿV), Eva für die Wahrnehmung (aÍsqhsiV), den 44

45

Vladimir Biti, »Kommentar«, in: Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe, Hamburg 2001, S. 438 f., hier S. 438. Foucault, Die Geburt der Klinik, S. 14.

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Garten Eden betrachtet er als Bild des Überflusses und die Schlange als ein Sinnbild der Begierde.46 An die Auseinandersetzungen des Alexandriners Philo knüpfen die wichtigsten spätantiken Genesis-Kommentare von Origenes, Dydimus, Eusebius von Emesa, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomus, Johannes Philoponus und Prokop47 sowie im Westen Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und nicht zuletzt Beda an. Ihre Kommentare nehmen eine zentrale Rolle in der Ausdifferenzierung der Religionen und ethischen Gemeinschaften in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ein. Eine vergleichende Analyse ihrer Lektüren der antiken platonischen und aristotelischen Strömungen, der diversen christlichen und jüdischen Denkweisen, kann die Dynamiken der Exklusion und Inklusion von Alterität aufzeigen. In der Phase vor einer etablierten christlichen Geschichtsschreibung offenbart sich in den eigenen Lesarten vergangener Geschichte, in den Lücken, Weglassungen sowie den Aus- oder Einschlüssen »fremder« Perspektiven die Macht des Kommentators.

Verdrängung – Luthers »creatio ex nihilo« »Ich werde die restlichen Jahre meines Lebens der Auslegung der Bücher Moses’ widmen«. So könnte man frei Luthers letzte Worte seiner Predigt vom Montag, 31. Mai 1535, übersetzen: »postea suscipiam praelegendum Gensin, ut operemur quidquam et ita in verbo et opere dei moriamur«.48 Mit dieser Ankündigung beendet Martin Luther seine Vorlesung über Psalm 90 und beginnt tags darauf mit seinen Ausführungen zum ersten Buch der Bibel. Was er hiermit in Angriff nimmt, wird ihn bis zu seinem Tod – elf Jahre später – beschäftigen. Im Bewusstsein, seinen Lebensabend zu erleben, verfasst er sein vermutlich umfangreichstes Werk und beginnt zu lesen: über den Anfang, die Schöpfung und die Entstehung des Lebens. Er denkt darin darüber nach, wie aus nichts etwas entstehen kann – creatio ex nihilo, so auch der Titel seiner Genesis-Vorlesung.49

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Vgl. Philo von Alexandriens Schrift Peri tēs kata Mōysea kosmopoiias, lat.: De opificio mundi und die Traktate Legum allegoriae und De Cherubim sowie die zwei ersten seiner insgesamt neunzehn allegorischen Abhandlungen zur Genesis, vgl. Kommentar von David T. Runia, in: Philo Alexandrinus, On the creation of the cosmos according to Moses, eingel., übers. und kommentiert von dems., Leiden 2001 (= Philo of Alexandria commentary series 1). Karin Metzler, »Genesiskommentierung bei Origenes und Prokop von Gaza«, in: Adamantius 11 (2005), S. 114–123 sowie dies., »Weitere Testimonien und Fragmente zum Genesis-Kommentar des Origenes«, in: Zeitschrift für antikes Christentum 9 (2005), S. 143–148. Martin Luther, vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 42, Weimar 1911 (Neudruck: Weimar 2006), S. 1–673, hier S. VII. Johannes Schwanke, Creatio ex nihilo. Martin Luthers Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts in der grossen Genesisvorlesung (1535–1545), Berlin 2004.

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Was mit dem Beginn der Genesis-Vorlesung von Luther zugleich endet, ist das Zeitalter der großen wortwörtlichen Exegesen des ersten Buches der Bibel, also langjährige Unterfangen mit dem Ziel, durch exakte Auslegung den vollen Sinn der gesamten biblischen Ereignisse zu erkennen. Luther ist einer der Letzten, die sich dieser – das gesamte Mittelalter hindurch immer wieder in Angriff genommenen – Herausforderung gestellt haben. Er hat aus dem Konvolut von Texten zur Genesis geschöpft und es zugleich mit einem eigenen Kommentar erweitert.50 Luther bezieht sich explizit auf eine Reihe von Gelehrten, die vor ihm einen Genesis-Kommentar verfasst haben. Er benennt sie zum Teil im Text selbst, oft in einem Atemzug mit antiken Autoritäten wie z. B. Epikur oder Aristoteles. Er rekurriert auch auf eine ganze Reihe von Schriften, die nicht unmittelbar als Kommentare zur Genesis erkennbar sind, so etwa den Gottesstaat von Augustinus, die Summa von Thomas von Aquin oder die Postilla des Niklaus von Lyra.51 Vielfach stützt er sich jedoch implizit auf spätantike Autoren, wie z. B. Irenäus von Lyon.52 Er bedient sich dabei eines konkreten Konvoluts von Handschriften und benutzt die Bibliothek der Wittenberger Kurfürsten, um deren Rekonstruktion es in diesem Kontext jedoch nicht gehen soll.53 Vielmehr interessiert hier, wie sich aus der Benutzung von Genesis-Kommentaren jenes imaginäres Archiv rekonstruieren lässt, das Luther benutzt hat. Mit seinem eigenen Kommentar revidierte er jahrhundertelang vorherrschende Auffassungen. Er kanonisierte z. B. eine positivere Sicht auf Eva, die seit Augustinus’ Lesart auf der Basis von Paulus als die Hauptschuldige in der Sündenfallgeschichte betrachtet worden war. Es geht Luther in seinen Vorlesungen zur Genesis (Über das erste Buch Mose Predigeten) keinesfalls ›nur‹ um seine Lesart der Genesis-Geschichte. Er kreist in

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Genesis Apocryphon aus dem Qumram Grab 1 (1Q20) (1. Jh. v. Chr., Philo Alexandrinus [20 v. –50 n. Chr.]: Peri tēs kata Mōysea Kosmopoiias [lat. Titel: De opificio mundi]), Theophilus von Alexandrien (2. Jh.): Exegese von Genesis 1–11, Origenes (185–254): Homilien und Kommentar zur Genesis, Ps.-Justinus (3. Jh.): Cohortatio, Didymus Caecus (313–398): Genesis-Kommentar, Eusebius von Emesa (ca. 295–359): Genesis-Kommentar, Basilius von Caesarea (gest. 379): Homilien zum Hexaemeron; hg. von Manuel Amand de Mendieta und Stig Y. Rudberg, 1997, Gregor von Nyssa (ca. 334–395): Apologia peri tēs Examēeron, Ambrosius (ca. 339–397): De Issac vel anima, Hexameron, Johannes Chrysostomus (ca. 350–407): Homilien zur Genesis, Augustinus (354– 430): De genesi ad litteram, Confessiones und Civitas Dei, Johannes Philoponus (5. Jh.): De opificio mundi, Prokop von Gaza (5./6. Jh.): Genesis-Kommentar aus der sog. Oktateuchkatene, Beda (ca. 673–735) Libri IV in principium Genesis. Das Hauptwerk von Nikolaus von Lyra (gest. 1349) ist die Postilla litteralis super totam Bibliam, geschrieben in den Jahren 1322 bis 1331, die er 1339 durch eine kürzer gefaßte Postilla moralis ergänzte. Karl-Heinz zur Mühlen, »Luther und Irenäus«. Vgl. Brandis, »Luther und Melanchthon als Benutzer der Wittenberger Bibliothek«; Hildebrandt, »Die kurfürstliche Schloß- und Universitätsbibliothek zu Wittenberg 1512–1547«; Wefers, »Wissen in Fässern und Kisten« und Wilkomm, »Die Bedeutung der Jenaer Universitätsbibliothek für die reformationsgeschichtliche Forschung«.

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seiner Exegese um drei Themen: 1. Schöpfung, 2. die Rolle, die die Trinität dabei spielt und 3. die Aufhebung der negativen Bewertung von Sexualität seit Augustinus, was Luther mit einem konkreten Anliegen verbindet: die Abschaffung des Zölibats. In zahlreichen Exegesen der mosaischen Worte nutzt Luther die Gelegenheit, seine zentralen politischen Anliegen zu artikulieren und theologisch zu begründen. Er besiegelt mit dieser ebenso wie mit früheren Schriften die Spaltung zwischen der katholischen und der evangelischen Fraktion innerhalb der Christengemeinde, eine Spaltung, die sich bereits ein Jahrhundert früher abzeichnete, wie die Ereignisse und Beschlüsse auf den Konzilien von Konstanz, Basel und FerraraFlorenz verdeutlichen.54 Jeder Schöpfungsvorgang berührt ein Paradox, jede Erzählung von einem absoluten Anfang verdeckt oder impliziert zugleich eine Vorgeschichte. Glaubt man wie Luther an die creatio ex nihilo, so folgt daraus, dass man an einen Gott glauben muss, der eine Idee verfolgt (vergleichbar dem platonischen Demiurgen), der also im Voraus eine Ahnung davon hat, was er hervorbringen möchte.55 Diese Idee bzw. dieses Wissen geht jedoch dem Schöpfungsprozess voraus und gibt zugleich Aufschluss darüber, unter welchen Prämissen der Kreationsakt steht.56 Luther ist klar, dass er als Kommentator beim Auslegen ebenfalls nicht aus dem nichts schöpft. Luther sind darüber hinaus die Lücken durch die Überlieferungspraxis des Abschreibens und Kommentierens für die Vorgeschichte der Genesis-Auslegung bewusst. Augustinus versucht in De genesi ad litteram libri duodecim systematisch aus der Analyse des Wortlauts des Genesis-Buchs seine wahre Bedeutung zu entschlüsseln und greift in der Regel implizit auf die Debatten des zweiten Jahrhunderts über die creatio ex nihilo zurück. Er systematisiert sie und strebt an, sie mit dem Wortlaut der Bibel ›in Einklang‹ zu bringen. So agiert er als Kommentator sichtbar urteilend und übt seine Gewalt als Richter über wahr und falsch aus, wenn er z. B. die Frage verfolgt, ob sich Adams Leib im Paradies verändert hat, d. h. Adams Seele nicht von der Sterblichkeit ausgenommen sein sollte. Dies führt zu der Diskussion, was

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Alexander Patchovsky, »Der Reformbegriff zur Zeit der Konzilien von Konstanz und Basel«, in: ders., Ivan Hlaváček (Hg.), Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), Konstanz-Prager Historisches Kolloquium (11.–17.Oktober 1993), Konstanz 1996, S. 7–28. »Die geistigen Vorrausetzungen für die Formulierung der Lehre von der creatio ex nihilo waren von der christlichen Theologie im zweiten Jahrhundert erreicht« (Gerhard May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der Creatio ex Nihilo, Berlin, New York 1978 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 48), S. VIII). Gerhard May hat analysiert, wie die Vorstellung von der Schöpfung aus dem Nichts als Antithese zum griechischen Modell der Entstehung der Welt formuliert und von der gnostischen Frage nach dem Ursprung ausgelöst und von Justin und Irenäus weitgehend entwickelt wurde, bis Origenes und Clemens von Alexandria die Debatte darüber, was vor der Schöpfung war, wieder neu beleben.

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genau durch den ersten Mensch verloren ging, durch den (bzw. durch dessen Sünde) alle sterblich sind.57 So erörtert er auch die Frage en detail, wie die beiden Berichte von der Schöpfung des Menschen (Gen. 2,7 und Gen. 1, 26–27) in Einklang zu bringen sind (in Buch 6, Kap. 1). Luther hingegen nennt viele seiner Quellen explizit und zitiert Argumente jeweils im Hinblick auf seine eigene Fragestellung. Deutlich wird auch, wie gegenwärtige Anliegen seine Perspektive bei der Auslegung bestimmen, z. B. anlässlich der Geschichte von Lot, die auf die zeitgenössische Debatte über den Inzest und die Neuregulierung der Ehegesetze verweist, oder hinsichtlich der Rolle, die die Sexualität in seiner Genesis-Vorlesung spielt.58

Das Sprechen im Plural (Gen. 1, 26) Ein Teil der Vorraussetzungen für Luthers Interpretation von Gen. 1, 26 soll hier versuchsweise »zurück« verfolgt werden, um Luthers Ringen zwischen Kanonisierung und Verdrängung in der Suche nach der richtigen Deutung zu demonstrieren. Dabei lässt sich teilweise sein »imaginäres Archiv« rekonstruieren und zeigen, wie er seinen Anspruch auf Deutungshoheit betont und seine urteilende Autorität walten lässt. Gen. 1, 26 ist nicht nur bei dem bereits erwähnten Irenäus die zentrale Referenzstelle,59 sondern ist der von Luther – wie auch bei den meisten anderen Kommentatoren zum Buch der Genesis – am ausführlichsten kommentierte Vers aus dem ersten Kapitel der Genesis. Die Gelehrten, auf die sich Luther in dieser Vorlesung explizit beruft, sind neben Epikur auch Aristoteles, Augustinus, Dionysius und William von Occam. Ohne seinen Namen zu nennen, zitiert er wörtlich Petrus Lombardus. Indirekt bezieht er sich auf Nikolaus von Lyra im Hinblick auf dessen ausführliche Diskussion jüdischer Positionen wie der des Rabbi Eben Ezra. Im folgenden zeige ich, wie Luther mit seinen Griffen in ein imaginäres Archiv spätantiker Genesis-Kommentare die Auseinandersetzungen über Erkenntnisprobleme bündelt, indem er von dem Vers »Et ait faciamus hominem in similitudinem nostram« ausgeht. Mit diesem Vers wird die Erschaffung des Menschen angekündigt und ausgeführt. Gott spricht hier jedoch erstmals im Plural, was zu einer Vielzahl von Deutungen darüber, was oder wer bereits vorhanden war, d. h. worauf sich der Plural (faciamus) eigentlich bezieht, geführt hat (Trinität, Engel, Jesus usw.). Es ist für Luther, der von der Schöpfung in einem Akt ausgeht, weniger ein Problem, dass es Schöpfungsprozesse gibt, die nicht von Gott unmittelbar initiiert 57 58 59

Augustinus, De genesi ad litteram libri duodecim, lib. VI, cap. 19–26. Ebd. Siehe auch Fricke, »Zeugen und Bezeugen«. Irenäus: Haer. III 22, 1; IV praef. 4, 20, 1, 38, 3, V 1,3; 15, 4; epid. 11.

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werden (wenn z. B. die See bewegt wird, die Erde fruchtbar ist oder Fliegen und Frösche im Schlamm scheinbar aus dem Nichts entstehen), sondern dass im Plural gesprochen wird. Für ihn folgt daraus, dass 1. der Schöpfungsakt des Menschen ein Werk der Trinität ist, 2. sich darin die Überlegenheit der Menschen gegenüber der anderen Lebewesen begründet, 3. dass Menschen dennoch triebhafte Wesen und keine bedürfnislose Heilige sind. Nach der Abgrenzung von den vorherigen Versen, in denen der Schöpfer im Passiv und alleine sprechend Dinge »werden lässt«, konstatiert Luther, diese Differenz zeige, dass Gott eine klare Absicht (deliberatio) und einen Plan (consilio) für die Erschaffung des Menschen gehabt habe. Er wollte den Menschen erschaffen: »cum hominem creare vellet«. Luther zufolge unterscheide dies die Menschen von den Tieren. Die Instanz, von der er sich explizit abgrenzt, ist Epikur: Epicurus sentit hominem tantum procreatum ad edendum et bibendum – »Epikur war der Meinung, dass der Mensch nur dazu da wäre, sich fortzupflanzen, zu essen und zu trinken.«60 Der Plural in Gen. 1, 26, so sieht es Luther, betont die besondere Stellung des Menschen innerhalb der göttlichen Schöpfung. Viele Kommentatoren der Genesis haben zum Sprechen im Plural Stellung bezogen. Besonders nahe zu Luthers Interpretation stehen nicht scholastische oder spätmittelalterliche Kommentatoren, sondern eine ganze Reihe von spätantiken Kommentaren. Am nächsten ist ihm vielleicht Origenes († 253/254 n. Chr.), der in seinen Homilien zur Genesis erklärt, dass diese Stelle uns erkennen lässt, »was für ein Lebewesen der Mensch ist«. Er folgert daraus, dass aus dem Plural in Gen. 1, 26 die besondere Stellung des Menschen erkennbar ist: Nur Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne und jetzt auch der Mensch sind von Gott geschaffen, alle anderen Geschöpfe sind, wie es heißt, auf Gottes Befehl hin entstanden. Daran sieh, welche Größe dem Menschen zukommt, der so großen und so besonders hervorgehobenen Elementen gleichgestellt wird.61

Die ersten drei Kapitel des Buchs der Genesis sind aus zwei verschieden alten Schriften zusammengesetzt, der jüngeren Priesterschrift (Gen 1–2,4a) und der Jahwistenschrift (Gen 2, 4b–3, 24). Die daraus resultierende Doppelung der Narration führt dazu, dass beispielsweise die Geschichte der Erschaffung des Menschen zweifach erzählt wird (Gen. 1, 26–28 und Gen. 2, 7 [Adam], 2, 20–22 [Eva]). Die Kommentatoren gehen mit den Widersprüchen, die sich aus dieser doppelten 60 61

Luther, Über das erste Buch Mose Predigeten, S. 42. Origenes: Homilien zum Buch Genesis, übertragen und herausgegeben von Sr. Theresia Heiter OSB, Köln 2002, hier 1. Homilie 12, S. 43. Er fährt fort: »Er hat die Würde des Himmels, deshalb wird ihm auch die Herrschaft des Himmels verheissen. Er hat auch die Würde der Erde; denn er hat die Hoffnung,einzuziehen in das gute Land, das Land der Lebendigen, das von Milch und Honig fliesst (vgl. Ex 3,8, 33,3 usw.). Er hat die Würde von Sonne und Mond mit der Verheissung, zu leuchten wie die Sonne im Reich Gottes (vgl. Mt. 13, 43).«

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Anfangserzählung ergeben, sehr verschieden um. Origenes rekurriert, um seine These von der besonderen Stellung des Menschen zu stützen, auf den Passus, in dem der Mensch zum zweiten Mal geschaffen wird. Diese Stelle dient als ein weiteres Argument für die Schöpfung des Menschen nach dem Bilde Gottes: Denn nicht das körperliche Gebilde trägt das Bild Gottes, und es wird vom körperlichen Menschen nicht gesagt, dass er geschaffen ist, sondern dass er geformt ist, wie es im Folgenden heißt. Die Schrift sagt ja »Gott formte den Menschen«, d.h. er bildete ihn aus dem Lehm der Erde (Gen. 2, 7).

Um das zu erklären, unterscheidet er zwei Körper des Menschen: Der aber, der nach dem Bild Gottes und ihm ähnlich geschaffen ist, das ist unser innerer Mensch, der unsichtbare und unkörperliche, der dem Verderben nicht ausgesetzte und unsterbliche. In diesen Eigenschaften erkennt man nämlich richtiger das Bild Gottes.

Für Origenes ist im Hinblick auf den Vers des Johannesevangeliums (Joh. 14, 9): »Wer mich sieht, sieht den Vater« diese Gottesebenbildlichkeit, auf die sich Luther ebenfalls in seiner Zurückweisung von Epikur bezieht, auch in der Inkarnation wieder sichtbar und das Wort (über das, was es bezeichnet) wahrnehmbar geworden: Denn so wie der, der das Bild eines Menschen sieht, denjenigen sieht, den das Bild darstellt, so sieht man durch das Wort Gottes, das das Bild Gottes ist, Gott selbst. Darum ist es wahr, was er gesagt hat: ›Wer mich sieht, sieht den Vater‹.62

Origenes folgt explizit dem zweifachen Schriftsinn Philos von Alexandria in seiner Auslegung des Genesis-Textes, wobei aus Adam jeder Mann und sinnbildlich der Geist wird, während Eva buchstäblich für die Frau und übertragen nicht mehr wie bei Philo für aisthesis, sondern für die Seele steht: Um also zu zeigen, dass auch der Mensch Schöpfungswerk Gottes ist und nicht ohne Harmonie und entsprechende Verbindung hervorgebracht wurde, deshalb wird voraus weisend gesagt: »Als Mann und Frau schuf er sie.« Das ist zu der Frage gesagt, was man zu dem buchstäblichen Sinn vorbringen kann. Wir wollen aber auch sehen, wie nach allegorischem Verständnis der nach Gottes Bild geschaffene Mensch Mann und Frau ist. Unser innerer Mensch besteht aus Geist und Seele. Mann heisst der Geist, als Frau kann man die Seele bezeichnen.63 62 63

Luther, Über das erste Buch Mose Predigeten, S. 46. Ebd., S. 48 I. 14 und 1. 15.

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Nicht auf Erkenntnisse über die Natur des Menschen, sondern auf Gotteserkenntnis zielt der Kommentar von Basilius dem Großen (329–379). In einer ausführlichen Polemik gegen jüdische Einwände, die den Plural als Selbstgespräch oder als Sprechen zu anwesenden Engeln erklären, interpretiert Basilius das Sprechen im Plural in Gen. 1, 26 als Sprechen zu seinem Sohn.64 Anders als Basilius und Ambrosius sieht Augustinus den Vergleich mit dem menschlichen Künstler als nicht gerechtfertigt an. In seinen Bekenntnissen fragt er: Wie aber hast du Himmel und Erde geschaffen und welches war das Werkzeug deines so großen Werkes? Denn nicht wie ein menschlicher Künstler bildest du aus dem Einen etwas anderes, nach dem Gutdünken des Geistes, wenn er dem, was ihm in dem Geiste vorschwebt, Gestalt zu geben sucht. Und das vermag er doch auch nur, weil du ihn geschaffen hast.65

Noch ausgeprägter als bei Luther ist bei dem von ihm namentlich erwähnten Nikolaus Cusanus das Interesse des Wissenschaftlers zu spüren, der die Frage der Gottesebenbildlichkeit mit Bezug auf die Fähigkeit zu erfinden und zu erkennen beantwortet. So zieht der »Nikolaus« im Dialog nicht nur eine Parallele zwischen künstlerischem und göttlichem Schöpfen: »So kann auch Gott Vater, die Quelle der Kunst identificiren; die im Weltall wie in einem Gemälde entfaltete Kunst des Seins kann durch Keinen erkannt werden, der nicht das Verständnis dieser Kunst

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Vgl. The syriac version of the Hexameron by Basil of Caesarea, übers. von Robert W. Thomson, Louvain 1995 (= CSCO Scriptores Syrii 223), S. 135–137. Rainer Henke hat in seinem Vergleich von Basilius’ und Ambrosius’ Erörterungen des Sechs-Tage-Werkes gezeigt, dass sich keine gravierenden Differenzen zwischen ihren Positionen herausarbeiten lassen. Beide gehen davon aus, so Henke, dass Gott schon beim Schöpfungsakt in der Lage ist, die finale Schönheit seiner Schöpfung zu erkennen, Unterschiede offenbart nur die Bezugnahme auf die Arbeit menschlicher Künstler. So erkennt nach Basilius der Künstler die finale Schönheit bereits an den noch nicht zusammengesetzten Einzelteilen (wie Gott), kann die Gesamtheit aber nur erahnen. Ambrosius (339–397) hingegen geht davon aus, dass der irdische Künstler die finale Schönheit im Akt der Schöpfung nicht erkennen kann, ebenso wenig, wie er es vermag, ihnen Leben einzuhauchen; er ist – wie der platonische Demiurg, von seinem Material abhängig. Augustinus, Confessiones, lib 11, cap. 5. Er fährt fort: »Er gibt dem vorhandenen Stoffe, der Erde, dem Stein, dem Holz, dem Gold oder irgendeiner andern Art Gestalt. Woher aber hätten diese Stoffe die Fähigkeit, wenn du sie nicht dazu bestimmt hättest? Du schufst dem Künstler den Leib, du schufst ihm den Geist, der den Gliedern gebietet, du schufst ihm den Stoff zu seiner Arbeit, das Talent, wodurch er die Kunst erfaßt und innerlich schaut, was er äußerlich darstellen soll; du schufst ihm den Sinn für die Verhältnisse des Körpers, durch dessen Vermittlung er das, was er schafft, aus seines Geistes Tiefe auf den Stoff überträgt und der dem Geiste wiederum mitteilt, was geschehen ist, damit er die Wahrheit als entscheidende Richterin frage, ob es gut sei« (zitiert nach Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, übers. von Otto F. Lachmann, Leipzig 1888, S. 285).

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besitzt, da nur der Geist Gottes des Vaters jene Kunst besitzt, welche die absolute Kunst ist«.66 Luther geht im nächsten Abschnitt seiner Vorlesung auf die letztendliche Bestimmung des Menschen, das Leben im Paradies, ein. Adam wird zusammen mit seinen Nachkommen überführt werden in das ewige und geistige Leben. Luther betont bei seiner Auslegung von Gen 1, 26, dass Adams Leben zwei Naturen hatte, eine sterbliche und eine unsterbliche; während über die erste kein Zweifel bestehe, da er aß, trank, arbeitete und Nachfahren gezeugt hatte, war die zweite bisher noch nicht voll offenbart worden.67 Er verdichtet hier eine Debatte in zwei Sätzen, die sich bei Augustinus noch über das gesamte sechste Buch von De genesi ad litteram erstreckte. Darin ging Augustinus von der Frage aus, wie die zwei Schöpfungsberichte in Einklang zu bringen sind. Er schloss dabei grundlegende Überlegungen ein, die nicht einfach eine religiöse Ansicht hinterfragen, sondern diese mit wissenschaftlichen Annahmen zu belegen suchen. So fragt er z. B., ob Adam als Kind oder als Erwachsener geschaffen wurde, ohne jedoch wie Cranach in seinen Bildern eine Antwort hierauf zu geben.68 Luther setzt nach diesem Abschnitt noch einmal von vorne an und kehrt nach der buchstäblichen Lektüre zur Pluralwendung zurück und zielt auf eine allegorische Lesart: »verbo faciamus pertinet ad mysterium fidei nostrae confirmandum, qua credimus ab aeterno unum Deum et distinctas tres personas in una divinated, Patrem, Filium et Spiritum sanctum«. Die Rolle der Trinität für die Schöpfung des Menschen ist ein Aspekt, den erst eine Lesart entsprechend Philos von Alexandrien zweiten, nämlich allegorischen Sinns, offenbart. Für Luther ist das der wesentliche Aspekt.69 Einmal mehr zeigt sich, wie der Rückgriff auf das imaginäre Archiv der 66

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Cusanus, »De concordantia catholica«, in: Opera Omnia, Bd. XIV-1, hg. von Gerhard Kallen, Hamburg 1964, S. 163. Die Auffassung vom Schöpfer als Künstler, als artifex divinus, ist in der Geschichte der Genesis-Illustrationen seit der Miniatur aus der Wiener Bible Moralisée, mit der die Handschrift eröffnet wird, im 13. Jahrhundert präsent. Z. B. Guibert von Nogent, Moralia in Genesin, lib. 1, cap. 1, PL 156, Sp. 39D, Rupert von Deutz, Commentariorum in Genesim, lib. 1, cap. XXIV, PL 167, Sp. 263B. Luther, Über das erste Buch Mose Predigeten, S. 57. Augustinus, De genesi ad litteram libri duodecim, lib. 6, cap. 1–29. Wie Adelheid Heimann in ihrer Analyse der Trinitätsdarstellungen im Mittelalter deutlich gemacht hat, sind wir daran gewöhnt, den Anfang der Bibel durch die Perspektive ihres Endes zu lesen: »Christian church has always interpreted the account of Creation given in Genesis in the light of New Testament doctrine. After the Council of Nicaea had formulated the dogma of the Holy Trinity in the Creed of 325, the threefold God who governs the world in eternity was looked for and found in the stories of the Old Testament. Early Christan commentaries on Genesis are exceedingly numerous, and most of them repeat the same arguments about the part played by the Trinity in the Creation. Chapter 1, verse 2: ›Spiritus Dei ferebatur super aquas‹ is taken to be a reference to the Holy Ghost and verse 26 – we have started with – ›Et ait: Faciamus hominem ad imaginem, et simitudinem nostram [...]‹ is made to refer to the union of God the father with God the Son, for the Creator is poken in the plural form... In support of this interpretation the first words of St. John’s Gospel were quoted: ›In principio erat verbum, et verbum erat apud Deum [...]

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Genesis-Kommentare für Luthers Deutung maßgeblich ist und wie spätere Lesarten revidiert werden. Je vehementer Luther versucht, alle Argumente aus jüdischer und antiker Perspektive zu widerlegen, und je leidenschaftlich er mit seinen Widersachern ficht, denen er im Archiv der Genesis-Kommentare begegnet, desto deutlicher wird hier, wie dieses Moment in der Schöpfungsgeschichte, das erstmalige Sprechen des Schöpfers im Plural, als ein Erkenntnisprinzip gesehen werden kann, das untrennbar mit der Rationalität von Wissensstrukturen verwoben ist. Wie Ambrosius lehnt Luther die jüdische Erklärung des Plurals als Gespräch mit anwesenden Engeln ab. Er erweitert das Argument insofern zu einem vierfachen, als zweitens die Schöpfung die Engel überhaupt nichts angehe, drittens Gott von Machern und Schöpfern, aber nicht von Engeln spricht, und schließlich der Mensch nicht nach dem Abbild der Engel geschaffen sei. Überdies argumentiert Luther, dass Moses durch die Verwendung von »Lasst uns machen« und »er machte« in diesem Vers, also durch die Verwendung von Singular und Plural, eindeutig zeige, dass »Gottheit und schöpfende Essenz untrennbar in der ewigen Pluralität seien – in ipsa divinitate et creatrice essentia inseparabilem et aeternam pluralitatem esse«.70 Augustinus war vermutlich derjenige, der am ausführlichsten begründet hat, warum der Plural in Gen. 1, 26 auf das Gespräch innerhalb der Dreifaltigkeit zu beziehen ist.71 In seinem umfangreichsten Kommentar zur Genesis, in De genesi ad litteram, begründet er (wie Luther) die Sonderstellung des Menschen gegenüber den vernunftlosen Lebewesen über die Schöpfung nach Gottes Bilde. Diese Ähnlichkeit beziehe sich auf gewisse intelligible Formen des erhellten Verstandes. Darüber hinaus erklärt er, dass Gott Adam bei der Beseelung von vorne anhaucht, da dort der Sitz der Erkenntnis sei, die die sinnlichen Empfindungen verarbeitete.72 Martin Luther kanonisiert diese Lesart des Kirchenvaters, während er andere (z. B. die negative Sicht auf Eva) vehement ablehnt und verdrängt. Luther hebt besonders hervor, dass die Trinität als Einheit in ein und demselben Augenblick schöpft, und betont dabei die Momenthaftigkeit des Schöpfungsaktes (durch das gesprochene Wort): »Es sind nach diesen Worten die Himmel, und was unter dem

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Omnia per ipsum facta sunt, et sine ipso factum est nihil, quod factum est;‹ and this completed the argument. It was the threefold God who created man in His likeness and who redeemed him from his Fall through the sacrifice of the Son«. Heimann fasst damit ein komplexes Kapitel der Kommentare zu Genesis 1, 26 schlüssig zusammen, vgl. Adelheid Heimann, »Trinitas creator mundi«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 2 (1938/39), S. 42–52, hier S. 42. Luther, Über das erste Buch Mose Predigeten, S. 43. Augustinus kommentiert die Genesis in mehr als einer seiner Schriften. Die wichtigsten neben der bereits erwähnten buchstäblichen Auslegung der Genesis (De genesi ad litteram libri duodecim) sind seine Schriften De genesi contra Manichäos, die Bekenntnisse (Bücher XI–XIII) sowie der Gottesstaat. Für Luthers Auslegung von Gen. 1, 26 war vermutlich die Passage vom Ende der Bekenntnisse grundlegend. Augustinus, De genesi ad litteram libri duodecim, lib. VII, cap. 1–3.

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Namen oder nach Ähnlichkeit des Himmels ins Dasein gelangt, durch ein Wort der Allmacht auf Einmal entstanden«.73 Der Reformator folgt Augustinus jedoch auch in der Frage, die sich aus dem Zusatz ad similitudinem et imaginem nostram ergibt. Hier konsultiert Luther explizit dessen Schrift über die Trinität. Augustinus verkettet darin die Argumente für das Sprechen im Plural, die Bedeutung der Trinität und die Frage der Gottesebenbildlichkeit. Er erklärt an dieser Stelle (im 22. Kapitel des 13. Buches) in drei Schritten, warum es nicht »es werde«, sondern »lasst uns machen« heißt – und dass »gemacht sein nach unserem Bilde« (imaginem nostram) ein wesentlicher Teil seiner drei Argumentationen ist. Denn du hast nicht gesagt, »es werde der Mensch nach seiner Art«, sondern lasst uns Menschen machen, in unserem Bilde, nach unserem Gleichnis, auf dass wir prüfen mögen, was dein Wille sei. Deshalb spricht jeder Spender deines Wortes, damit die Kinder, die er durch das Evangelium zeugt, nicht immer Kinder bleiben, die er mit Milch nährt und wie eine Amme pflegen muss, verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der gute, der wohlgefällige und der vollkommene Gotteswille. Daher sagst du auch nicht, es werde der Mensch, sondern, lasst uns Menschen machen. Du sagest nicht, nach seiner Art, sondern, in unserem Bilde nach unserem Gleichnis. Nämlich, der im Geiste erneuert, die Wahrheit weiß und keines Menschen mehr bedarf zur Unterweisung, um seiner Art nachzuahmen; sondern durch deine Erleuchtung möge er selbst prüfen, welches da sei der gute, der wohlgefällige und der vollkommene Gotteswille; und du lehrst ihn, der dessen fähig ist, die Dreieinigkeit in der Einheit und die Einheit in der Dreieinigkeit erkennen. Deshalb fügst du deinen Worten in der Mehrzahl, lasst uns den Menschen machen, in der Einzahl hinzu, und Gott schuf den Menschen; und den Worten in der Mehrzahl, nach unserem Bilde, in der Einzahl hinzu, nach dem Bilde Gottes. So wird der Mensch erneuert zur Erkenntnis nach dem Ebenbilde dessen, der ihn geschaffen hat, und geistlich geworden richtet er alles, was überhaupt gerichtet werden kann; er selbst aber wird von niemand gerichtet.74 73 74

Luther, Über das erste Buch Mose Predigeten, S. 58. Augustinus, De civitate dei, lib. XIII, cap. XXII: »Neque enim dixisti, ›fiat hom*o secundum genus‹, sed, ›faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostrum‹, ut nos probemus quae sit voluntas tua. ad hoc enim dispensator ille tuus generans per evangelium filios, ne semper parvulos haberet quos lacte nutriret et tamquam nutrix foveret, ›reformamini‹, inquit, ›in novitate mentis vestrae ad probandum vos quae sit voluntas dei, quod bonum et beneplacitum et perfectum‹. ideoque non dicis, ›fiat hom*o‹, sed, ›faciamus‹, nec dicis, ›secundum genus‹, sed, ›ad imaginem et similitudinem nostrum‹. mente quippe renovatus et conspiciens intellectam veritatem tuam homine demonstratore non indiget ut suum genus imitetur, sed te demonstrante probat ipse quae sit voluntas tua, quod bonum et beneplacitum et perfectum, et doces eum iam capacem videre trinitatem unitatis vel unitatem trinitatis. ideoque pluraliter dicto ›faciamus hominem‹, singulariter tamen infertur, ›et fecit deus hominem‹, et pluraliter dicto ›ad imaginem nostrum‹, singulariter infertur, ›ad imaginem dei‹. ita hom*o renovatur in agnitione dei secundum imaginem eius, qui creavit eum, et spiritalis effectus iudicat omnia, quae utique iudicanda sunt, ipse autem a nemine iudicatur«. In einem anderen Text, in De genesi contra Manichäos,

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Augustinus’ entscheidende Prämisse für des Menschen Gottesebenbildlichkeit auch nach dem Sündenfall, nämlich weltlichen Lüsten zu entsagen, teilt Luther jedoch nicht. Ganz im Gegenteil, gerade um ihre Revision bemüht er sich. Seit Augustinus ist die Schuldzuweisung an Eva und die negative Konnotation der Sexualität ein Topos, den zu widerlegen in seiner ganzen Dimension erst Luther demonstrativ bemüht ist. Damit bereitet der Reformator auch in der Theologie den Weg für die Vorstellung von Lust im Paradiesgarten, die in der Malerei schon lange vor Cranach entfaltet worden war. Die Darstellung von körperlicher Begierde ist in Bildern mit Szenen des Paradieses in den 1530er Jahren kanonisch geworden. Verdrängt wurden dabei ambivalente Bilder, d. h. Darstellungen, die offen ließen, ob Adam gerade beseelt oder Eva gerade geschaffen wird, Kombinationen von beiden Schöpfungsberichten oder Ausschnitte des einen kombiniert mit einer umfangreichen Schilderung des anderen Berichtes (z. B. Schaffung des Kosmos in der ersten Szene und die Erschaffung der Menschen in weiteren Szenen, oder etwa das SechsTage-Werk kombiniert mit Engelssturz und Sündenfall bis zur Ermordung Abels durch Kain). Das Problem der mehrfachen Autorschaft des Genesis-Berichts und seiner doppelten Erzählung zweier verschiedener Geschichten ist in einer Zeit zunehmender Aufmerksamkeit für die Wahrung der eigenen Autorschaft zu einem Problem authentischer Darstellung geworden.75 Cranach folgt dem biblischen Wortlaut so getreu wie möglich und zwingt seine Betrachter, unter Umständen in der Genesis nachzulesen, indem er dafür selbst eingebürgerte Lesgewohnheiten und Darstellungskonventionen opfert. Noch deutlicher als in seinen Paradiesbildern verdrängt der Maler in Zeichnungen und Bildern, die den Sündenfall zeigen, jegliche Ambivalenz. Das ist besonders evident an der Verdrängung von Augustinus’ negativer Sicht auf Eva zugunsten einer erotischen Spannung zwischen den Stammeseltern. Cranach stellt die Lust vor Augen, die Adam und Eva empfinden können, seit sie sich wahrnehmen und erkennen, das heißt begehren können. Luther kanonisiert in seinem Genesis-Kommentar eine positivere Sicht auf Eva, die in der Malerei schon länger die Deutungshoheit gewonnen hatte. Wie komplex die Diskussion über Details des Genesis-Wortlautes von den verschiedenen Kommentatoren geführt wurde, lässt sich also letztlich nur über das Archiv der Genesis-Kommentare erschließen.

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lib. II, cap. VIII, macht Augustinus klar, worauf sich die Gottesebenbildlichkeit seiner Meinung nach bezieht: auf den inneren Menschen. Er führt das im Rahmen der Diskussion der Frage aus, warum der Mensch aus Lehm und nicht ex nihilo geschaffen wird. Anders als die Manichäer, die glauben, dass die Gottesebenbildlichkeit Adam eingehaucht wurde (insufflavit), ist das Einhauchen nach Augustinus das, was den Menschen zur Unterscheidung zwischen gut und böse befähigt. Dürer klagt zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Venedig gegen die Verwendung seiner Signatur in Stichen, die seine Stiche als Vorlagen kopieren. Die Verfügungsgewalt über die eigene Signatur tritt der Nürnberger Künstler nicht ab, er erlaubt jedoch die Nachahmung der Zeichnung in Italien – allerdings ohne die Kopie seines Monogramms, vgl. Lisa Pon, Raphael, Dürer, and Marcantonio Raimondi. Copying and the Italian Renaissance print, New Haven u. a. 2004.

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Das Archiv des Gesellschaftsvertrags Zur Aktualisierung einer Rechtsfigur von Hobbes’ Leviathan bis zu Kleists Michael Kohlhaas Sigrid G. Köhler

Woher kommen eigentlich die Verträge? Die einschlägigen Texte zum Kontraktualismus lassen diese Frage offen. Sie gehen stattdessen einfach von ihrer Existenz aus und begeben sich damit in ihrer Darstellung von Vergesellschaftungsprozessen in eine Aporie, soll der Gesellschaftsvertrag doch allererst begründen, was mit ihm vorausgesetzt wird: die rechtliche Ordnung einer bürgerlichen Gesellschaft, mit dem primären Ziel, eine Rechtsgewalt zum Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Gewalt zu etablieren. Nicht zuletzt aufgrund dieser paradoxen Struktur wird der Gesellschaftsvertrag in der Regel als Begründungsfigur gesellschaftlicher Ordnung kritisch betrachtet – und daran konnte auch die mit dem Namen Rawls verbundene Renaissance des Kontraktualismus in den 1970er Jahren nichts grundsätzlich ändern. Anhand des Gesellschaftsvertrags, so das gängige Argument, lässt sich die Komplexität gesellschaftlicher Bezüge nicht beschreiben, geschweige denn herleiten. Nicht ganz unschuldig an dieser Rezeption sind die Gesellschaftsvertragstexte selbst, allen voran Hobbes’ Leviathan, der gemeinhin als der Gründungstext der kontraktualistischen Gesellschaftstheorie gilt. Wie viele andere Texte präsentiert auch er den Gesellschaftsvertrag als Teil einer Narration, und dies obwohl er selbst nicht im engeren Sinn erzählend verfährt. Der Vertragsschluss zwischen den Menschen wird aus einem ›Vorher‹ (dem Naturzustand) motiviert, und er überführt die Menschen wiederum in ein ›Nachher‹ (die bürgerliche Ordnung); er etabliert auf diese Weise eine Zeitstruktur, durch die das Problem des Anfangs erst virulent wird. Begleitet wird diese temporale Ordnung zudem – nicht nur im Leviathan – von einer Emphase der Menschwerdung: Die Rechtsfigur des Vertrags soll nicht nur eine rechtliche Ordnung etablieren, sie bringt zugleich auch noch den Menschen im eigentlichen Sinn des Wortes hervor. Bei aller Kritik, die weit bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, stellt sich die Frage, wieso der Gesellschaftsvertrag dennoch zu einer der wirkmächtigsten Figuren der modernen westlichen Kulturgeschichte werden konnte. In gewisser Weise scheint er also doch zu ›funktionieren‹. Er funktioniert, so in der Regel die Replik, weil er als Argument eingesetzt wird: In den Texten zum Gesellschaftsvertrag soll gar keine Geschichte erzählt, sondern vielmehr für ein spezifisches Legitimationsverfahren gesellschaftlicher Ordnung argumentiert wer-

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den.1 Dies ist sicherlich richtig, verschiebt jedoch nur das Problem hin zu der Frage, wie sich das Argument des Vertrags zu seiner narrativen Struktur verhält. Das Paradox des Gesellschaftsvertrags lässt sich jedoch umgehen, wenn man die Frage nach dem ›Funktionieren‹ in eine nach dem ›Woher‹ umformuliert, schließlich gibt keiner der Texte zum Gesellschaftsvertrag vor, diese Rechtsfigur zu erfinden. Eine erste Antwort lässt sich mit Verweis auf das antike römische Recht entwickeln, das gerade in Fragen des Privatrechts – zu dem im Übrigen auch der Vertrag zählt – grundlegend für das moderne Recht ist. Die römische Rechtsgeschichte hält eine vielfältig überlieferte narratio bereit, der zufolge die Verträge in gewissem Sinne aus dem ›Archiv‹ kommen. Dieser Geschichte hat sich die Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen im Rahmen ihrer Überlegungen zur Entstehung des Konsensualvertrags gewidmet.2 Im Folgenden und im Anschluss an Fögen soll die Geschichte als methodische Modellgeschichte gelesen werden, lassen sich an ihr doch die für den Vertrag wesentlichen Grundfragen entwickeln, die auch noch für den Umgang mit der Figur des Gesellschaftsvertrags in der Moderne maßgeblich sind: die Grundstruktur des modernen Vertragsbegriffs samt dem ihm inhärenten Moment gewaltvoller Transgression, die ihn konstituierende Semantik, seine Formelhaftigkeit, das Verhältnis von Vertrag und Zeit und das Erklärungspotenzial seiner narrativen Struktur. Der Rekurs auf das römische Recht erlaubt es zudem, einen auf ein materielles Archiv bezogenen und rechtshistorisch geprägten Archivbegriff ins Spiel zu bringen, dessen systematische Perspektiven sich durchaus mit den Konzeptualisierungen der aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatte verbinden lassen: insbesondere mit dem Foucault’schen Archivbegriff. Wenn Foucault das Archiv als »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«3, bezeichnet, bezieht er sich zwar nicht mehr auf das Archiv als einen konkreten Ort oder ein materielles Textkorpus, und er bewegt sich auch nicht in einem im engeren Sinne rechtshistorischen Kontext. Dennoch ist bei Foucault das Archiv ein ›Ort‹, von dem aus aufgrund der dort gelagerten Texte ›Recht‹ gesprochen wird, wenn es bestimmt, was in der Rede möglich ist und was nicht. Sein Archivkonzept bestimmt sich durch Implikationen eines vormodernen juridisch-politischen Archivbegriffs und lässt sich Walter Seitter zufolge deshalb nicht nur im Sinne eines modernen ›Depot-Archivs‹ begreifen, in dem alte Akten für die Nachwelt aufbewahrt werden, sondern auch als ›Kanzlei-Archiv‹, das aufgrund der in ihm gelagerten Akten Rechtsentscheidungen vorbereitet.4 Das 1

2

3 4

Vgl. z. B. Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 2005, S. 81 f. Vgl. Marie Theres Fögen, »Zufälle, Fälle und Formeln. Zur Emergenz des synallagmatischen Vertrags«, in: Rechtsgeschichte 6 (2005), S. 84–100. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 51997, S. 187. Walter Seitter, »Zur Gegenwart anderer Wissen«, in: Michel Foucault, ders., Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim 1996, S. 94–112 und S. 100–102.

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Recht des Archivs, das Foucault immer schon als ›Gesetz‹, d. h. als regulierende Macht denkt, wird jedoch auf die gesamte Rede ausgeweitet. Damit überschreitet Foucault den konkreten Rahmen eines rechtshistorisch geprägten Archivbegriffs wie auch die Vorstellung eines konkreten, materiellen Archivs und natürlich den juridischen Kontext insgesamt. Als Beschreibungsebene bleibt die juridische Dimension jedoch präsent: Sie zeigt die regulierende/regierende Macht des Archivs an, das aus dieser Perspektive dann auch als eine strukturelle, formierende bzw. ausschließende Gewalt fungiert. Als Gesetz der Rede regelt das Archiv aber nicht nur das, was gesagt werden kann, sondern auch das Wie: »[D]as Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge […] sich in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden«.5 Es geht also auch um Redeformationen und -anordnungen, die das Archiv im Foucault’schen Sinne vorgibt. Wenn also der Vertrag funktioniert – dies war die Ausgangsthese –, weil er aus dem Archiv kommt, so bedeutet dies nun, dass er funktioniert, weil das Archiv als juridische Autorität auftritt und den Vertrag in bestimmten Redeformationen vorgibt. Aus methodischer Perspektive erlaubt es der Archivbegriff zudem, Texte in einem kulturellen ›Vergleichszusammenhang‹6 zu betrachten, die historisch und auch thematisch nicht in einen diskursiven Zusammenhang gehören, die aber dennoch enger mit einander verbunden sind, als es der intertextuelle Bezug suggerieren würde. Der Bezug auf das Archiv, das sich als Speicher gerade durch Simultanität auszeichnet, unterläuft dabei jedoch den Versuch, solche Zusammenhänge als eine große Geschichte erzählen zu wollen. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie sich, mit Foucault gesprochen, Aussageformationen bilden und begründen – und dies ist insbesondere mit Blick auf die Funktion des Rechts in der Moderne von nicht zu unterschätzender Relevanz, wenn das Problem der Letztbegründung, wie am Beispiel des Vertrags zu zeigen sein wird, einer Rechtsfigur überantwortet wird und diese wiederum zu ihrer Legitimation nichts anderes als das Archiv auf ihrer Seite hat. Der Gesellschaftsvertrag als eine solche Figur der Letztbegründung ist in der Moderne unauflöslich mit spezifischen Vorstellungen vom Staat und seinen Menschen verbunden, und dies nicht zuletzt, weil er gerade als Gründungsfigur einer von Menschen gemachten Gesellschaft in Abkehr von einer transzendent begründeten Ordnung fungiert. Auch wenn das große Thema des Gesellschaftsvertrags dabei die Bändigung von Gewalt ist, so muss diese für das Begründungsverfahren und das Funktionieren des Vertrags gerade deshalb konstitutiv bleiben, geht es doch um die Transformierung anthropologisch motivierter, äußerer Gewalt (vis) in strukturelle, die als rechtlich legitimierte (potestas) dann wiederum konkret sankti5 6

Foucault, Archäologie des Wissens, S. 187, Hervorh. SGK. Vgl. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 173.

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onieren kann.7 Dazu verknüpft der Gesellschaftsvertrag das Konzept des bürgerlichen Menschen mit anthropologischen Annahmen, die er wiederum ›archiviert‹. Durch den Rekurs auf die Figur des Gesellschaftsvertrags können diese anthropologischen Semantiken des Vertrags im Laufe der Moderne immer wieder abgerufen werden: Es geht um die Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit und Autonomie des Menschen, um die Vorstellung des Menschen als Eigentümer und Rechtssubjekt und um sein latentes Gewaltpotenzial. Diese werden jedoch nicht nur als Semantiken aktualisiert, sondern durch den Rekurs auf den Gesellschaftsvertrag auch als Beziehungsgeflecht und Handlungsstruktur bzw. in Form einer narrativen Logik, die immer wieder geradezu formelhaft aufgerufen wird: Als eine wiederkehrende Struktur lässt die Vertragsfigur allein durch ihre Benennung einen Argumentationszusammenhang präsent und plausibel werden. Mit anderen Worten: Von besonderem Interesse werden im Folgenden neben den unterschiedlichen Semantiken der Vertragsfigur vor allem die Textstrukturen sein, in denen der Vertrag auftritt und die er seinerseits wiederum hervorbringt.8 Der Vertrag wird also auch seinerseits als Archivfigur betrachtet, d. h. er kommt nicht nur aus dem Archiv, er fungiert auch selbst als ein solches, als eine Figur, die aufgerufen wird, um das in ihr gespeicherte Wissen über den modernen Menschen und die dieses Wissen begründende Zusammenhänge abzurufen und darzulegen. In diesem Sinne ist er immer mehr als nur eine Argumentations- oder Denkfigur. Die Aktualisierung des Gesellschaftsvertrags in den unterschiedlichen historischen Kontexten vom 17. bis ins 19. Jahrhundert impliziert dabei natürlich Transformationen, die es ebenfalls aufzuzeigen gilt: Während der Vertrag zunächst vor allem der Gesellschaftsbegründung insgesamt dient und entsprechend emphatisch mit der Geburt des modernen Menschen verbunden werden kann, findet er um 1800 seine Funktion eher in der kritischen Reflexion des Verhältnisses von Bürger und Staatsgewalt.

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8

Vgl. dazu auch das Lemma ›Gewalt‹ im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Zu einer ›Kritik der Gewalt‹ des Vertrags vgl. prominent Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften II,1, Frankfurt am Main 1991, S. 178–203, hier S. 190. Zum Archiv als texttheoretische Kategorie vgl. Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 176–205. Baßlers Überlegungen wären hier allerdings um die Komponente der ›Redeformation‹ zu erweitern, denn er profiliert den Archivbegriff in erster Linie als Aktualisierung von semantischen Äquivalenzstrukturen (ebd. S. 133). Zudem, und hier setzt sich der vorliegende Beitrag aufgrund der juridischen Implikationen des Vertrags ebenfalls von der Baßler’schen Perspektive ab, stehen die aktualisierten Semantiken und Formen nicht nur durch ihr Nebeneinander in einem Vergleichszusammenhang, sondern sie übertragen durch ihre Aktualisierung auch die ihnen jeweils inhärenten strukturellen Zusammenhänge und Begründungsverfahren.

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Aus dem Archiv der Antike: Von den Formeln zu den Verträgen Eine vielfach in der römischen Rechtsgeschichte überlieferte Geschichte erzählt davon, wie das Recht an die Öffentlichkeit gelangt ist, d. h. wie es jedem römischen Bürger möglich wurde, Rechtshandlungen auszuführen, sein Recht einzuklagen, aber auch Verträge zu schließen.9 Der besagten Erzählung zufolge geht dieser Umstand auf einen Diebstahl zurück, den Gnaeus Flavius, Schreiber des Appius Claudius Caecus, ca. 300 v. Chr. verübt hat, als er die Klageformeln aus den innersten Gemächern der Priester gestohlen und zusammen mit dem ebenfalls von dort entwendeten Kalender veröffentlich hat. Zur Zeit der Römischen Republik hatten die priesterlichen Gemächer die Funktion eines geheimen Archivs.10 Sie fungierten als der nur den Priestern zugängliche Aufbewahrungsort für die so genannten legis actiones, d. h. die Klageformeln. Diese machten einen wesentlichen Bestandteil des römischen ius civile aus, weil sie als formalisierte Wortlaute und Redeformen festlegten und begrenzten, welche Streitfälle in welcher Form und mit welchen Worten durch eine Klage vor Gericht gebracht werden konnten und wie der Prozess geführt werden sollte. Nur wer also die formalisierte und ritualisierte Rechtsprache kannte und sich nach ihr richtete, konnte sein Recht auch einklagen. Das Wissen um den Kalender ist dabei bedeutsam, weil die Tage, an denen man im antiken Rom vor Gericht eine Klage einreichen konnte, durch den Kalender festgelegt wurden, über den allein wiederum die Priester bestimmten.11 Wenn eine zentrale Funktion des Rechts nun darin besteht, in die Zukunft vorzugreifen und Erwartungen zu schützen, weil Verbrechen gesühnt werden, Verträge einzuhalten und Schulden zu bezahlen sind, so werden mit dem Raub und der Veröffentlichung des Kalenders »nicht nur die Gerichtstage bekannt. Vielmehr wird die Zeit der Zukunft, die man durch Recht strukturieren kann, verfügbar«,12 und zwar nicht mehr nur für eine privilegierte Schicht, sondern für alle römischen Bürger. Marie Theres Fögen zufolge haben solche Geschichten wie die vom Diebstahl der Klageformen die Funktion, ›diskursive Lücken‹ zu schließen. Ihrem systemtheoretischen Blick zufolge darf Recht nicht als ein sich kontinuierlich entwickelndes betrachtet werden. Veränderungen vollziehen sich vielmehr in evolutionären Sprüngen, die, so Fögens These, die Römer selbst schon in Form von »Sensationsgeschichten«13 erzählt haben. Diese ›Sensationsgeschichten‹ überbrücken die angesichts eines solchen Sprungs entstehenden Lücken, indem sie Kontinuität suggerieren: Sie setzen zwar einen neuen Anfang, relativieren aber zugleich die Zäsur zwi9

10 11

12 13

Vgl. Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Göttingen 2002, S. 125. Vgl. dazu Ernst Posner, Archives in the Ancient World, Cambridge (MA) 1972, S. 171 f. Der römische Kalender war ein beweglicher, weil das römische Jahr als Mondjahr durch die Interkalation von Tagen immer wieder dem Sonnenjahr angeglichen werden musste. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 130. Ebd., S. 18.

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schen dem ›Vorher‹ und dem ›Nachher‹ wieder, wie dies auch in der FlaviusGeschichte geschieht: Die Formeln werden ja anlässlich ihrer Veröffentlichung nicht von Flavius neu erfunden, sondern ›nur‹ aus dem Archiv geholt. Der Flavius-Geschichte zufolge kommen aber genau genommen, so räumt Fögen ein, nicht die Verträge, sondern die Klageformeln aus dem Archiv. Einen einheitlichen Vertragsbegriff, so ließe sich der Einwand weiter fortführen, gibt es im römischen Recht ebenfalls nicht, sondern nur stark regulierte Vertragstypen. Das Konzept eines einheitlichen und systematisch beschreibbaren Vertrags ist das Resultat eines langen, vor allem durch das neuzeitliche Naturrecht geprägten Systematisierungsprozesses, dessen Ende gemeinhin mit der Umsetzung des allgemeinen Vertragsbegriffs ins positive Recht im ausgehenden 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhundert angesiedelt wird.14 Mit diesem Einwand lässt sich der Konnex von Vertrag und Archiv aber keineswegs auflösen. Wenn auch nicht die Verträge aus dem Archiv kommen, so doch die Formeln, in denen die Verträge im altrömischen Recht ihren Ausgang nehmen: in einem stark regulativen und ritualisierten Formel- und Formenzwang, der vorgab, mit welchem Vertragstyp ein bestimmtes Geschäft abzuschließen war, welche Worte und Gesten dazu ausgesprochen und ausgeführt werden mussten, und mit welchen Klageformeln das in der Regel einseitige Rechtsgeschäft wiederum abgesichert werden konnte. Über genau diesen Konnex von Formel und Vertrag begründet auch Fögen ihren Rekurs auf die Flavius-Geschichte, wenn sie sich mit der Entstehung des Konsensualvertrags beschäftigt, denn historisch betrachtet entwickelt sich dieser erst mehr als hundert Jahre später. Er zeichnet sich zudem im Gegensatz zu den Vertragstypen des altrömischen Rechts gerade als zweiseitiges Rechtsgeschäft mit großer Formfreiheit aus: Er ist nicht mehr auf bestimmte Anlässe oder Inhalte eines Rechtsgeschäfts beschränkt, und die Manifestation des Willens wird wichtiger als der Wortlaut. Entsprechend eröffnet gerade diese Formfreiheit neue und weit reichende Möglichkeiten, Gegenwart und Zukunft durch das Recht zu gestalten, weshalb der Konsensualvertrag Fögen zufolge »einen evolutionären Sprung ohnegleichen«15 impliziert. Zudem enthält er auch schon wesentliche Elemente, die für das moderne Vertragsverständnis konstitutiv sein werden. Aber bei aller Formfreiheit war der Konsensualvertrag, so Fögens Argument für ihren Rückbezug auf das altrömische Recht, eben nicht formelfrei. Neben ihm bestanden nicht nur weiterhin die übrigen Vertragstypen des römischen Rechts, er war auch, genauso wie die älteren Vertragstypen, immer noch an eine bestimmte Form der actio gebunden, ohne die ein Vertragsbruch vor Gericht nicht angeklagt werden konnte. Die Formel, so Fögens Fazit, ist im römischen Recht offenbar für die Emergenz von Rechtsformen das flexible Element gewesen, das einerseits die Kontinuität des Rechts sichern, gleichzeitig aber auch 14

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Vgl. dazu Klaus-Peter Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert, München 1985. Fögen, »Zufälle, Fälle und Formeln«, S. 88.

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Innovationssprünge aufnehmen und so zu neuen Rechtsformen führen konnte.16 Dem geheimen Archiv der Priester kommt dabei in systematischer Hinsicht die Funktion einer als »Gegenwart aufsummierte[n] Vergangenheit«17 zu, wie Fögen im Anschluss an Luhmann schreibt. Allerdings können die Formeln diese Funktion erst übernehmen, so ließen sich die Überlegungen im Anschluss an die Flavius-Geschichte pointieren, nachdem sie aus dem Archiv der Priester auf illegitime Weise entwendet und in die Öffentlichkeit entlassen worden sind, denn bis dahin waren sie gerade Garant für die Stabilität des Rechts.

Hobbes’ Leviathan: Zur Neubegründung einer Rechtsfigur Seit der Antike sind Vergesellschaftungsprozesse immer wieder mit Rekurs auf Vertragskonzepte beschrieben worden. Dennoch gelten erst das 17. und 18. Jahrhundert im engeren Sinn als die Zeit der Kontrakttheorien, an deren Anfang sicherlich der Hobbes’sche Leviathan gesetzt werden kann. Mit dieser historischen Zäsur einher geht wieder, mit Fögen gesprochen, ein ›evolutionärer Sprung‹: freilich nicht im Recht, sondern in der Verwendung der Vertragsfigur. Im Leviathan dient der Gesellschaftsvertrag nicht mehr der Beschreibung einer Gemeinschaftsgründung. Er ist nicht mehr einfach eine Rechtsfigur oder ein Rechtsgeschäft unter anderen, sondern er avanciert zum Nukleus einer Argumentation, welche die Funktion hat, unabhängig von den jeweiligen spezifischen historischen Bedingungen eine von Menschen begründete Gesellschaftsform ohne den Rekurs auf einen Schöpfergott zu legitimieren. Um diesen emanzipatorischen Gestus in den Blick zu bekommen, ist es jedoch wichtig, den Leviathan nicht nur als Legitimation einer absolutistischen Herrschaftsform zu lesen und die entstehende bürgerliche Ordnung auf die Relation von Souverän und Untertan zu reduzieren, auch wenn beides ohne Frage im Leviathan mit vollzogen wird. Gleich zu Beginn wird im Leviathan durch die Analogisierung des Vertrags mit dem göttlichen »›Fiat‹ oder ›Laßt uns Menschen machen‹«18 geradezu programmatisch verdeutlicht, welche entscheidende Bedeutung dem Vertrag zukommen soll. Mit diesem Rekurs auf eine Formel aus dem bis dahin für Letztbegründungen zuständigen religiösen Diskurs wird ein neuer Anfang gesetzt, der nicht weniger als die Menschwerdung des Menschen durch sich selbst bedeuten soll. An die Stelle einer religiös fundierten Letztbegründung rückt der Gesellschaftsvertrag, der aus

16 17

18

Vgl. ebd., S. 96. Ebd., S. 95. Vgl. auch Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 504. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1966, S. 5.

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einer juristischen Form abgeleitet den (bürgerlichen) Menschen und die Gesellschaft erschaffen soll. Im Text zeigt sich dieser Gestus der Neubegründung nicht zuletzt im Fehlen von expliziten Referenzbezügen, denn Hobbes beruft sich dem neuen Wissenschaftsverständnis des 17. Jahrhunderts entsprechend allein auf seine Methode, den mos geometricus, und nicht, wie bis dahin üblich, auf Autoritäten. Der Text selbst gibt sich als eine methodisch geleitete Abhandlung zu lesen, die den Vertrag aus der Anthropologie begründen will: Aufgrund seines kontinuierlichen Strebens nach Gütern und dem Bedürfnis diese auch für die Zukunft zu sichern, gerät der Mensch in Konfliktsituationen mit anderen, so dass er aus Furcht vor möglicher Gewalt (im engl. Text ›force‹) die Übereinkunft sucht. Die fortschreitende Argumentation, die dieses Szenario entwickelt, scheint allein auf Schlussfolgerungen zu basieren, an deren vorläufigem Ende die wechselseitige Übertragung von Recht steht – und diese, so das Fazit der bis dahin vollzogenen Gedankenkette – »nennt man Vertrag«.19 Mit anderen Worten: Der Vertrag – immerhin das argumentative Zentrum jeder Kontrakttheorie – erscheint zunächst als eine Folge von Ableitungsprozessen. Bei genauerer Lektüre zeigen sich allerdings schnell Widersprüche und Brüche in dieser Verfahrensweise, und zwar u. a. genau an dem Ort, an dem der Umschlag vom Naturzustand zur bürgerlichen Ordnung mittels des Vertrags erklärt werden müsste. Solange es darum geht, den Vertrag aus dem Naturzustand und den natürlichen Rechten und Pflichten des Menschen abzuleiten, wird er als ›natürliche‹ und ›vernünftige‹ Folge des menschlichen Handelns dargestellt. Sobald das Stadium des Naturzustandes im Leviathan aber verlassen und die bürgerliche Ordnung erreicht worden ist, wird der Vertrag zu etwas ›Künstlichem‹, präzis gesagt: zu einem konkret bestimmten Rechtsinstitut. Zwar wird der Vertrag an dieser Stelle genauer definiert, nämlich als eine auf einem Akt des Willens basierende, wechselseitige Übertragung von Rechten. Begleitet wird diese Bestimmung allerdings von irritierenden Ausführungen, die das bisherige Ableitungs- und Definitionsprozedere unterbrechen und ohne zunächst weiter erkennbaren Zusammenhang den Unterschied zwischen einer ganze Reihe von ›Rechtsgeschäften‹ erklären: zwischen der wechselseitigen Übertragung von Rechten und von Dingen, zwischen wechselseitigen und einseitigen Übertragungen und zwischen Übertragungen, die sofort erfolgen, und solchen, die wiederum für später vereinbart werden; unterschieden wird zwischen Vertrag, Pakt bzw. Übereinkommen, Schenkung, Versprechen etc. Plausibel werden diese Erläuterungen vor dem Hintergrund eines im 17. Jahrhundert noch fehlenden allgemeinen Vertragsbegriffs. Der frühneuzeitliche Rechtsdiskurs bezieht sich in seiner Vertragstypologie immer noch auf das römische Recht, auch wenn die naturrechtlichen Systematisierungsprozesse hin zu einem einheitlichen Vertragsbegriff längst angestoßen worden sind. Als maßgebliche Sta-

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tionen auf dem Weg hin zu einem modernen Vertragsbegriff gelten im 17. Jahrhundert u. a. die Schriften von Grotius und Pufendorf, zwischen denen sich Hobbes’ Leviathan nicht nur aus historischer Perspektive ansiedeln lässt. Schließlich geht es auch ihm um die Frage, was einen Vertrag eigentlich ausmacht. In der Forschung ist diese Stelle zum Anlass genommen worden zu diskutieren, inwiefern es überhaupt korrekt ist, in Bezug auf den Leviathan von ›Vertrag‹ zu sprechen, da Hobbes in einem Großteil des Textes von ›covenant‹ (Übereinkunft) statt von ›contract‹ (Vertrag) spricht. Die etablierte Verwendung des Vertragsbegriffs lässt sich jedoch mit Verweis auf die von Hobbes beschriebene Relation der Begriffe erklären, der zufolge der ›contract‹ dem ›covenant‹ der übergeordnete Begriff ist.20 Der Rekurs auf die verschiedenen Vertragstypen des zeitgenössischen Rechtsdiskurses dient also dazu, den von Hobbes implizierten Vertragsbegriff zu bestimmen und von anderen Vertragstypen abzugrenzen bzw. diese einem allgemeinen unterzuordnen. An zentraler Stelle, an der es um die endgültige Bestimmung des Vertrags und den Umschlag vom Naturzustand in die bürgerliche Ordnung gehen sollte, setzt also, und dies ist der entscheidende Punkt, das Ableitungsprozedere, das heuristische Verfahren aus – und das Archiv unvermittelt ein, nicht im Sinne eines konkreten Textkorpus, auf das Hobbes referieren würde, wohl aber als Aussagesystem und Gesetz, das sich immer noch mit der Vertragstypologie des römischen Rechts auseinandersetzen muss. Es hebt alle anderen Zusammenhänge auf und bestimmt aus seiner Gegenwart heraus, was diskursiv als Vertrag bezeichnet werden kann und was nicht. Mit dieser durch das Archiv in den Vertrag hineingetragenen ›diskursiven Gegenwart‹ von Aussageformen korrespondiert die Zeitstruktur des Vertrags selbst, die Hobbes im Zuge seiner Erläuterung der Vertragstypen entfaltet. Unter einem Vertrag ist nämlich die Übertragung von Rechten zu verstehen, die auf einen Akt des ›gegenwärtigen Willens‹ zurückgeht. Im Englischen heißt es, dass es sich um einen »act of the will Present«21 handelt, der sich wiederum ›Kraft des Wortes‹ ausdrückt. In der heutigen Diktion würde man den Vertrag einen performativen Akt nennen, denn der Gegenwartsbezug stellt eine notwendige Bedingung für jede Vertragshandlung dar: Ohne ihn ist, so Hobbes, der Willensakt nur eine Willensbekundung, die Übertragung von Rechten nur ein zukünftiges Vorhaben.22 Genau deshalb bedarf der Wille aber auch einer spezifischen, auf die Gegenwart bezoge20

21

22

Vgl. z. B. Gerald Hartung, »Zur Genealogie des Versprechens. Ein Versuch über die begriffsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen der modernen Vertragstheorie«, in: Manfred Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München 2005, S. 277–295. Die deutsche Übersetzung verwendet in den meisten Fällen allerdings nur den Begriff ›Vertrag‹. Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil, Oxford 1960, S. 88. Zu Hobbes’ Vertragsakt als performativem Akt vgl. Niels Werber, »Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Perspektive«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 366–382.

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nen sprachlichen Form, nicht nur um sich zu manifestieren, sondern auch damit diese seinem Gegenwartsbezug Ausdruck verleiht. Folgt man dieser Logik, so ist der Vertragsschluss das einzige, was in der Gegenwart ›existiert‹, denn das ›Nachher‹, die prognostizierte bürgerliche Ordnung, wird dieser Logik folgend eine ›Einbildung‹, d. h. in der Hobbes’schen Anthropologie zu einer von der Vernunft aufgrund von Erfahrungen berechneten wahrscheinlichen Annahme für die Zukunft. Das ›Vorher‹, der Naturzustand, ist nur eine Fiktion, die es so vielleicht nie gegeben hat, wie Hobbes selbst schreibt.23 Im Zentrum des Gesellschaftsvertrags steht also die Präsenz eines Willens und mithin eine voluntaristische Konstruktion, die erhebliche Konsequenzen auch für die anthropologische Beschreibung des Menschen hat.24 Schon früh hat sich die Kritik gerade der voluntaristischen Konzeption des Gesellschaftsvertrags zugewandt. Prominentes Beispiel in der Mitte des 18. Jahrhunderts ist David Hume, dessen Kritik die Hobbes’sche Konzeption jedoch nicht im Kern trifft. Im Gegenteil, an ihr lässt sich gerade zeigen, dass die Stärke des Vertragsarguments in seiner Formelhaftigkeit liegt: Ausgangspunkt für Humes Kritik ist die Frage, wie Verbindlichkeit in einer Gesellschaft entsteht. Der Wille, den Kontrakttheorien an dieser Stelle vermeintlich als einziges Argument anführen, kann es Hume zufolge nicht sein, denn diesem eine derart weitreichende Macht zuzuschreiben, bedeutete, ihm eine ›geheimnisvolle und unbegreifliche Macht‹ zuzuerkennen, die ihn zu Vorgängen wie dem der ›Transsubstantiation‹ befähigte, bei dem »ja auch eine bestimmte sprachliche Formel in Gemeinschaft mit einer bestimmten Absicht die Natur eines äußeren Gegenstandes, sogar eines menschlichen Wesens vollständig umwandelt«.25 Verträge wie auch Versprechen sind für Hume stattdessen nur »menschliche Erfindungen«, konventionalisierte und institutionalisierte »Wortformel[n]«.26 Sie sind nachgeordnete, künstliche Verfahren, die ein System von Handlungen schaffen, um den gesellschaftlichen Austausch und Verkehr der Menschen zu erleichtern, die aber keineswegs aus sich selbst heraus Verbindlichkeit erzeugen können. Nun ist der Wille in Hobbes’ Konzept des Gesellschaftsvertrags wahrlich von zentraler Bedeutung. Dennoch wird ihm gerade nicht die Bürde aufgelastet, die Stabilität des Staates zu gewährleisten: Eine der zentralen Funktionen des Souveräns ist es schließlich als rechtlich legitimierte Zwangsgewalt (engl. ›coercive 23 24

25

26

Vgl. Hobbes, Leviathan, S. 97. Der Wille wird bei Hobbes allerdings – im Gegensatz zur Aufklärung – nicht als rein geistiges oder gar als vernünftiges Vermögen betrachtet, sondern er wird als ›letzte Handlung am Ende einer Überlegung‹ in die Beschreibung der Affekte eingebettet. Dies erklärt auch, warum Hobbes Verträge aus ›Furcht‹ denken kann, die einer genuin modernen Vertragstheorie widersprechen müssten. Vgl. Hobbes, Leviathan, S. 46–48 und S. 106 f. David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch II und III. Über die Affekte. Über die Moral, Hamburg 1978, S. 262–274 und S. 272. Ebd., S. 266 respektive S. 269.

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power‹) mittels bürgerlicher Gesetze feste ›Bande‹ für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen und durchzusetzen. Wenn im Leviathan weniger nach gesellschaftlichen Banden jenseits des Rechts gefragt wird, so liegt dies daran, dass es explizit um »Rechtsfragen«27 geht, wie es im Text heißt, dass es sich also durchaus um einen reduzierten, aber in diesem Sinne auch reflektierten Blick auf den Staat und den (bürgerlichen) Menschen handelt. Letzter wird im Leviathan vor allem als ›Autor‹ von Handlungen begriffen, d. h. als Person, der Handlungen, Wille und Rechte zugeschrieben werden können. Auch wenn dieser Zusammenhang im Leviathan nicht explizit reflektiert wird: Hobbes etabliert den bürgerlichen Menschen auf diesem Weg als hom*o juridicus: Was den bürgerlichen Menschen entscheidend ausmacht, ist sein Recht an seinen Handlungen (die aus seinem Willen resultieren), und sei es auch nur, um dieses Recht zu übertragen.28 In diesem reduktionistischen Blick zeigt sich die konstitutive Funktion des Rechts für den modernen Staat und den modernen Menschen. Das Recht kommt dabei aber nicht wie ein deus ex machina aus dem Nichts, sondern es speist sich aus dem Archiv. Wirksam ist der in der Natur des Menschen verankerte Wille also nicht aus sich selbst heraus, sondern weil er als kontraktualer Wille in einer juristischen Form auftritt. Diese stellt Verbindlichkeit her, insofern sie die Einhaltung erzwingen kann. Als juristische Form aus dem Archiv fungiert der Vertrag im Leviathan – mit Blick auf die Gesellschaftsgründung – als Denk- und Argumentationsfigur, schließlich geht Hobbes nicht davon aus, dass es sich um einen in irgendeiner Form historisch geschlossenen Vertrag handelt. Dennoch lässt er sich nicht auf die Funktion einer ›Anfangsfigur‹ reduzieren, dient der Vertrag im Leviathan doch auch dazu, die innere Organisationsstruktur des Staates insgesamt mit zu begründen und zu legitimieren. Dies wird allerdings nur deutlich, wenn man die Vertragsfigur nicht nur im Rahmen der staatsrechtlichen Rezeptionslinie betrachtet, in den sie gemeinhin als Begründungsfigur staatlicher Souveränität gestellt wird, sondern wenn man auch ihrer privatrechtlichen Herkunft Rechnung trägt, schließlich beschreibt der Leviathan zunächst eine Übereinkunft zwischen einzelnen Menschen, die zum Schutz ihrer (privaten) Interessen ihre Rechte auf einen Souverän übertragen; und 27 28

Hobbes, Leviathan, S. 542. Vgl. ebd., S. 123 f. und S. 134 f. Den Begriff des ›Autors‹ verwendet Hobbes in dem der Frühen Neuzeit geläufigen Sinn als demjenigen, dem Autorität zukommt, der Urheber eines Rechts; diese Autorität hat der Mensch bei Hobbes – darin liegt das Revolutionäre – nicht, weil sie ihm etwa mit einem Amt oder durch seinen Status verliehen worden ist, sondern als Bürger quasi von Natur aus (aufgrund seines Rechts auf Selbsterhaltung). Allerdings überträgt der Mensch in der Hobbes’schen Konzeption dieses Recht (fast) vollständig auf den Souverän. Erst in späteren Konzeptionen des Gesellschaftsvertrags, etwa bei Locke, wird es explizit darum gehen, dieses Recht gerade vor dem Staat zu schützen. Vgl. dazu die Artikel ›Autor‹ und ›Autorität‹ in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, Darmstadt 1971, S. 721–724 respektive S. 724–734. Vgl. dazu auch den 4. Abschnitt des Artikels ›Person‹ (Rechtsperson; Rechtspersönlichkeit), ebd. Bd. 7, Darmstadt 1989, S. 322–335.

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dessen Aufgabe wiederum besteht darin, durch die Wahrung des öffentlichen Wohls auch die Privatinteressen des Einzelnen zu sichern.29 Dass diese Lektüre ebenfalls möglich ist, zeigt sich daran, dass die Vertragsfigur im ganzen Leviathan präsent ist, selbst nachdem mit dem Entwurf des Gesellschaftsvertrags und der Autorisierung des Souveräns die Scharnierstelle zwischen Naturzustand und bürgerlicher Ordnung längst passiert worden ist und es im weiteren Verlauf um den Aufbau und die innerstaatliche Organisation geht. Es wird immer wieder auf den Vertrag als ›Grundfigur‹30 rekurriert, aber eben auch als zentrales Rechtsinstitut innerhalb der bestehenden bürgerlichen Ordnung: Wenn es um die Freiheit der Untertanen und die Handlungsmöglichkeiten von Körperschaften geht, die der Souverän jeweils in Form von besonderen Rechten einräumt, wird an prominenter Stelle und als wichtiges Handlungsinstrument ganz explizit der Vertrag angeführt. Bezeichnenderweise sind dabei vor allem die ökonomischen Interessen von Belang: die Sicherung und Neuverteilung von Eigentum und der Kauf und Verkauf von Dingen.31 Die Frage, inwiefern der Vertrag als eine die Gesellschaft begründende Figur und als ein konkretes die gesellschaftlichen Relationen regelndes Rechtsinstitut in einem Zusammenhang steht, wird im Text nicht eigens thematisiert. Da der Vertrag als Grundfigur jedoch explizit aus dem privatrechtlichen Archiv aktualisiert wird, liegt es nahe, eine Verbindung herzustellen, die dann dazu führt, den Vertrag zumindest der Anlage nach als ein den Staat organisierendes Grundverfahren zu profilieren – zumal es jeweils auch um die gleiche Funktion geht: um die Sicherung (ökonomischer) Interessen.32 In diesem Zusammenhang würde dann der Vertrag seinerseits zu einer Archivfigur, die das in ihm gespeicherte Wissen für die Profilierung dieses den Staat organisierenden Prinzips zur Verfügung stellen würde. Vorbereitet wird diese Perspektive schon durch eine Ökonomisierung des Menschen im ersten, der Anthropologie gewidmeten Teil des Leviathans, wie der vor allem auf die sozioökonomischen Fragestellungen konzentrierte Forschungsstrang zum Leviathan aufgezeigt hat. Der Hobbes’sche Leviathan formuliert schließlich nicht nur eine aus der Anthropologie begründete Staatstheorie, sondern ihm ist auch eine liberalistisch geprägte ökonomische Dimension inhärent, die den Blick auf das, was die Natur des Menschen kennzeichnet, nach und nach verengt: Ziel des Lebens, nämlich das Erlangen von Glückseligkeit, so heißt es im Leviathan an zentraler 29

30 31 32

Vgl. Hobbes, Leviathan, S. 133 und S. 146 f. Vgl. zur privatrechtlichen Einordnung des Hobbes’schen Gesellschaftsvertrags auch Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 1952, S. 159–187. Vgl. Hobbes, Leviathan, S. 162. Vgl. z. B. Hobbes, Leviathan, S. 110, S. 164 f., S. 176–179 und S. 193. Zum Konzept des Gesellschaftsvertrags ganz allgemein als ›rechtfertigungstheoretischen Prozeduralismus‹ vgl. Wolfgang Kersting, »Einleitung: Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan«, in: ders., Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Berlin 1996, S. 9–28, hier S. 23.

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Stelle, ist kein zu erreichender Zustand mehr im Sinne der klassischen Moralphilosophie, sondern ein »ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen«.33 Nicht das höchste Gut, sondern Güter interessieren den Hobbes’schen Menschen in seinem Streben nach Selbsterhaltung. Er verwandelt sich damit in einen hom*o oeconomicus, der sich komplementär zum hom*o juridicus verhält, erhält er doch als solcher wiederum erst das Recht an seinen ökonomischen Handlungen und durch die rechtliche Form, auch die Möglichkeit, ökonomisch zu handeln.34 Als Figur, die sich aus dem Archiv speist, ist der Vertrag damit aber immer auch in eine konkrete zeitliche Struktur eingebettet: in eine Vergangenheit, aus der sich die Handlung motiviert, und in eine Zukunft, auf die sie ausgerichtet ist. Mit anderen Worten: Macht man den Vertragsschluss zum Ausgangspunkt der Überlegung, so werden das ›Vorher‹ und das ›Nachher‹ zu einem Teil der Vertragsgeschichte, sie werden gewissermaßen in die Zeit, die die Vertragsfigur umspannt, hineinverlegt – und aktualisiert, sobald der Vertrag aus dem Archiv aufgerufen wird. Während das ›Nachher‹ eine vom Vertragsschluss aus berechnete/imaginierte Zeit ist, erweist sich das ›Vorher‹ des Vertrags bezogen auf den Gesellschaftsvertrag als Grund- und Anfangsfigur jedoch als Problem, denn an den Naturzustand kann es vom Vertragsschluss aus betrachtet gar keine ›Erinnerung‹ geben, schließlich handelt es sich um eine Fiktion, um – wie vor allem durch die staatsrechtliche Rezeption des Leviathans immer wieder gezeigt worden ist – die Vorstellung einer permanenten Bedrohung der Ordnung durch Gewalt und Anarchie, die Hobbes aus der anthropologischen Verfasstheit des Menschen ableitet und die durch den Vertragsschluss gebändigt werden soll. Diese Bedrohung trifft aber nicht nur den Souverän, sondern auch den Bürger bzw. Untertan und dessen ökonomische Interessen und Handlungen. Dem Vertrag als einem in der Gegenwart existierenden Akt wird also eine nur im Modell existierende Vergangenheit vorgelagert, aus der heraus sich der jeweilige Vertragsschluss begründet, eine ›Vergangenheit‹, die aber im Prinzip immer mit anwesend ist. Das heißt der Naturzustand und das ihn konstituierende Bedrohungsszenario ist gar nicht zeitlicher Ausgangspunkt des Ver33

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Hobbes, Leviathan, S. 75. Vgl. auch Herfried Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt am Main 22001, S. 90–91 oder – mehr als einschlägig dazu – Crawford B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus von Hobbes bis Locke, Frankfurt am Main 31990. Diese Lesart wendet sich damit explizit gegen die Privilegierung des Ökonomischen als das die Moderne bestimmende Paradigma – gerade in Abgrenzung zum Juridischen. Im Gegenteil, der Vertrag lässt sich vielmehr als eine Ermöglichungsfigur (Max Weber) des Ökonomischen in der Moderne verstehen, was aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, wie sich an den Kommentaren zum Vertrag im BGB zeigt, eine Selbstverständlichkeit ist. Vgl. dazu z. B. Manfred Wolf, »Dritter Teil: Vertrag«, in: Soergel. Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 2: Allgemeiner Teil 2. §§ 104–240, Stuttgart u. a. 1999, S. 369–404, hier S. 371. Zum historischen Wechselverhältnis von Vertrag und Ökonomie bzw. Handel (im Privatrecht) vgl. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht, München 1997, S. 208.

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trags, es ist mithin nicht nur eine argumentative, sondern auch eine narrative Notwendigkeit, die für den Gesellschaftsvertrag nötige Vorgeschichte, die den Vertrag motiviert, aber nicht seinen Entstehungsort bildet. Die zeitlich-narrative Struktur der Vertragsform ist also nicht nur Beiwerk. Das ›Vorher‹ und das ›Nachher‹ und die Transformation der Gewalt von einer anthropologischen, äußeren hin zu einer rechtlich legitimierten (in der engl. Fassung von ›force‹ zu ›power‹) sind vielmehr als Rahmung des Vertragsschlusses unabdingbar, da sonst der Vertragsschluss gar nicht als der zentrale, transformatorische Akt erkennbar wäre. Die narrative Struktur verwandelt den Vertrag zu einer zeitlichen Einheit und den über den Vertrag begründeten Vergesellschaftungsprozess in eine Metanarration.35 Im Gegensatz zu den ›Sensationsgeschichten‹ der römischen Rechtsgeschichte, die trotz der von ihnen gesetzten Zäsur einen Übergang zwischen dem ›Vorher‹ und dem ›Nachher‹ erzählen, vollzieht der Gesellschaftsvertrag damit einen epochalen Schnitt. Er setzt eine heuristische Vergangenheit gegen die historische. Er ›erfindet‹ eine Geschichte, die sich durch eine Formel aus dem Archiv begründet.

Vom Vertrag zur Formel: das kontraktuale Argument bei Rousseau und Kant 36 Ein grundlegendes Merkmal im Wandel von der Frühen Neuzeit zum Zeitalter der Aufklärung ist die zunehmende Bedeutung von Freiheit und Sittlichkeit als zentrale Kategorien der aufklärerischen Subjektbeschreibung, die entsprechend in die Semantik der Kontraktualismustheorien Einzug erhalten. Im 18. Jahrhundert muss die Idee eines grundlegenden Vertrags also so entworfen werden, dass sie den Menschen nicht nur als Rechts-, sondern auch als sittliches Subjekt hervorbringen kann, was natürlich erhebliche Konsequenzen für die Konzeptualisierung der souveränen Gewalt mit sich bringt. Im Zentrum des Contrat social von Rousseau steht entsprechend der Mensch als selbstbestimmter und freier Bürger. Aufgabe des Gesellschaftsvertrags ist es nun, eine rechtlich legitimierte gesellschaftliche Ordnung zu entwerfen, die diesen Bür35

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Vgl. dazu auch Thomas Hobbes, Elemente der Philosophie. Erste Abteilung. Vom Körper, Hamburg 1997, S. 102–103. Dort beschreibt Hobbes ganz allgemein die Zeit als Erscheinungsbild der Bewegung, das wir uns vorstellen können, sofern wir an der Bewegung ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹ wahrnehmen. Für ein veritables Archiv des Gesellschaftsvertrags müssten freilich noch eine ganze Reihe weiterer Autoren thematisiert werden, die aus Platzgründen hier jedoch unberücksichtigt bleiben, u. a. Samuel Pufendorf und John Locke: Ersterer, weil er am Konzept des Gesellschaftsvertrags als Herrschaftsvertrag weiterschreibt, Letzterer, weil er eine neue, nicht auf Vertrag gegründete Eigentumstheorie in den Kontraktualismus hineinträgt und damit zugleich die Vorstellung von unveräußerlichen Menschrechten formuliert, die auch gegen einen auf Vertrag gegründeten Staat behauptet werden müssen.

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ger denkbar macht und zugleich in seiner Freiheit, aber auch mit seinem Eigentum schützt.37 Diese grundlegende Rekonzeptualisierung wird durch Rousseaus spezifische Konstruktion des Souveräns ermöglicht, wenn er sich diesen als ›gemeinschaftliches Ich‹ in einem Gesamtkörper vorstellt. In dieser Konzeption, die im Prinzip das Hobbes’sche Autorisierungsmodell radikalisiert, weil die Einzelwillen nicht auf einen außerhalb stehenden Souverän übertragen werden, sondern zu einem Gemeinwillen zusammenfließen, kann die Freiheit des Einzelnen sichergestellt werden. Dies bedeutet, dass jeder als Glied des Souveräns an der Willensbildung des Souveräns, d. h. an der Gesetzgebung beteiligt ist. Die ›souveräne Gewalt‹ (frz. autorité souveraine) ist keine von außen kommende Gewalt.38 Vielmehr gehorcht der Einzelne, wenn er den Gesetzen gehorcht, immer nur seinem eigenen Willen. Bezeichnenderweise formuliert Rousseau die Frage der Rechtmäßigkeit als Suche nach der richtigen Form und präsentiert sie auf diese Weise als systematische Problemstellung: Finde eine Form des Zusammenschluss, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.39

Der Gesellschaftsvertrag wird im Folgenden als ›Lösung‹ gleich mit angegeben. Ausführliche Erklärungen, was unter einem Vertrag zu verstehen und warum der Vertrag die geeignete Form ist, finden sich – im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsvertragstexten und allen voran zum Leviathan – in Rousseaus Contrat social nicht. Vor allem durch den Titel wird der Referenzrahmen, in den sich die Schrift stellt, aufgerufen und die Rechtsfigur des Vertrags als das entscheidende Argument eingeführt. Im weiteren Verlauf des Textes wird mit großer Selbstverständlichkeit in Form von Anspielungen und kritischen Auseinandersetzungen auf das Archiv kontraktualistischer Theorien zurückgegriffen.

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38

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Trotz aller sonstigen Ökonomiekritik wird das Vertragsargument von Rousseau wie bei Hobbes und dann vor allem bei Locke explizit mit dem des Eigentums verbunden. Reinhard Brandt zufolge steht der Schutz des Eigentums jedoch nicht zwangsläufig im Widerspruch zum Streben nach Sittlichkeit, sondern ist gemäß der antiken Güterlehre, der zumindest Locke und Rousseau an dieser Stelle folgen, zwingend. Vgl. Reinhard Brandt, »Menschenrechte und Güterlehre«, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel 1981, Berlin, New York 1982, S. 79–106. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 2003, S. 29. Zu der souveränen Gewalt, frz. ›autorité souveraine‹, gehören, das macht auch der frz. Text immer wieder deutlich, eine ›force‹ und eine ›volonté‹ bzw. eine ›puissance législative‹ und eine ›puissance exécutive‹, die aber nicht als schiere Gewalt (violence), sondern durch die Gesetze wirkt. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, Paris 2001, S. 67 und S. 91. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 17.

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Dazu passt auch, dass der Gesellschaftsvertrag anthropologisch begründet wird. Allerdings – auf diesen Unterschied zu früheren Gesellschaftsvertragstexten hat die Forschung immer wieder verwiesen – entwickelt Rousseau seine Anthropologie im Contrat social nicht durch den Rekurs auf einen systematisch entfalteten Naturzustand und ein damit verbundenes Bedrohungsszenario. Im Gegenteil, Rousseaus Naturmensch ist ein soziales Wesen und Freiheit wird mit dem berühmten ersten Satz des ersten Kapitels »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten«40 als anthropologische Konstante gesetzt und zugleich als dem Menschen im Laufe der Geschichte abhanden gekommenes Gut ausgestellt – mit dem Effekt, dass das für den Vertrag konstitutive Moment der Gewalt (im frz. Original ›force‹) Resultat der Vergesellschaftung ist und der Fokus sich im weiteren Verlauf des Textes auf die kritische Betrachtung dieser Vergesellschaftungsprozesse richtet, insofern sie durch das ›Recht des Stärkeren‹ bestimmt werden, und nicht auf einen wie auch immer gearteten Naturzustand. Die Geschichte der Vergesellschaftung wird also als eine Verfallsgeschichte erzählt, für die der Vertrag das passende Gegenmittel zu sein scheint.41 Eingebettet in diese Metanarration entfaltet der Vertrag jedoch hinsichtlich der zeitlichen Abfolge, d. h. des ›Vorher‹ und des ›Nachher‹, seine ganz eigene narrative Logik: In dem Moment, in dem die Figur des Gesellschaftsvertrags als Argument eingeführt wird – dies geschieht im sechsten Kapitel des ersten Buches – wird auch sein ›Vorher‹, der Naturzustand, thematisiert, beginnt dieses Kapitel doch mit einer, wenn auch stark zusammengeschrumpften Miniaturskizze des Naturzustandes. Dies ist bemerkenswert, da die Annahme eines Naturzustandes, in dem die Menschen sich aus freiem Willen zusammenschließen, nicht zu der zuvor skizzierten Verfallsgeschichte über die verlorene Freiheit passt und die zeitliche Struktur des Gesellschaftsvertrags zuvor schon durch die systematisch formulierte Problemstellung ausgehebelt zu sein schien. Die Figur des Gesellschaftsvertrags droht aus dieser Perspektive in Rousseaus Abhandlung – so paradox das klingen mag – zu einem Fremdkörper zu werden.42 Dies lässt die dem Vertrag eigene narrative Logik jedoch nur deutlicher hervortreten, zumal in dieser Miniaturskizze der Naturzustand dann auch von ›Gewalt‹ gekennzeichnet ist, wenn auch nicht von einer anthropologisch motivierten, so doch von nicht näher bestimmten ›Kräften‹, denen die Menschen allein nicht mehr trotzen können. Der Gesellschaftsvertrag bedarf offenbar eines spezifischen ›Vorher‹, aus dem er hervorgeht und das er 40 41

42

Ebd., S. 5. Zum Verhältnis von Naturzustand und systematischer respektive geschichtsphilosophischer Perspektive im Contrat social vgl. Karlfriedrich Herb, »Zur Grundlegung des Vertragsproblems«, in: Reinhard Brandt (Hg.), Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin 2000, S. 27–43. Vgl. dazu auch Kersting, der den Vertrag als »ein völlig verfehltes Symbol für die Republik« bezeichnet, wenn Rousseau das rationale Vertragsargument mit einem moralisch motivierten Demokratiemodell von Herrschaft verbinden will. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 167.

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ablösen wird, eines ›Vorher‹, welches das Archiv als Topos des Naturzustandes bereithält und einspeist, selbst wenn es systematisch gesehen überflüssig und inkompatibel mit der schon entworfenen Metanarration ist. Ähnlich verquickt verhält es sich mit dem ›Nachher‹, der rechtmäßigen bürgerlichen Ordnung, die durch den Gesellschaftsvertrag etabliert werden soll, ist sie doch nicht nur durch die politische, sondern auch die sittliche Freiheit des Menschen gekennzeichnet. Zentral für Rousseaus Ethik ist die Vorstellung, dass Sittlichkeit nicht in einer durch die Vernunft gesteuerten Normerfüllung, sondern auch in einer Treue zu sich selbst liegt, die ihren Weg in die Forschung mit dem Topos des ›Authentischen‹ gefunden hat. Diese Selbstbezüglichkeit, in der sich einmal mehr Rousseaus Affinität zur Stoa zeigt, ist aufgrund der beiden ursprünglichen Gefühle der Selbstliebe (amour de soi) und des Mitleids (pitié) schon vor aller Reflexion und Vernunft auch im ›natürlichen‹ Menschen angelegt. Zu ihrer explizit sittlichen Entfaltung gelangt sie jedoch erst, wenn sie durch die Vernunft geleitet werden. D. h. das Rousseau’sche Ideal der Sittlichkeit liegt in der Fähigkeit und Reflexion, entsprechend seinen Wünschen handeln zu können, wobei es nicht so sehr um ein durch Interesse geleitetes Handeln geht, sondern auch um ein Handeln in Übereinstimmung mit sich selbst.43 Im Contrat social wird die Frage des Sittlichen als Treue zu sich selbst nicht ausdrücklich entwickelt, wohl aber die Selbstbezüglichkeit der sittlichen Freiheit. Dies geschieht im achten Kapitel des ersten Buches, das der bürgerlichen Ordnung gewidmet ist. Grundbedingung des Sittlichen ist, dass die natürliche Freiheit in eine politische und sittliche transformiert wird, denn erstere hängt im Naturzustand von den physischen Möglichkeiten des natürlichen Menschen ab und wird eher durch seine Gelüste und Instinkte bestimmt als durch den Willen. Dieser Prozess der Umwandlung tritt Rousseau zufolge mit dem Übergang vom Naturzustand in die bürgerliche Ordnung ein. Der Contrat social erzählt also eine Transformationsgeschichte, in der sich der ›Mensch‹ von einem »stumpfsinnigen und beschränkten Tier« zu einem »intelligente[n] Wesen und […] Menschen« entwickelt.44 In einem ersten Schritt wird dabei durch den Gesellschaftsvertrag die natürliche Freiheit in eine bürgerliche Freiheit verwandelt. Frei ist der Mensch dann im politischen Sinne, weil er als Glied des Souveräns an der Gesetzgebung beteiligt ist und immer nur sich selbst gehorcht. Wirklich frei ist er jedoch erst, so Rousseau, wenn er ganz ›Herr seiner selbst‹ ist, d. h. wenn er auch nicht mehr durch die Sklaverei seiner Begehren regiert wird, sondern allein durch seinen Willen. Diese sittliche Freiheit ›fügt‹ sich Rousseau zufolge in einem zweiten Schritt der bürgerlichen noch hinzu. Wie sie aber genau aus dem Gesellschaftsvertrag ableitbar ist, bleibt offen. Die narrative Logik 43

44

Vgl. Dieter Sturma, Jean-Jacques Rousseau, München 2001, S. 60–62, S. 100 und Christian Moser, »Prüfungen der Unschuld: Zeuge und Zeugnis bei Kleist und Rousseau«, in: Tim Mehigan (Hg.), Heinrich von Kleist und die Aufklärung, Rochester (NY) 2000, S. 92–112. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 22.

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des Vertrags, eingebettet in eine geschichtsphilosophische Perspektive, kann eine solche Transformation nahelegen, aber nicht erklären. Die bürgerliche Freiheit scheint dem Menschen jedoch erst die Bedingungen und den Raum für sittliches Handeln zu geben, denn erst wenn der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag von ihm fremden äußeren Zwängen befreit ist, kann er überhaupt den Willen zum grundlegenden Maßstab seines Handelns werden lassen. Der Gesellschaftsvertrag liefert letztlich vor allem aber das Modell, nach dem sittliche Freiheit beschrieben wird, denn bürgerliche und sittliche Freiheit werden – die Körpermetaphorik zur Beschreibung des Souveräns macht dies möglich – nach dem gleichen Herrschaftsmodell konzipiert. Auch der sittlich Freie zeichnet sich dadurch aus, dass er Souverän seiner selbst ist, d. h. dass er nur »gegen das selbstgegebene Gesetz«45 gehorsam ist. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies, dass die souveräne Gewalt damit in die Subjektformierung hinein verlegt wird. Als letzte große Kontrakttheorie, die gleichzeitig auch das Ende der Kontrakttheorien markiert, gilt Kants Rechtslehre. Auch sie rekurriert auf die »Idee des ursprünglichen Vertrags«46 zur Einführung und Regulierung der staatlichen Gewalt. Im Fokus der Kantischen Rechtslehre stehen aber nicht mehr die Legitimation des Souveräns oder die Selbsterhaltung des Einzelnen. Kants Rechtslehre ist auch nicht mehr im traditionellen Sinne naturrechtlich fundiert. Vielmehr geht es, wie es der Titel Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre nahelegt, um eine transzendentale Begründung des Rechts und damit ähnlich wie bei Rousseau, allerdings in radikalerer Form, um die Frage, wie sich die Annahme eines sittlichen Individuums mit dem Recht als notwendigem Zwangsprinzip vereinbaren lässt. Recht wird von Kant durch das ›Postulat der Vernunft‹ als notwendiges Prinzip dargestellt, das dafür sorgt, dass jedem ›sein Recht‹ zukommt. Zugleich formuliert es in Form von Gesetzen Verbindlichkeit als ›äußerliche‹ Pflicht des Menschen.47 Um die Konstitution eines allgemein verbindlichen Rechts, d. h. in der Kantischen Diktion eines öffentlichen Rechts,48 zu erläutern, geht Kant, darin den Kontrakttheorien des 17. und 18. Jahrhunderts verwandt, von der Annahme eines Naturzustandes aus, der in der Rechtslehre natürlich kein anthropologischer oder gar entwicklungsgeschichtlicher Ausgangspunkt mehr ist, sondern nur noch a pri45 46

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Ebd., S. 23. Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster Teil, Hamburg 21998, S. 137. Kant schließt dabei an die Grundproblematik früherer Kontrakttheorien an, insofern auch er es als eine der zentralen Aufgaben des Rechts ansieht, die Frage des Eigentums zu regeln, d. h. das provisorische und konfliktuöse ›Mein‹ und ›Dein‹ des Naturzustandes in ein rechtlich geregeltes äußerliches ›Mein‹ und ›Dein‹ zu überführen. Vgl. dazu Ottfried Höffe, Immanuel Kant, München 4 1996, S. 218. Öffentliches Recht ist bei Kant veröffentlichtes Recht, d. h. Recht, das aufgrund seines öffentlichen Charakters allgemeinverbindlich ist. Es umfasst das gesamte positive Recht.

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ori gesetzt wird. Das Verlassen dieses Zustandes und der Eintritt in einen bürgerlichen Staat ist im Sinne des Vernunftpostulats moralische Pflicht und nicht mehr rationales Kalkül. Entsprechend wird dieses Verlassen auch nicht mehr anhand der Vertragsfigur konkretisiert oder gar erzählt. Dennoch wird der Vertrag in der Rechtslehre nicht irrelevant, auch wenn er gewissermaßen auf die Formel von der ›Idee des ursprünglichen Vertrags‹ zusammenschrumpft. Im Gegenteil, gerade in dieser Formelhaftigkeit erweist er sich als Bezugsform aus dem Archiv, wäre er doch sonst an vielen Stellen aufgrund der elliptischen Rede gar nicht verständlich. Erst im zweiten Teil der Metaphysischen Anfangsgründe wird die ›Idee des ursprünglichen Vertrags‹ das erste Mal explizit genannt und das einzige Mal überhaupt ausgeführt, nachdem zuvor im ersten Teil schon mehrmals auf sie angespielt worden ist: Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ur sp r üng l i che Ko ntr a kt, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d.i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d.i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.49

Die Rede von der ›wilden, gesetzlosen Freiheit‹ macht zudem deutlich, dass nach wie vor narrative Mikroeinheiten zur Formelhaftigkeit der ›Idee‹ dazu gehören. Sie schreiben dem Vertrag ein Gewaltszenario ein, das sich bei Kant eher an Hobbes denn an Rousseau anlehnt, aus dem vor allem aber eine heuristische Handlungsund damit auch Zeitstruktur abgeleitet wird, ohne die offenbar auch Kants Rechtslehre den Vertrag nicht motivieren kann.50 Im Rahmen der Rechtslehre ermöglicht es die ›Idee des ursprünglichen Vertrags‹, die Figur des gemeinschaftlichen Willens einzuführen. Strukturell betrachtet funktioniert der Kantische ›ursprüngliche Vertrag‹ damit nicht anders als der Gesellschaftsvertrag früherer Kontrakttheorien, nämlich als Vereinigung mehrerer Willen zur wechselseitigen ›Begrenzung‹ der Freiheit. Er wird durch die transzendentale Wendung nur anders systematisiert.51 Kant löscht alle empirischen, historiographischen und anthropologischen Konnotationen und entwirft den Vertrag, indem er ihn als Idee a priori setzt, als ein »die fundamentalen Prinzipien des Ver-

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Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 134 f. Vgl. dazu auch Höffe, Immanuel Kant, S. 227. Vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 203 und S. 208.

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nunftrechts ausbuchstabierendes Verfahrensmodell«.52 Dieses kann Rechtsverbindlichkeit und Gerechtigkeit als Bedingung des Vernunftstaates allein über die Form herstellen, d. h. ohne materielle Normen festzulegen. Die schon durch Hobbes’ Leviathan nahegelegte Überlegung, den Vertrag als ein innerstaatliches Organisations- und Regulierungsprinzip zu lesen, wird bei Kant radikalisiert – bis zu dem Punkt, dass in den Metaphysischen Anfangsgründen selbst jeglicher Bezug auf das konkrete Rechtsinstitut durch den Verweis auf seinen Status als ›Idee‹ abgewehrt wird. Dennoch handelt es sich um eine Idee, »die ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat«53, wie Kant an anderer Stelle selbst schreibt. Diese drückt sich indirekt durch den Archivbezug aus, der auch noch die ›Idee des ursprünglichen Vertrags‹ an die privatrechtliche Figur rückbindet, zumal die Metaphysischen Anfangsgründe selbst am Archiv des privatrechtlichen Vertrags mitschreiben.54 Die ›Idee des ursprünglichen Vertrags‹ ist aber auch von praktischer Relevanz, insofern sie, und darauf zielt Kants Formulierung eigentlich ab, als regulatives Verfahren fungiert, das den Gesetzgeber auf die Annahme eines gemeinschaftlichen Willens hin verpflichtet. Von diesem wird nämlich gefordert, seine Gesetzgebung einer kontinuierlichen Anpassung an den gemeinschaftlichen Willen zu unterziehen. Mit anderen Worten: Sie erlaubt es, die Einrichtung des Staats darauf hin zu betrachten, ob jeder Bürger im Staat zu seinem Recht kommt – freilich ohne dass daraus im gegenteiligen Fall ein Recht auf Widerstand entstünde, schließlich geht es um die ›Bändigung‹ der Gewalt durch das Recht. Ausgehend von Kants Metaphysischen Anfangsgründen liest sich die Figur des Gesellschaftsvertrags also explizit als Reflexion des Spannungsfeldes zwischen Staat und Bürger im Sinne eines Rechtsverhältnisses.

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Ebd., S. 210. Immanuel Kant, »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis«, in: ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis. Zum Ewigen Frieden, Hamburg 1992, S. 1–48, hier S. 29. Im zweiten Hauptstück des ersten Teils zur Rechtslehre wird eine Systematisierung des Privatrechts vorgelegt, in der das Vertragrecht neben dem Sachenrecht und dem Familienrecht als zentrales Recht firmiert. Es regelt den Erwerb von Eigentum, damit aber auch ganz grundsätzlich die Beziehung von Personen zueinander. In diesem Sinne schließt es an den durch die naturrechtliche Debatte maßgeblich voran getriebenen Systematisierungsprozess des im rechtswissenschaftlichen Sinne privatrechtlichen Vertragsbegriffs an, auch wenn Kant mit seinem Begriff des Privatrechts zunächst das Recht meint, das a priori im Naturzustand angenommen werden kann, das also gerade nicht allgemein verbindlich ist, sondern das jeder für sich unabhängig von Anderen in Anspruch nimmt. Dieses Privatrecht enthält aber nicht grundsätzlich anderes Recht als das öffentliche Recht, sondern es unterscheidet sich von diesem durch die Form, nämlich den ›privaten‹ Charakter. Vgl. Gertrude Lübbe-Wolf, »Begründungsmethoden in Kants Rechtslehre, untersucht am Beispiel des Vertragsrechts«, in: Brandt (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 286–310.

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Kleists Michael Kohlhaas: Der Vertrag zwischen Formel und Gefühl Nicht zuletzt durch Kant erlebt die ›Idee eines ursprünglichen Vertrags‹ um 1800 einen neuen Höhepunkt. Sie ist nicht nur in Philosophie, Recht und Literatur präsent, sie erfährt zudem eine Ausdifferenzierung, die sie wieder dem konkreten privatrechtlichen Rechtsinstitut annähert, wie sich an Kleists Erzählung Michael Kohlhaas aufzeigen lässt. Die Erzählung handelt bekanntlich von einem Rechtsfall aus dem 16. Jahrhundert, der aber auch vor dem Hintergrund der um 1800 debattierten Rechtsfragen zu lesen ist. Es geht darum, wie Kohlhaas versucht, sich durch einen Fehdezug mit Gewalt das Recht zu verschaffen, das ihm auf dem Rechtsweg durch die Instanzen verweigert worden ist. In einer der Schlüsselszenen, in dem berühmten Gespräch mit Luther, verteidigt er sich gegen den Vorwurf, einen ›eigenmächtigen‹ und ›ungerechten‹ Krieg zu führen, indem er auf das zwischen ihm und dem Staat zerbrochene Rechtsverhältnis verweist und dies bezeichnenderweise im Rückgriff auf die ›Idee des Gesellschaftsvertrags‹ begründet. Konkret geschieht dies der narrativen Logik des Gesellschaftsvertrags folgend in Form einer kleinen allegorischen Erzählung: Verstoßen […] nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! Denn dieses Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich; ja er ist es, dessenhalb ich mich, mit dem Kreis dessen, was ich erworben, in diese Gemeinschaft flüchte; und wer mir ihn versagt, der stößt mich zu den Wilden der Einöde hinaus; er gibt mir, wie wollt Ihr das leugnen, die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand.55

Die Idee des Gesellschaftsvertrags wird zwar nicht eigens erwähnt, aber geradezu topisch durch die Rede vom Schutz der Gesetze auf der einen Seite und dem Wilden der Einöde, der sich selbst verteidigen muss, auf der anderen als Formel aus dem Archiv aufgerufen. Dass es sich bei Kohlhaas’ Rekurs auf den Gesellschaftsvertrag um ein rhetorisches Argument handelt, zeigt sich schon in dessen Redegestus. Durch das vehemente ›nenn ich‹ nimmt er die Definitionsmacht für sich in Anspruch und bestimmt selbst, inwiefern es sich um einen ›Vertragsbruch‹ handelt. Zudem ist diese kleine Erzählung paradoxerweise absolut gegenwartsbezogen – trotz der narrativen Logik, die ein Nacheinander suggeriert. Sie verwendet als Erzählzeit durchgängig das Präsens und fungiert damit als Erläuterung des aktuellen Zustandes. Die Tempuswahl zeigt, dass das Argument des Gesellschaftsvertrags ein permanent wirkendes Schutzprinzip einklagt und die Gewaltanwendung rechtfertigt, nicht aber die Narration eines geschichtlichen Vergesellschaftungsprozesses oder gar die Erzählung einer vermeintlich erlebten Vergangenheit darstellt. 55

Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. von Helmut Sembdner, München 2001, S. 9–103, hier S. 45.

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Nicht minder wichtig ist Kohlhaas’ Erklärung, warum dieser Schutz für ihn so wichtig ist, wird doch durch den Verweis auf sein ›friedliches Gewerbe‹ der Konnex von Gesellschaftsvertrag und Ökonomie aufgerufen. Dieser schon im Archiv etablierte Konnex ist von Anbeginn der Erzählung präsent. Wendet man sich nicht nur dem inzwischen sprichwörtlich gewordenen ersten Satz, sondern auch dem zweiten und dritten zu, so liest man in einer Reihe von Kohlhaas als ›Roßhändler‹, ›Staatsbürger‹ und Gewerbe treibenden ›Besitzer eines Meierhofes‹. Als solcher ist er freier Bürger, der sich, wie spätestens das Gespräch mit Luther deutlich macht, durch die ›Idee eines ursprünglichen Vertrags‹ an seine Obrigkeit gebunden fühlt, der aber als Händler gewissermaßen selbst davon lebt, dass er Verträge schließt – und genau diese Möglichkeit des Handelns wird durch den Junker Wenzel von Tronka bedroht, der ihm beim Übertritt vom Brandenburgischen nach Sachsen einen Passschein abverlangen lässt: Dieser sei durch eine vermeintlich neue landesrechtliche Verfügung notwendig geworden. Als Kohlhaas den Passschein nicht vorweisen kann und die Situation zu eskalieren droht, bietet er den Rittern seine Pferde zum Kauf an. Er macht ihnen im Grunde also ein ›Vertragsangebot‹, um den Konflikt zu lösen, ein Angebot, auf das der Junker jedoch nicht eingeht. Stattdessen nötigt er Kohlhaas, seine Pferde als Pfand dazulassen. Kohlhaas, der sich auf dieses Prozedere einlässt, versteht das Angebot des Junkers – wie sich im weiteren Verlauf der Erzählung zeigt – als Pfandvertrag, dem zufolge der Junker für die Erhaltung des Kohlhaas’schen Eigentums verantwortlich ist. Diese rechtliche Perspektive übernimmt Letzter bekanntlich nicht – im Gegensatz zu Kohlhaas, der bei seiner Rückkehr die Rücknahme verweigert, da er bezweifelt der Besitzer dieser ›abgehärmten Mähren‹ zu sein, die nicht den Wert der von ihm zum Pfand zurückgelassen Pferde hätten.56 War Kohlhaas bis dahin der Willkür des Junkers durch seine Bereitwilligkeit begegnet, Verträge einzugehen, so wechselt er nach diesem Vertragsbruch seine Verfahrensweise und versucht in der Folge auf dem durch das Gesetz vorgegebenen Weg durch die Instanzen sein Recht zu erhalten. Dieser Weg scheitert nicht zuletzt aufgrund der Intrigen des Junkers und seiner Familie, die dazu ihre Positionen in Regierungskreisen ausnutzen. Am Schlagbaum treffen damit im übertragenen Sinne auch zwei Staats- und Rechtsauffassungen aufeinander: auf der einen Seite eine, die sich vom Status ableitet und dem Prinzip der landesherrlichen Obrigkeit folgt, und auf der anderen Seite die des Vertrags, für die das Prinzip der Staatsbürgerlichkeit und damit der Gleichheit vor dem Gesetz und der Rechtssicherheit gilt und die Gewalt nur als vom Staat ausgehende, nicht aber als eine vom Status abge-

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Vgl. Kleist, Michael Kohlhaas, S. 12–15. Zum Pfandrecht im Allgemeinen Landrecht für die Preussischen Staaten vgl. Klaus-Michael Bogdal, Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas, München 1981, S. 91 f.

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leitete akzeptiert.57 Aus dieser Konfrontation resultiert der weitere Handlungsverlauf. Erst als Kohlhaas mit seiner Staats- und Rechtsauffassung scheitert, schlägt er seinen persönlichen ›Rechtsweg‹ ein, d. h. er beginnt im Gestus einer mittelalterlichen Fehde zu agieren, veröffentlicht in Mandaten und Rechtsschlüssen sein Begehren, Schadensersatz durch den Junker zu erhalten, und sucht es im Anschluss durch Gewaltandrohung und schließlich Gewaltanwendung zu erreichen – wobei er sich auch immer wieder auf vertragliche Einigungen und damit auf eine erneute Übertragung des Gewaltmonopols einlassen wird, wie z. B. im Rahmen des von Luther vermittelten Amnestieabkommens zwischen ihm und dem Kurfürsten. Der erste Teil der Erzählung wird in weiten Teilen durch Vertragssituationen strukturiert.58 Sie rekurrieren allesamt zunächst auf den Vertrag als konkret angewendetes Rechtsinstitut, sei es als Pfand- oder Kaufverträge oder als eine Art Amnestieabkommen. Ihren Zusammenhalt erhält diese Vertragsstruktur auch im Sinne einer Handlungs- und Textstruktur aber erst durch den Rückbezug auf den Gesellschaftsvertrag. Mit anderen Worten: Die konkreten Verträge setzen die Idee des Gesellschaftsvertrags fort, sie sind seine ›praktische Realität‹. Der Vertrag ist damit nicht nur eine dem Recht zugrunde liegende ursprüngliche Idee, die dem Einzelnen Rechtssicherheit und Verbindlichkeit sichert, der Vertrag wird in Kohlhaas’ Händen auch zu einem konkreten Handlungsinstrument, dessen sich der Einzelne als Staatsbürger bedient, im Alltag und im Konfliktfall, gegenüber seinesgleichen, aber auch gegenüber der Staatsgewalt. Es ist seine Möglichkeit, sich mittels der durch den Staat bereitgestellten Rechte an der Schaffung von Rechtsverhältnissen und der Lösung von Konflikten zu beteiligen. In diesem Sinne liest sich dann auch die aus dem ersten Satz der Erzählung viel zitierte Beschreibung des Kohlhaas als ›rechtschaffenster‹ Mensch seiner Zeit, die eben nicht nur als ein Verweis auf seine Redlichkeit zu lesen ist, sondern durchaus auch im wörtlichen Sinne als eine Anspielung auf sein Verhältnis zum Recht. Wenn Kohlhaas zugleich auch ›entsetzlich‹ genannt wird, so antizipiert dies sein weiteres Vorgehen gegen den Junker. In der Forschung ist viel diskutiert worden, inwieweit der Rachefeldzug des fiktiven Kohlhaas rechtshistorisch betrachtet als Fehdezug bezeichnet werden kann: ob die einzelnen Maßnahmen einer Fehdehandlung entsprechen, ob Kohlhaas als bürgerliche Figur berechtigt ist, eine Fehde zu führen, und ob die Fehde in der Zeit, in der die Erzählung angesiedelt ist, überhaupt noch

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Diese Überlegung folgt dem in der Soziologie und in der Rechtswissenschaft für die Moderne längst einschlägigen Diktum von H.S. Maine ›from status to contract‹. Vgl. Henry Sumner Maine, Ancient Law. Its Connection With The Early History Of Society, And Its Relation To Modern Ideas, New York 31864, S. 165. Zur narrativen Funktion der Vertragsstruktur im Kohlhaas vgl. Timothy J. Mehigan, Text as contract. The nature and function of the narrative discourse in the Erzählungen of Heinrich von Kleist, Frankfurt am Main 1988, S. 273 f.

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ein legitimes Rechtsmittel ist.59 Unabhängig davon, inwiefern das Erzählte mit den rechtshistorischen Gegebenheiten übereinstimmt – und Kleists Texte sind ja häufig durch diskursive Widersprüche gekennzeichnet –, zeigt der Blick in den Text, dass die Figur Kohlhaas ihr Handeln durchaus für legitim hält. Sie verweist nicht nur auf den gebrochenen Gesellschaftsvertrag, sondern sie rekurriert, zumindest dem Gestus nach, konsequent auf Rechtsformen und -mittel wie das Mandat und den Rechtsschluss, mit dem Effekt, dass ihr Handeln als ein an rechtlichen Verfahren orientiertes Handeln dargestellt wird. Nur sind es dieses Mal Verfahren und Rechte, die Kohlhaas sich selbst zuspricht. Wenn sich Kohlhaas’ Gewaltexzess als ein durch Rechtsinstitute gelenktes Vorgehen zeigt, kollabiert die auf Basis der Kontraktidee eingeführte Unterscheidung von anthropologisch motivierter Gewalt und struktureller, durch den Staat ausgeübte Rechtsgewalt. Das historische Rechtsinstrument der Fehde zeigt sich vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Rechtsdiskurses um 1800 gewissermaßen als Kantisches Privatrecht, das von Natur aus konfliktuös ist und deshalb schnell der ›Keule eines Wilden‹ gleicht, wenn es nicht durch ein allgemein verbindliches Recht gebändigt und mittels der Kontraktidee in allgemeines Recht übersetzt wird. Kohlhaas gibt sich also durch und durch als ein Mensch des Rechts und des Vertrags zu lesen, selbst in seinem Rachefeldzug, den er zwischenzeitlich durch vertragliche Vereinbarungen aussetzt. Bemerkenswerterweise wird Kohlhaas’ besonderer Bezug zum Recht nicht – wie für die Kontrakttheorien typisch – durch den Rekurs auf die Vernunft, sondern auf das Gefühl begründet, auf sein ›Rechtsgefühl‹, das gleich zu Beginn der Erzählung als Movens seines Handelns benannt wird und das zu einer schon mit Rousseau und Kant eingeläuteten Resemantisierung der Vertragsfigur führt. Sie ist nicht mehr allein Resultat eines rationalen Kalküls, sondern nun auch Ausweis eines sittlichen und gerechten Verfahrens, weil sie offenbar ihr Fundament im Gefühl findet, »im Rechtsgefühl, das [bei Kohlhaas] einer Goldwaage glich«.60 In der rechtstheoretischen Debatte ist der Begriff des Rechtsgefühls um 1800 nicht lexikalisiert. Im Gegenteil, als kategorialer Begriff einer juridischen Debatte ist das Rechtsgefühl im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anzusiedeln, einer Debatte, die bezeichnenderweise immer wieder auf Kleists Michael Kohlhaas als angeblich erste Fundstelle dieses Wortes rekurriert.61 Aber mit Blick auf die Historische Schule und die politische Romantik (und nicht zuletzt auch auf Adam Müller) lässt sich das Gefühl auch für den Beginn des 19. Jahrhunderts als ein für die Rechtsbildung relevanter Ort ausmachen, wenn das Recht als organisch gewachsenes vorgestellt wird, das sich im Volksgeist und in den Volks-

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Dazu und auch allgemein zur Rechtsthematik im Kohlhaas vgl. Bernd Hamacher, »Michael Kohlhaas«, in: Ingo Breuer (Hg.), Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2009, S. 97–106. Kleist, Michael Kohlhaas, S. 14. Vgl. z. B. Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl. Rechtspsychologische Betrachtungen, München 1946, S. 3 f.

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überzeugungen ausdrückt oder als Idee zur Natur des Menschen gehört und entsprechend nicht nur rational erfasst, sondern auch empfunden werden kann.62 Im Rückgriff auf die für die Romantik und die Historische Schule so wichtigen Autoren Rousseau und Herder ließe sich für dieses offenbar zur menschlichen Natur gehörende Rechtsgefühl zudem eine der Vernunft vorausgehende Selbstbezüglichkeit profilieren, die sich in Rousseaus ›amour de soi‹ bzw. in seiner Sorge um die Selbsterhaltung ausdrückt, von Herder explizit als ein im Gefühl liegender Selbstbezug formuliert wird63 und die nun nicht nur sittlich (Rousseau) oder ästhetisch (Herder), sondern auch juridisch aufgeladen wird.64 Die Missachtung des Rechts wird damit auch immer eine Bedrohung des Selbst, weil aufgrund dieser Selbstbezüglichkeit eine rechtliche Schädigung immer auch eine Verletzung bzw. Beleidigung der Person ist, und »der Beleidigte«, so ist bei Rousseau zu lesen, »mit dem Schaden, der ihm aus einer Unrechtstat entst[eht], die Verachtung seiner Person verbunden s[ieht]«.65 In der Konsequenz sühnt er die Missachtung mit ›Racheakten‹ »in einer Weise […], die der Bedeutung [entspricht], die er sich selbst [beimisst]«.66 Kohlhaas’ Fehdezug wäre aus dieser Perspektive dann nicht nur als ein authentisches, weil in seinem Selbst begründetes Handeln lesbar, sondern er wäre vor allem auch ein Kampf um dieses eigene Selbst.67 Die Kleist’sche Erzählung endet nun aber nicht mit einem gelungenen Vertragsabschluss, sondern nach vielen weiteren Verwicklungen, Intrigen, gebrochenen Rechtsverhältnissen und den Kleist’schen Zufällen mit dem Gerichtstag, an dem Kohlhaas’ Klage, aber auch sein Landfriedensbruch verhandelt werden. Die Frage, 62

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Vgl. Adam Müller, Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen, Berlin 1968, S. 30 f. und Friedrich Carl von Savigny, »Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«, in: Jacques Stern (Hg.), Thibaut und Savigny. Zum 100jährigen Gedächtnis des Kampfes um ein einheitliches bürgerliches Recht für Deutschland. 1814–1914, Berlin 1914, S. 69–166, hier S. 74–78. Zum Konnex von Recht, Gefühl und Sittlichkeit ausgehend von Kants Metaphysik der Sitten vgl. auch Joachim Rückert, »… der Welt in der Pflicht verfallen... Kleists ›Kohlhaas‹ als moral- und rechtsphilosophische Stellungnahme«, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 375–403. Zum Konnex von Vertrag und Gefühl vgl. Sigrid G. Köhler, »Der Vertrag als ›Technik‹, ›Gefühl‹ und ›Idee‹. Kontraktualismus und postsouveräne Regierungskunst bei Michel Foucault, Heinrich von Kleist und Adam Müller«, erscheint in: Arne de Winde, Sientje Maes, Bart Philipsen (Hg.), Staatssachen / Matters of State. Fiktionen der Gemeinschaft im langen 19. Jahrhundert, Heidelberg 2011. Johann Gottfried Herder, »Von der Ode (Dispositionen, Entwürfe, Fragmente)«, in: ders., Werke, Bd. 1: Frühe Schriften. 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt am Main 1985, S. 66. Zur Relevanz des Rechtsgefühls bei Kleist vgl. auch Peter Michelsen, »Die Betrogenen des Rechtgefühls. Zu Kleists ›Die Familie Schroffenstein‹«, in: Kleist-Jahrbuch 1992, S. 64–80. Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Stuttgart 1998, S. 82. Ebd. Vgl. auch Kant, Metaphysische Anfangsgründe des Rechts, S. 54 f. Kant schreibt dort, dass die Missachtung des Eigentumsrechts eine ›Läsion‹ der Person sei. In seinem Beitrag zur Debatte um das Rechtsgefühl stellt Jhering nicht zuletzt mit Verweis auf Kleists Kohlhaas den Zusammenhang von Recht und Person in diesem Sinne da. Vgl. Rudolf von Jhering, Der Kampf um’s Recht, Wien 1872, S. 25–28 und S. 67–69.

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ob Kohlhaas’ Verurteilung dabei als Scheitern oder doch als Sieg des Rechtssubjekts zu bewerten ist, führt in eine Paradoxie, denn durch die Verurteilung wird Kohlhaas ja in gewisser Weise rehabilitiert68, auch wenn er dies mit seinem Leben bezahlt. Die Verwicklungen bis zu seinem Tod machen jedoch deutlich, dass sich eine von Menschen gemachte Ordnung nicht allein durch die ›Idee des ursprünglichen Vertrags‹ einrichten lässt, auch wenn der Vertrag unverkennbar eine Errungenschaft der modernen Staatsbürgerlichkeit ist. Sein Scheitern zeigt – und dies ist die ›entsetzliche‹ Kehrseite einer solchen Rechtschaffenheit –, dass der Mensch mit auf dem Spiel steht, wenn das moderne Subjekt sich selbst in seiner Sittlichkeit als hom*o juridicus begreift und seine Souveränität wie auch seinen Selbstbezug allein durch den Rekurs auf eine Rechtsfigur gründet. Die Gefahr dieser strukturellen Gewalt scheint Kohlhaas aber wiederum nicht zu erkennen, wenn er mit Verweis auf die Idee des Gesellschaftsvertrags sein Rechtsgefühl bis zur Selbstaufgabe in positives Recht transformiert sehen will.

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Vgl. Wolf Kittler, »Der ewige Friede und die Staatsverfassung«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Heinrich von Kleist, München 1993, S. 134–146, hier S. 139.

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Linkspeicher Google Zum Verhältnis von PageRank und Archäologie des Wissens Ulrike Bergermann

Das Internet erfüllt die neuen Theorien des Archivs. Sagt man nicht, dass man heute praktisch alles darin findet, oder alles Relevante, oder dass das, was man nicht darin findet, eben dem Vergessen anheimgegeben sei (eine Funktion des Aussortierens, die ja die vorigen Archive ebenso kennzeichnete)? Umgekehrt scheinen auch die gegenteiligen Aussagen – das Internet sei das Ende des Archivs – gerade diese alten Kriterien noch einmal zu bestätigen, etwa wenn es heißt, das Internet sei ein Daten-, wenn nicht gar Wissensspeicher, der die traditionellen Kennzeichen eines Archivs zerstreue. Ortlos, dezentral, zeitlich unbestimmbar, entzieht es sich gängigen Vorstellungen dauerhafter Sammlungen, die an bestimmte Materialitäts- und Verwaltungsstrukturen gebunden sind. Durch sein exponentielles Wachstum, die Unüberschaubarkeit des Abgelegten, die weitreichende Unmöglichkeit einer Zugangsbeschränkung und die Unvorhersehbarkeit seiner Entwicklung entzieht es sich ebenso. Wenn mit dem Web 2.0 das Netz zu einer dynamischen Struktur wird, deren content zunehmend usergeneriert ist, greifen bekannte Selektions- und Herrschaftsmechanismen zur Beschreibung seiner Konstitution nicht mehr. Inwiefern also hier von Archiv oder Archivprozessen1 zu sprechen wäre, ist zu diskutieren. Gewaltförmigkeit wird zunächst nur dort sichtbar, wo etwa Yahoo oder auch Google den chinesischen Usern bestimmte Informationen zensieren, wo Urheberrechtsklagen gegen Peer-to-peer-Netze die Macht von Konzernen zur Diskussion stellen oder wo polizeiliche Überwachung von Datenaustausch stattfindet: Hier werden ökonomische und staatliche Interessen deutlich, wie sie strukturell vergleichbar bei anderen Medienformaten ebenso greifen.2 Wie aber über Gewaltförmigkeit des Un-Archivs Internet nachdenken, das derart neue Strukturen herausgebildet hat? Zum Beispiel dadurch, dass man Google als das größte Portal in den Blick nimmt, das zur Zeit den Zugang zum Netz regelt: Inwiefern lässt sich hier von

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Hedwig Pompe, Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002. Das gilt ebenso für das Sortieren als gesellschaftliche Dynamik: Aus einem Forschungsprojekt zur Geschichte der Datenbanken kam David Gugerli (Die Welt als Datenbank, Frankfurt am Main 2009) zu Suchmaschinen als Programmen zur Übersichtlichmachung der Wachstumsgesellschaften (S. 89 f.), die ebenso Normalität und Orientierung als auch Rekombinierbarkeit ermöglichten.

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›regelt‹ sprechen? Wie kommt die ›Selbsttätigkeit‹ der weltweiten User zusammen mit verborgenen Suchroutinen?3 Welche ›Regelungen‹ finden in den Verlinkungen zum ›Archivierten‹ statt? Kann man das zu Findende als Teil eines quasievolutionär Angesammelten betrachten? Jenseits der Frage nach der Dauer des Gespeicherten (oder technischer Aktualisierungen der Speichermengen der Riesenrechner) soll es hier um eine Skizze der Archivhaftigkeit des Internet gehen – als Grundlage für weitere Problematisierungen der Weltdatenordnung à la Google.

0. Convergence: von Technik und Theorie 1990, kurz bevor man das Internet wirklich als Massenmedium bezeichnen konnte, fand sich die in die USA importierte Dekonstruktion in der Gegenwart (wenn nicht der Zukunft) angekommen: Wenn jeder Text Intertext ist, Linearität im Text Vergangenheit, der Autor kollaborativ und vielstimmig, dann wäre ein nicht abgeschlossener Text eine »Verkörperung« dieser Theorien. George Landow schrieb über das Versprechen der Konvergenz von Theorie und Technik am Beispiel der damals so genannten Hypertexte.4 Gibt das Netz dieser Wissenschaftsgeschichte 3

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Theo Röhle hat in seiner Studie Der Google-Komplex dessen verschiedene Funktionsweisen ausführlich analysiert. Mit Rückgriff auf Foucaults Machtbegriff und die Frage danach, wie jeweils Handlungskompetenzen oder gouvernementale Taktiken durch die Anwendungen gesteuert oder nahegelegt werden, kommt er zu dem Schluss, Google sei keine »Supermacht«, wenn man »Macht« mit Foucault als differenziertes relationales System auffasse. Technologien der Verdatung ermöglichten in der Kontrollgesellschaft durch die »Mechanismen von Feedback und Modellierung« eben die Kontrolle des Verhaltens (S. 230 f.); diese sind allerdings von vorneherein im Modus des Technischen gedacht, so dass die Rückkehr zu ihren technischen Voraussetzungen sehr ausgefuchst oder sehr banal erscheint. Der Band endet mit einer techniksoziologischen Empfehlung an die Nutzer. Die Übersetzbarkeit zwischen theoretischem Konzept und technologischer Struktur scheint hier erleichtert durch den Bezug von »Subjekt« und »user«. Röhle zielt auf eine »medientechnologische Konkretisierung der abstrakten Vorgaben Foucaults«, ein »Wechsel der Analyseebenen« sei aber schwierig und die »Vereinbarkeit« von beiden nach Meinung verschiedener zitierter Autoren problematisch oder unmöglich (S. 58): Die Theorie sei abstrakt, die Technologie konkretisiere die Theorie, aber dann auch wieder nicht. Vgl. Theo Röhle, Der Google-Komplex. Über Macht im Zeitalter des Internets, Bielefeld 2010. Der dort offen gebliebenen Frage nach der Übersetzbarkeit von Theorie und Technologie möchte ich in diesem Text weiter nachgehen, ohne eine Engführung von Subjekt und Nutzer stark zu machen. George P. Landow, Hypertext: the convergence of contemporary critical theory and technology, Baltimore, London 1992; ders. (Hg.), Hyper/Text/Theory, Baltimore, London 1994; ders., »What’s a Critic to Do?: Critical Theory in the Age of Hypertext«, in: ders. (Hg.), Hyper/Text/Theory, Baltimore, London 1994, S. 1–48. Hier waren hauptsächlich literarische, mit Hypercard erstellte Texte im Blick, aber auch eine offene Netzstruktur wurde angedacht. Vgl. Ulrike Bergermann, »Mit beiden Händen schreiben. Eine Geschichte der Hypertextmetaphern«, in: Jürgen Gunia, Iris Hermann (Hg.), Literatur als Blätterwerk. Perspektiven nichtlinearer Lektüre, St. Ingbert 2001, S. 47– 62; Christiane Heibach, Literatur im elektronischen Raum, Frankfurt am Main 2003; David Link, Poesiemaschinen – Maschinenpoesie: Zur Frühgeschichte computerisierter Texterzeugung und generati-

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aus Medien, Kultur, Technik usw. einen weiteren Dreh? Kann es noch einmal Lektüren von »Verkörperung« von Theoremen geben? Erster Versuch einer Übertragung: Auch für dieses »Archiv« sind Techniken des Sammelns, Aufbewahrens/Speicherns und Wiederfindens nötig, auch hier sind Filtertechniken und technische Regulatorien am Werk, bestimmte Zugangscodes (computer literacy, englische Sprache, Netzzugang). Nicht jeder hat ein Archiv, aber die Zugangsmöglichkeiten sind rasant gestiegen. Der Archivar ist immer noch ein Teil einer Institution und eine Funktion ihrer Technologie, aber diese ist kaum noch staatlich kontrolliert, sondern privatwirtschaftlich. Und wesentliche Funktionen wie das Auszeichnen nach Suchworten oder die Autorschaft beschreibender Artikel gehen in kollektive Mechanismen über (vgl. social tagging, Wikipedia5 usw.). In einem ersten Schritt sollen in diesem Beitrag historische Parallelen eine solche Inbezugnahme in Gang setzen, etwa einen Vergleich mit dem historischen Projekt der Enzyklopädie. Schon dort ging es nicht nur um das Projekt einer maximalen Wissensansammlung oder in erster Linie um deren Demokratisierung. Auch die Tendenz zur Multimedialität (in den Bildbänden) oder interner ›Verlinkungen‹ durch Verweise zwischen den Bänden stand hier nicht an erster Stelle. Vielmehr war die selbstgestellte Aufgabe der Enzyklopädisten, das Wissen der Welt zu ord-

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ver Systeme, München 2007. Heute sprechen vergleichbar Sybille Krämer u. a. von der »(fast) vergessene(n) Dimension der Schrift« jenseits ihrer phonographischen Funktion, nämlich ihrer Performativität im Modus der »digitalen Schrift«. Denn »[d]er Computer bleibt – wie seine Pro›grammier‹barkeit (›gramma‹: griech. Buchstabe) es auch erwarten lässt – eine Schrift-Maschine« (Sybille Krämer, Horst Bredekamp [Hg.], Bild, Schrift, Zahl, Reihe Kulturtechnik, München 2003. Darin: Sybille Krämer, »›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, S. 157–176, hier S. 172.) Schriftliches Rechnen sei eine »operative Schrift«, in der Speichern, Operieren und Darstellen wenn nicht konvergierten, so doch ineinander übergingen (S. 174). Fazit: Die neue Kulturtechnik Schrift sei intermedial; die digitalisierte Schrift, im Computer implementiert, trenne diese »Vollzüge« wieder (S. 172). Ein Blick auf die Online-Enzyklopädie Wikipedia zeigt eine weitere Dimension von Archivpraxen im Internet. Google erscheint als ein Linkspeicher – gespeichert werden die Indizes von Webseiten. Google erstellt keine eigenen Inhalte und lässt keine Inhalte durch User unter dem Namen Google erstellen (das wikipedia-artige Projekt GoogleKnol von 2008 ist unbekannt geblieben). Wikipedia versammelt eigens für Wikipedia erstellte Texte. Beide haben also mit dem Speichern von und dem Zugang zu großen Informationsmengen zu tun, die Fragen nach Urheberrecht, Zensur usw. unterliegen, aber nicht nur ist Google eine Firma und Wikipedia ein werbefreies Projekt (Google hat über 20.000 Angestellte, Wikipedia zehntausende von unbezahlten AutorInnen und die Wikimedia Foundation 23 Angestellte plus lokale Mitarbeiter, z. B. zehn in Deutschland - vgl. Günter Schuler, Wikipedia inside: Die Online-Enzyklopädie und ihre Community, Münster 2007), sondern sie unterscheiden sich vor allem darin, dass Wikipedia eher Fragen nach Autorschaft und kollektivem Wissen aufwirft und Google eher solche nach der Archivfunktion von Speichern und Übertragen.

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nen.6 Das Ordnen ist auch Googles Geschäft.7 Um die historische Perspektivierung, die Entwicklung »vom Speicher zum Verteiler«, wird es im zweiten Teil gehen, im dritten Teil dann um die Funktion des Rankings im Ordnen (Googles PageRank). Mit Derrida kann über die Demokratisierung von Verwaltungs- und Zugangsmodi nachgedacht werden, über Transparenz, Codierung, Zentralität/ Dezentralität, über Zensur, Auswahl, Zugangsregelungen und ihre Hüter, also über Macht und über die Analogie eines bestimmten Ereignisbegriffs. Denn das Ergebnis einer Suche hat es vor der Suche nicht gegeben. Der vierte Teil untersucht vor diesem Hintergrund, inwieweit sich der Archivbegriff Derridas auf Google beziehen lässt, der fünfte Teil eruiert dies im Hinblick auf Foucaults Archivbegriff.

1. Vorgeschichte: Speichern und Kopieren Wer über Archive schreibt, schreibt auch über die Vorgeschichte des eigenen Schreibens, was dessen disziplinäre Bedingungen angeht wie auch deren Umgebung aus Staats-, Bildungs- und anderen Systemen und ihren Subjekten. (Wie Wissensformationen bis hin zu den späteren Humanwissenschaften etwa durch Datenverwaltungstechniken reguliert werden, Epistemologie sich weniger an menschliche Vernunft oder Gedächtnis bindet als an »die spezifische Materialität des Wissens, wie sie im Problem der Übertragung und Speicherung von Datenmassen auftaucht«, hat Wolfgang Schäffner für die Bürokratie und den Einsatz statistischer Methoden um 1800 beschrieben.8) Das »papierne Zeitalter«, in dem wir immer noch leben und schreiben, folgt seit dem preußischen Staat einer langen Reihe von Wechseln auch des Speichermaterials und der entsprechenden Schreib-

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Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn 1977. Vgl. weiter Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin, New York 2009; Gerhard Neumann, »Die frühromantische Enzyklopädie. Novalis und sein Konzept des Wissenstheaters«, in: Theo Stammen, Wolfgang E.J. Weber (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädisten, Berlin 2004, S. 119–142; Jean Le Rond d’Alembert, Denis Diderot u. a., Enzyklopädie. Eine Auswahl, hg. und eingeleitet von Günter Berger, Frankfurt am Main 1989, übers. von Günter Berger, Theodor Lücke und Imke Schmid; Waltraud Wiethölter, Frauke Berndt, Stephan Kammer (Hg.), Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen, Heidelberg 2005. Schon im Begriff des datums ist das Gegebene, die Materialität, verschaltet mit einem Ordnungssystem, wie Burkhard Wolf anmerkte. Ihre Mission sei nicht nur, »das Internet herunterzuladen«, sondern vielmehr, »sämtliche Informationen der Welt zu strukturieren« (zitiert in: Lars Reppesgaard, Das Google-Imperium, Hamburg 2008, S. 53). Wolfgang Schäffner, »Nicht-Wissen um 1800. Buchführung und Statistik«, in: Joseph Vogl (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 123–144.

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wie Herrschaftsinstrumente.9 Cornelia Vismann nennt Aktenvorformen wie die administrativen Listen Babylons, gerollte Akten aus Papyrus, die im 2. Jahrhundert in Rom durch Codices aus Pergament abgelöst wurden, um blättern statt rollen zu können. Vismann erwähnt ebenso die Umstellung von Pergament auf Papier als Übergang vom Urkundenwesen zur umfassenden Herrschaft durch die Akten und Register der Staufer.10 Papier ist billiger und fälschungssicherer als das Pergament, und gerade durch seine Vergänglichkeit schöpft das Königreich Macht aus den permanent notwendigen Aktualisierungen.11 Chemie trifft hier nicht nur auf Politik, sondern auch auf kulturelle Ökonomien.12 Denn wie bei Vismann zu lesen, hat die Verdrängung des Speichermediums Papyrus durch das weniger langlebige Medium Papier nicht dazu geführt, dass die aufgezeichneten Inhalte eher verloren gingen – im Gegenteil. Die Speicherlogik stellte sich um: Auf dem billigeren und leichter zu handhabenden Papier konnten mehr Kopien angefertigt werden, so dass die ›Inhalte‹ eine viel größere Verbreitung und Zirkulation fanden. Trotz größerer Fehleranfälligkeit durch mehrfache Kopiervorgänge und Säurefraß galt also: Das fragilere Speichermedium stellte eine dauerhaftere Speicherung der Inhalte sicher. Das potenziert sich mit der digitalen Kopie. Technologisch unterstützt durch minimalisierte Kopierfehler, schnelle Datenübertragungsraten und billigen Speicherplatz, gehen Datensätze um die Welt, über Grenzen hinweg, und schreiben sich so in ein bestimmtes kollektives Weltgedächtnis ein, dessen Kollektivität durch Netzzugang kanalisiert ist (wobei der Kopf, der das Gedächtnis umfasst, statistisch gesehen immer noch eher westlich, weiß, männlich und middle class ist, ein Gedächtnis der industrialisierten Staaten und ihrer Kulturgeschichte).13

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– und seiner Ausdifferenzierung des Rechts, das von Akten gesteuert wird und deren Ausformung steuert; Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 8 und S. 217. Vgl. im Folgenden: Ulrike Bergermann, »Medium und Form Papier: Material für Augen und Abfühlbürsten«, in: Sigrid G. Köhler, Jan Christian Metzler, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materiedebatte, Königstein 2004, S. 287–316. Vismann, Akten, S. 217 und S. 137. Ebd., S. 8. ... die wiederum durch ›topografisches Lesen‹ eingeübt werden, wenn je nach Material verschiedene Beschriftungsmodi, Schrifttypen, Seitenlayouts bis hin zu Rasterungen der Daten vorgenommen werden – Vismanns Blick auf die Akte benennt deren Materialität in ihren diskursiven Zusammenhängen. Vismann, Akten, S. 139 f. Gesondert zu betrachten wäre hier die Rolle von Bildern im Archiv. Google hat 2006 YouTube gekauft, was für einen Übergang zu immer mehr Bewegtbild im Netz spricht. Pro Sekunde werden auf YouTube Videos von 13 Stunden Länge hochgeladen: Wo liegen diese Datenmengen? Sind sie indizierbar? Und was bedeutet dieser shift für die Archivfrage? Vgl. Martin Warnke, »Suchbilder«, in: ZfM 1 (2009), S. 29–37. Hartmut Winkler hat sich schon Mitte der 90er Jahre mit Suchmaschinen auseinandergesetzt, vor ihrer scheinbaren Neutralität gewarnt, auf ihren kommerziellen Ursprung und ihre Zentralisierungseffekte hingewiesen und ansonsten Fragen nach semantischer Suche erörtert. Vgl. Hartmut Winkler, »Suchmaschinen. Metamedien im Intemet?«, in: Barbara

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Dass die kulturelle Ökonomie die Technikgeschichte bestimmen kann, wenn man denn eine Priorität bestimmen möchte, kann man an diesem Beispiel besonders anschaulich sehen: Nicht die technisch-materielle Dauerhaftigkeit des Speichers scheint mehr das ›Speichern‹ von etwas für das kulturelle Gedächtnis zu garantieren, sondern deren Verbreitung. Damit kommen alte Gespenster der Masse ins Spiel.14 Gespeichert bleibt, was zirkuliert, vielfach kopiert wird, immer wieder verbreitet und neuaufgelegt, im Netz heißt es »gespiegelt«. Dass auch damit eine Auswahl an Tradiertem einhergeht, und dass diese Wahl möglicherweise keine ist, die den Angehörigen der Klasse, die bislang die Auswahl innehatte, gefällt, dass damit die Frage nach »Qualität« oder »Qualitätskontrolle« des Tradierten in den Hintergrund tritt oder anderen Kriterien Platz macht, ist offensichtlich. Vor diesem Hintergrund werden auch die oft wiederholten Warnungen, man wisse nicht, wie lange CDs halten, uneindeutiger. Es ist richtig, dass man von vervielfachten Transkriptionszyklen ausgehen muss und dass die Problematik der Datenmigration von einem Träger auf den anderen ausgeblendet wird (mit all ihren Kosten, weiteren Selektionsschritten, Fehlermöglichkeiten usw.). Die unterschwellige Rede vom Kontrollverlust kann aber auch an andere medienhistorische Zeiten erinnern, die von ähnlich klingenden Reden begleitet wurden.15

2. Vorgeschichte: Speichern und Verteilern Die Geschichte des Internet von Mercedes Bunz geht davon aus, dass das mediale Speichern von Information im letzten Jahrhundert vom Brief über die Familienfotografie bis hin zur privaten Videoaufnahme für jeden von uns alltäglich geworden ist, [dass aber] bislang das öffentliche Anbieten und Senden von Information umständlich und teuer – und deshalb Institutionen, Firmen und Verwaltungen

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Becker, Michael Paetau (Hg.), Virtualisierung des Sozialen. Die Informationsgesellschaft zwischen Fragmentierung und Globalisierung, Frankfurt am Main, New York 1997, S. 185–202. multitudes, die französischsprachige Zeitschrift mit Redaktionssitz in Amsterdam, beschäftigt sich unter dem Titel »Google et au-delà« (Nr. 36, Sommer 2009, Éditions Amsterdam, Red.: Yves Citton, Yann Moulier Boutang, Anne Querrien) vor allem mit kapitalismuskritischen Perspektiven, Pierre Lévy dagegen mit Google als einem Spiegel der »kollektiven Intelligenz des Internet«. Beide Ansätze beschreiben allerdings Google als »post-PC«, der Computer ist gestern, das Internet überall (Ariel Kyrou, Yann Moulier Boutang, »Beyond Google«, S. 38–43; Interview mit Pierre Lévy, »Au-delà de Google. Les voies de l‘›intelligence collective‹«, S. 45–52, u. a.). Die »Lesesucht«-Warnung für den Buchdruck, die »Gespenster« für die Fotografie und den Film, die Warnungen von übergroßer Passivität bzw. Manipulation durch das Radio, die oft an das weibliche Publikum adressiert waren, artikulieren ähnliche Befürchtungen eines nicht medien-mündigen verführten Nutzers. Das hat es in dieser Form für das Internet nicht gegeben; die Diskussionen um Suchtgefahr oder Gewaltpotenzial im Online-Gaming besetzen nur ein Teilfeld – eher ist es die Copyright-Debatte, in der sich die auch generationsspezifischen Vorbehalte bündeln.

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vorbehalten [war]. Information aufzuzeichnen, das ist also schon lange private Normalität, Information zu veröffentlichen dagegen eine alles andere als einfache Angelegenheit.16

Mit dem Internet sei nun aber eine Umstellung »vom Speichern zum Verteiler« in Gang gekommen. Diese Darstellung folgt der prominenten Dreiteilung Kittlers, der Speichern/Prozessieren/Verteilen als die drei Funktionen von Medien bezeichnet hat. Konstatiert wird damit ein grundlegender Shift in der Mediengeschichte, den Bunz technisch begründet: Während ein Brief von A nach B transportiert wird, werden Daten im Netz zum Weiterschicken kopiert. Schon beim bloßen Aufrufen einer Webseite werden Daten vom Server zum User übertragen und dort nur flüchtig, nur zur vorübergehenden Darstellung der Daten gespeichert. Im WWW werden Daten noch auf Servern abgelegt und mit einer Adresse versehen, in Netzwerken wie solchen des Filesharing dagegen verändert sich die Struktur ständig. (Es gibt keine festen Server, unterschiedliche User sind online, Knoten fallen weg und schalten sich dazu, die Erreichbarkeit ist schwankend, die feste physische Verortung von Daten unmöglich.) Der Kopiervorgang wird zugleich zum Vertrieb. Kopieren und Transport sind Teil ein und derselben »Logistik der Verdoppelung«.17 Hier potenziert sich die Flüchtigkeit der Aufbewahrung, denn »[d]iese Dynamik führt dazu, dass die Sicherung von Information auf eine besondere Art und Weise betrieben werden muss: durch ihre Verteilung«.18 Die Hardware entscheidet also nicht über den Speicher, die Materialität nicht über das Archiv. Aber damit ist für eine Erklärung noch nichts gewonnen. Die sozialen Gebrauchsweisen sind ebensowenig erklärungsmächtig. Man wird in die alte Falle gehen und Begriffe und Funktionsweisen aus Theorie und Technik in Beziehung zueinander setzen müssen, um zu sehen, was ineinandergreift, ob es im Ineinandergreifen wiederum Kurzschlüsse gibt (zum Beispiel wenn etwas »zu sich selbst kommt«) oder Erhellendes. Neben Landows Konvergenzthesen oder posthegelianischen Schleifen muss man sich auf das gleiche dünne Eis begeben, auf dem Landow die »Konvergenz« ausgerufen hatte. Um eine Konvergenz aus Theorie und Technik zu testen, setze ich für »Theorie« im Folgenden auszugsweise und exemplarisch Passagen aus Texten von Derrida und Foucault, und für »Technik« setze ich Funktionsbeschreibungen der Suchmaschine Google. Das hat mehrere Gründe: Mit der Suchmaschine ist einerseits das Feld des Katalogisierens, Verschlagwortens, Indizierens angesprochen, das typisch für Bücher und Archive ist. Die Frage nach dem materiellen Ort des Gespeicherten 16

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Mercedes Bunz, Die Geschichte des Internet. Vom Speicher zum Verteiler, Berlin 2008, 22009, S. 11. Vgl. auch Katie Hafner, Matthew Lyon, ARPA Kadabra oder Die Anfänge des Internet, Heidelberg 2000, 32008; James Gillies, Robert Cailliau, Die Wiege des Web, Heidelberg 2001. Bunz, Die Geschichte des Internet, S. 18 f. Ebd., S. 17.

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stellt sich anders als bei Internetseiten allgemein, einzelne Dienste wie Google Books sind in sich bereits eine Art von Archiv. Vor allem aber trägt dieser Fokus der Tatsache Rechnung, dass z. B. in Deutschland über 80 Prozent aller Seitenaufrufe von Google aus starten.19 Diese Suchmaschine ist zum Gatekeeper, zur Einstiegsstation ins Netz geworden, und was man nicht hier innerhalb einer Fünftelsekunde auf der ersten Ergebnisseite sehen kann, hat wenig Chancen auf Realisierung virtueller Inhalte. Bunz’ Geschichte des Internet interessiert sich nicht für solche Nutzungsweisen, für die Handlungen von Usern, die de facto die Agency von Technologien formen (obwohl man das auch und gerade für Peer-to-peer-Netze sagen könnte). Die User sind aber auch nicht den Kommunikationswissenschaften oder der Medienpsychologie zu überlassen. Sie sind unberechenbarer Teil des Akteur-Netzwerks namens Internet.

3. Ordnen: PageRank Google speichert für die Suche nicht ganze Internetseiten, sondern erstellt pausenlos Indizes von Webseiten durch Bots, die Extrakte von Seiten bilden. Zentral für die Anzeige der Suchergebnisse ist der PageRank, der Algorithmus, nach dem die bei einer Suchanfrage generierten Links in eine Reihenfolge gebracht werden. Googles Erfolg hat mehrere Komponenten. Eine liegt in der Kunst der Hardware und ihrer Software-Vernetzung (die eine Anfrage in ca. 0,2 Sekunden beantwortet, die mehrere Stunden Video-Upload auf YouTube pro Minute bewerkstelligt, die billige Desktoprechner in riesenhaften Parallelcomputerclustern verschaltet und von jedem Datensatz zwei Kopien speichert, um durch Redundanz Hardwareausfälle auszugleichen usw.). Eine andere liegt im Geschäftsmodell der Versteigerung von stichwortplatzierter Werbung20 (und, vielleicht, im Börsengang). Und eine dritte liegt in der Indizierung der Internetseiten, die näher zu untersuchen für einen Vergleich mit bibliothekarischen Verfahren interessant wäre21 (wenngleich Suchmaschinen nur das Surface Web erreichen und damit nur 0,2 Prozent aller 19

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Bzw. via Google Toolbar, seit 2007 durch geschickte Vertragspolitik vorinstalliert in den Standardbrowsern der Standardrechner. 1999 übernahm Google dasjenige Anzeigenprinzip, das heute für den ökonomischen Erfolg verantwortlich ist. Der Dienst goTo.com versteigerte Anzeigenplatz, genauer: jeder, der eine Anzeige schalten wollte, gab seinen Text online selbst ein und ersteigerte dann online die Rechte auf bestimmte keywords, Auszeichnungsbegriffe, unter denen die Anzeige gefunden werden sollte. Genau das macht Googles Dienst Adsense/Adwords. GoTo.com verlor den Rechtsstreit (vgl. c’t 12/06). Vgl. Günter Gattermann, »Die Information in der Bibliothek der Gegenwart«, in: Dirk Matejovski, Friedrich Kittler (Hg.), Literatur im Informationszeitalter, Frankfurt am Main, New York 1996, S. 102–111, und Rainer Kuhlen, »Zur Virtualisierung von Bibliotheken und Büchern«, in: ebd., S. 112–142. Das Nicht-Indizierte wird zum arcanum des Web. Das wäre weiterzudenken mit Blick

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digitalisierten Inhalte; Datenbanken und Archive sind als Deep Web zwar erreichbar, aber nicht indizierbar). Ein solches Vorhaben muss jedoch aufgrund der Eigentumsform scheitern, denn Google ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen und betrachtet diese Dinge als Betriebsgeheimnis. Vor allem ist der PageRank geheim. Die Reihenfolge der auf eine Suche angezeigten Links ist von größter Wichtigkeit. 80 Prozent aller Suchanfragen enden beim Lesen der ersten Seite, und nur wenige kommen noch über die zweite hinaus. De facto aufzufinden ist nicht das, was digitalisiert ist, sondern ausschließlich jenes, was ein Algorithmus (aus über 100 Kriterien, die sich wöchentlich im Google Dance ändern) nach oben spült.22 Schon für die beiden Studenten in Harvard, die dann Google-Gründer wurden, war solch ein Mechanismus, damals genannt BackRub, zentral.23 Wo es nicht um Qualitätskriterien gehen kann, die jeweils von Menschen ermittelt werden, orientierten sich die Akademikersöhne Page und Brin am Citation Index: Was oft zitiert wird, ist relevant. Menge lässt sich quantifizieren und weiterverarbeiten, also sind die Webseiten relevant, auf die viele andere Webseiten verweisen (die backlinks). Wenn diese verweisenden Seiten wiederum selber als »relevant« eingestuft werden können, ist die Verlinkung von ihrer Seite noch höher bewertet usw. Die Verarbeitung der Kriterien ist geheim und als Geheimnis der grundlegende Mechanismus der Google-Ökonomie. Wenn nun sowohl die Rankings als auch die Hardwarespeicher von Google geheim sind, wie soll man adäquat über das Verhältnis von Ablage und Neusortierung/ Wiedervorlage/Konstruktivität des Suchvorgangs für das Gesuchte sprechen?

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auf die bisherigen Mechanismen der Kanonbildung, wie sie sich für Bibliotheken und Archive herausgebildet haben. Wird Wissen ein Effekt von Statistik? Wenn mit großer Wahrscheinlichkeit eine Seite angeklickt werden wird, weil sie z. B. viele Links auf hoch gerankte Seiten hat, dann wird ihr Inhalt relevanter sein, er wird de facto als Stand des Wissens bekannt werden. Kohärenz (der Begriffe auf der Seite), Kontinuität (der Verlinkungen) und ein großes soziales Netzwerk (ablesbar an bestimmten LinkStrukturen) bestimmen, was gefunden werden kann, was als Antwort auf Suchanfragen erscheint. Ein Algorithmus aus über 100 einzelnen Bestandteilen berechnet jeweils den Wert des Wissens, das damit mathematischen Begriffen von Wert und Relevanz unterworfen wird. Außenseiterpositionen kommen nicht vor oder nur dann, wenn sie Freak-Faktor haben und aufgrund ihrer Abnormität eigens oft gesucht werden. Das mag sympathische Züge haben, weil der ›Schwarm‹ keine zentrale Anordnung mehr kennt, und auch unangenehme, weil die Menge normalisierende Züge hat. Bei amazon heißt es: »Kunden, die das gleiche Buch kauften wie Sie, kauften auch...« Auf last. fm werden Musikempfehlungen aufgrund von Ähnlichkeiten mit selbst angegebenen Genres oder Bands gegeben. Scheinbar dezentral und doch dirigiert, wenn auch nach Ähnlichkeitsbeziehungen, vertikalen Analogien statt horizontalen Hierarchien: Die Weisheit der Wahrscheinlichkeit, der Informationsgehalt der Statistik. BackRub wurde 1995 entwickelt. Vgl. im Folgenden Reppesgaard, Das Google-Imperium; Gerald Reischl, Die Google-Falle. Die unkontrollierte Weltmacht im Internet, Wien 2008; David A. Vise, Mark Malseed, Die Google Story, Hamburg 2006; Kai Lehmann, Michael Schetsche (Hg.), Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, Bielefeld 2005, 22007; PC Praxis Sonderheft: Google Praxis, 1/2007, PC Praxis Sonderheft: Google Praxis, 1/2009.

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Dass Google zum Beispiel ungeheure Speichermengen sein eigen nennt, taucht in der Diskussion kaum auf. Es wird von der Firma auch verschwiegen, die nicht als Ökosünder dastehen will: Die Speicher brauchen Unmengen von Strom. Augenfälliger ist die Geschwindigkeit, das Ranking, der Umfang der Ergebnisse bei den Suchanfragen. Entscheidend scheint der Aspekt der Übertragung, nicht der des Speichers. Zu konstatieren, es gebe einen Shift vom Speichern zum Übertragen, ist also vielleicht einerseits der Faszination am Neuen im Konglomerat des Archivs geschuldet, andererseits ist es Effekt einer privatwirtschaftlichen Strategie, die die Aufmerksamkeiten durch eine bestimmte Öffentlichkeitsarbeit lenken will. Und es gibt weitere technische Abläufe, die keiner Technikgeschichte unterliegen und gleichzeitig von jedem Apparat wieder neu ausbuchstabiert werden. Etwa die Technik, die Derrida »Eindruck« genannt hat. Sie bezeichnet, was jedem Speichern notwendig vorausgeht, eine Trennung von Ding und Gespeichertem, über die man nichts sagen kann, ein Akt, dessen Vorgängigkeit notwendig unsichtbar bleiben muss.

4. Eindruck Hat Derridas Geschichtsschreibung des Archivs noch bei den Archonten begonnen, die Gesetze in ihrem Haus bewahrten und gleichzeitig auslegten,24 so ist offensichtlich, dass eine solche Topo-Nomologie für die späteren und gar für digitale Archivträger nicht mehr gilt. Es sei denn, man nimmt den Raum weniger wörtlich und inkludiert virtuelle ›Räume‹ in den Raumbegriff, so dass die Verbindung zwischen ›Gesetz‹, ›Konsignation‹ und Abgelegtem in unscharfer Weise wiederauferstehen kann: Bezeichnung der Adresse des Abgelegten, Programmsprache und Beschreibungssprache des Inhalts sind formal gleich (was schon seit Babbages Analyzern für Computer gilt und sich im Netz nur vervielfacht). Der Ort für das alles wäre demnach unentscheidbar verteilt zwischen den geheimen riesigen Rechnerfarmen Googles und den unberechenbaren Wegen, Knoten und Endgeräten, auf denen die aktualisierten Zusammenstellungen jeweils erscheinen oder besser: passieren. Sie passieren, weil sie vorbeigehen und weil sie ereignishaft sind.25 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Entwicklung innerhalb von Derridas Freudlektüre, die schon im Essay »Freud und der Schauplatz der Schrift« (1966), der mit Freuds berühmten Wunderblock ein anachronistisches Medium als Metapher des psychischen Apparats behandelt, nach dem Verhältnis von Spontaneität 24

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Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression (Original: Mal d’archive, 1995; Vortrag 1994), Berlin 1997, übers. von Hans Dieter Gondek und Hans Naumann, S. 12. Zum vielfachen »Passieren« vgl. Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin 2003.

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und Materialität in den Gedächtnismaschinen fragt, um dann in Dem Archiv verschrieben (1994) die zunehmende Ähnlichkeit von Maschine und Gedächtnis zu thematisieren. Hätte sich der psychische Apparat nicht durch so viele technische Vorrichtungen zur Archivierung und Reproduktion, Prothesen des sogenannten lebendigen Gedächtnisses, Simulakren des Lebendigen, die raffinierter, komplizierter, leistungsfähiger als der ›Wunderblock‹ sind oder in Zukunft sein werden (Mikro-Informatisierung, Elektronisierung, Computerisierung etc.), besser darstellen oder anders affizieren lassen?26

Die Maschine ähnelt Derrida zufolge dem Gedächtnis der Welt immer mehr und besser – der psychische Apparat wirft im Vergleich zum Wunderblock-Modell Fragen zu dessen Veränderung durch neue Maschinen auf, die das Verhältnis von Innen und Außen und das Funktionieren von ›Eindrücken‹ neu zu denken geben. Noch radikaler als das Anlegen des maschinellen an das menschliche Gedächtnis aber ist die Suspension der Vorgängigkeit des Archivs. Diese kündigte sich schon in der Ankündigung der zwei Teile von Dem Archiv verschrieben an: Es gehe um zwei Einschreibungen, um den Buchdruck und die Beschneidung. Im ersten Teil wird das Buch als externer Träger verhandelt, als ein äußerliches Archiv, im zweiten die Beschneidung (als Zeichen des Bundes) an einer intimen Körpermarkierung. »Doch wo beginnt das Draußen? Diese Frage ist die Frage des Archivs«.27 Kann tatsächlich nur ein ›äußerliches‹ Geschlechtsteil die ›Einkerbung‹ bekommen? Muss es eine Markierung des Machtsymbols sein? Ist es nur eine Hälfte der Menschheit, die hier für den Archivbegriff einsteht? Das implizite Gendering dieses Archivbegriffs wäre weiterzudenken.28 Immerhin hatte Derrida in Das andere Kap von derjenigen ›äußeren Form‹ geschrieben, die als cap, caput, Hauptstadt, Kopf, ›äußerstes Ende eines Außenglieds‹ ist, ein Ziel, im allgemeinen angeordnet von jemandem, der keine Frau ist. Dies sei aber auch die Idee von Europa, »sei es in der Form einer arché (Idee des Anfangs und des Befehls, des Kaps als Haupt, als Ort des kapitalisierenden Gedächtnisses und der Entscheidung des Kapitäns), sei es in der Form eines telos«.29 Ein Mitsichselbstdifferieren sei in dieses vorstehende Kap einzutragen, das Ziel sei änderbar, vielleicht sei eine Kapitänin zu wählen und eine Öffnung auf das Kap des anderen anzustreben30 – jedenfalls hieße eine Reflexion 26 27 28

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Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 27. Ebd., S. 19. Wenn man an eine Beschneidung von Frauen denkt, käme man dann nicht zur Genitalverstümmelung? Der radikal andere Bezug auf die Frage nach der Gewalt im Bezug auf die Metaphoriken von Archivbegriffen wäre auszuführen: Ist die Figur der ›Äußerlichkeit‹ unersetzbar und nur an den Phallus gebunden? Jacques Derrida, Das andere Kap (Original: L’autre cap, Paris 1991), Frankfurt am Main 1992, übers. von Alexander García Düttmann, S. 22. Ebd., S. 16.

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des Phallischen im Motiv der Einschneidung dieses Archivgedankens, auch hier ein Kap des anderen anzudenken. Dem Archiv verschrieben formulierte die Technik des Eindrucks und die Zeitlichkeitsproblematik folgendermaßen aus: Das Archiv ist nicht nur der Ort der Speicherung eines vergangenen Eindrucks, der auf jeden Fall existieren würde. »Die technische Struktur bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und in seiner Beziehung zur Zukunft. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet«.31 Das bezieht sich nicht mehr nur auf die Vergangenheit: Die Archivtechnik hatte schon die ›Institution des archivierbaren Ereignisses bestimmt‹, hatte das verfestigt, was aufschreibbar, katalogisierbar war, und hatte bestimmt (was nicht heißt: a priori determiniert), was »der Druck des Eindrucks vor der Spaltung zwischen dem Eingedrückten und dem Eindrückenden« war, besser: gewesen sein würde, in einer »grenzenlosen Umwälzung der Archivtechnik«,32 die eben nicht mehr den Archivstempel auf vorgefundenes Material setzt, ihr Siegel in die Masse der Dokumente drückt, sondern die ›der Druck ist‹, der Siegel und Dokument erst geschieden haben wird. Und nun führt das Futur II auch noch ins Futur I, verbindet Ereignis, Eindruck und Zukunft: »Diese Archivtechnik hat kontrolliert, was schon in der Vergangenheit was es auch war als Vorwegnahme der Zukunft instituierte und konstituierte«.33 Das Archiv ist eine Wette auf die Zukunft, deren Sinn im Druck entsteht.34 Versuchen wir eine quasiwörtliche Übersetzung: Ließen sich diese Figuren auch in die Beschreibungssprache für das Speichern, Suchen und Finden im Internet übersetzen? Die Digitaltechnik bestimmt, dass nur Digitalisierbares bzw. Digitalisiertes archiviert werden kann. Ihre Struktur bestimmt die Inhalte von Anfang an, in ihrer ›Entstehung‹, bis in ihre ›Zukunft‹. So weit, so quasitautologisch. Das Archiv der Gutenberggalaxis, das noch brennen kann, funktioniert im Modus des Eindrucks (der Spaltung Eingedrücktes/Eindrückendes), und das Archiv der Internetgalaxis könnte mit dieser Spaltung anders umgehen, insofern es eher mit Extrakten, Doubletten, virtuellen Ganzheiten umgeht, ein Dokument also weniger a posteriori archivfähig stempelt, sondern allem einen potentiell aktivierbaren Schatten an die Seite stellt. Derrida hilft mit seinem Umsturz der Temporalität, sich dem Netzarchiv zu nähern, aber kann mit dem »Eindruck« noch keine breiter ausbuchstabierbare Figur für das Verständnis des Zum-Archivmaterial-Machens anbieten. Für die Beziehung zwischen gegenwärtiger Archivpraxis und Gewaltbegriff gilt im Hinblick auf Derrida Ähnliches. Klar scheint: An Gewalt ist nicht ohne Medien, Materialitäten und Codes zu denken. Aber ist bereits das Setzen eines Unterschieds, etwa im Implementieren eines Codes, ein gewaltsamer Akt, insofern er Ein- und 31 32 33 34

Derrida, Dem Archiv verschrieben, S. 35. Ebd., S. 38. Ebd. Genauer: »Und als Wette (gageure). Das Archiv ist stets ein Unterpfand (gage) gewesen« (ebd).

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Ausschlüsse produziert und weil die erste Setzung immer einen willkürlichen Zug haben muss? Das ist es, was Derrida in Anlehnung an Benjamin bekanntlich den »mystischen Grund der Autorität« genannt hat, der der Unterscheidung zwischen ›rechtmäßig oder unrechtmäßig‹ als Gewaltmoment vorausgeht und nicht aufhört, sie heimzusuchen »wie ein Gespenst«.35 Mit Daniel Tyradellis und Burkhardt Wolf weitergedacht, ist Gewalt »eine Chiffre für Unterscheidungen, die getroffen oder nicht getroffen werden«, und Codes sind »kontingente und zugleich zwingende Regeln, die eine Darstellungs-, eine Wissens- und damit eine Machtdifferenz produzieren«.36 Hier ist eine Verschiebung hin zum Machtbegriff erkennbar, zugleich wird über Derrida hinausgehend deutlich, dass die jeweils konkrete »Medialität des Politischen«37 berücksichtigt werden muss. Dabei kann man sich durchaus an der Art und Weise orientieren, wie die Medialität der Sprache bei Benjamin gedacht wird. Die von ihrer ›Pflicht zur Referenz entbundene Sprache‹ ermögliche erst ihren instrumentellen Gebrauch, argumentiert Benjamin,38 wobei das Mittel als solches reflektiert werden müsse. In diesem Sinne scheint seine Übersetzungstheorie heute nahtlos in eine Medientheorie verlängerbar, die ebenfalls von der Medialität der Medien ausgehen will und sich nicht an einen möglichst transparenten Träger des eigentlichen Sinns wendet:39

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Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt am Main 1991, S. 50. Daniel Tyradellis, Burkhardt Wolf, »Hinter den Kulissen der Gewalt. Vom Bild zu Codes und Materialitäten«, in: dies. (Hg.), Die Szene der Gewalt: Bilder, Codes und Materialitäten, Frankfurt am Main 2007, S. 13–31, hier mit Bezug auf Thomas Macho, S. 15. Hendrik Blumentrath et al. (Hg.), Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen, Berlin 2009. Vgl. Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. l, II 1, Frankfurt am Main 1991, S. 140–157; vgl. dazu: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit, Derrida – Benjamin, Frankfurt am Main 1994; Blumentrath et al., »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Techniken der Übereinkunft, S. 7–20, insbes. S. 10. »Die im engeren Sinne medienthoretische Dimension des Arguments wird deutlich, setzt man diese Stelle in Verbindung mit Benjamins Formulierung vom ›Sündenfall der Sprache‹, den er im Sprachaufsatz aus dem Jahren 1916/17 beschreibt. Dieser Sündenfall besteht für Benjamin eben in der Reduktion der Sprache auf ein Mittel, ihre Herabsetzung zum ›bloßen Zeichen‹. Erst mit diesem Sündenfall eröffnet sich – wie Benjamin hervorhebt – die Möglichkeit eines ›Urteils‹ durch die Sprache. Die Reduktion des Mediums Sprache auf die instrumentelle Dimension eines Mittels geht mithin unmittelbar einher mit ihrer Verstrickung in den Kreislauf der Gewalt rechtlicher Setzung« (Blumentrath et al., »Einleitung«, S. 10).

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Die Frage der Medialität der Medien als jener die instrumentelle Mittel-Zweck-Relation übersteigenden Dimension eines Mittels geht mithin unmittelbar einher mit ihrer Verstrickung in den Kreislauf der Gewalt rechtlicher Setzung. Die Sprache – oder allgemeiner: jede (Medien)-Technik – ist also eine immanent politische Frage.40

Gilt das, was als Kritik an einer instrumentellen Logik vor einem knappen Jahrhundert formuliert wurde, auch für die Medialität heutiger Suchmaschinen? Sind ihre Entscheidungen und Setzungen derart als Gewalt zu denken? Diese Frage soll hier offen bleiben, um der sich abzeichnenden Tendenz, den Gewaltbegriff im Sinne einer medialisierten potestas auf seine Machtwirkungen hin zu denken, weiter nachzugehen. Dazu bietet es sich an, dem Derrida’schen Gewaltdenken den Machtdiskurs Michel Foucaults an die Seite zu stellen.

5. Indexing Foucault 5.1 Analogien

Dem Thema Macht wird sich Foucault erst nach der Archäologie des Wissens41 widmen. Wenn man trotzdem davon ausgeht, dass auch für die Archäologie des Wissens gilt, dass Macht nicht etwa Wissen behindert, sondern konstitutiv für Wissen ist, dann kommt man auf die Notwendigkeit, nach der Macht, die die Zugänge zum Internet regelt, zu fragen.42 Und damit kommt man zu Google oder jedenfalls nicht an Google vorbei. Dass diese Macht eine enorme ökonomische Größe darstellt und dass sie keinesfalls demokratisch legitimiert oder kontrolliert ist, bedeutet für die Frage nach den »diskursiven Formationen des Archivs« mindestens eine Erweiterung des Elements des Institutionellen in der Diskursanalyse, in jedem Fall aber eine notwendige Akzentuierung für den globalisierten Kapitalismus und sein Wissensmanagement. Weitere zentrale Themen oder von Foucault eigens geprägte Begriffe lassen sich im engeren Sinn auf den Ablauf einer Suchanfrage beziehen. (Es geht im Folgenden also nicht darum, wie etwas ins Archiv hineinkommt, und auch nur indirekt darum, wie es im Archiv indiziert wird. Die Perspektive ist vielmehr diejenige dessen, der sieht, der Wissenschaft betreibt, der Geschichte schreibt, der im Archiv

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Ebd. Michel Foucault, Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt am Main 31988, übers. von Ulrich Köppen, insbes.: »Das historische Apriori und das Archiv«. In Bezug auf den Begriff Gewalt fragt Foucault, ob bereits die Anwendung von Codes gewaltsam zu nennen ist; vgl. Philipp Sarasin, »Gewalt als Codierung und der Code als Gewalt bei Michel Foucault«, in: Tyradellis/Wolf (Hg.), Die Szene der Gewalt, S. 45–60.

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sitzt usw., jedenfalls eine Perspektive, die durch einen bestimmten Blick das Gefundene mitproduziert.43) So ließen sich die Rolle von »Kontinuität«, »Einfluss«, von »diskursiven Einheiten« und anderen Elementen der »Archivlogiken« parallel beschreiben. Foucault wandte sich gegen alte Wissensbegriffe (und ihre Archivlogiken), die auf ›Kontinuität‹ oder ›Einfluss‹ setzten; beide lassen sich nicht in eine produktive Analogie mit Googles Archivfunktionen rücken.44 Anders die Kategorie ›Ereignis‹: Wenn man eine Suchanfrage startet, entsteht ein Dokument, das es vorher so nicht gegeben hat und das sich sofort wieder auflöst. Das wäre ein archäologisches Ereignis: Aus der Fülle (vielleicht: dem nichtlinearen Fluss) von Dokumenten sticht für einen Moment eines heraus, das entsteht und vergeht. Die traditionelle Geschichtsschreibung, so Foucault, konstruierte Serien und Einheiten zwischen den Archivelementen. Google erstellt permanent neue Serien, die allerdings grundsätzlich anderen Zusammenstellungslogiken folgen. Google erstellt Einheiten, die sofort wieder vergehen. Google verwandelt die Monumente der Vergangenheit nicht in Dokumente, sondern folgt eher dem Programm der Archäologie und erstellt eine ›immanente Beschreibung des Monuments‹.45 Und auch was Foucault über die Positivitäten geschrieben hat, macht durchaus Sinn, wenn man es als eine Aussage über ein Google-Suchergebnis verstehen will. Auch ein per Suchmaschine gefundenes Dokument ist eine Positivität, nicht unbedingt aufgrund seiner Materialität, aber als Objekt, das nicht aufgrund von Ideengeschichte und linearen Chronologien aufgefunden wurde, sondern aufgrund der Häufigkeiten seiner tags und keywords. Im Folgenden möchte ich nur den Bezug auf das »Objekt des Archivs« bzw. den Begriff des »Referentials« verfolgen.

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Foucault habe das Archiv immer noch wie eine Bibliothek gedacht; er sei »alles andere als ein Archivar« gewesen, sondern immer »ein Beobachter zweiter Ordnung und ein Eindringling im Archiv«, also ein Historiker, schreibt Stephan Günzel (»Archivtheorie zwischen Diskursarchäologie und Phänomenologie«, in: ders., Knut Ebeling [Hg.], Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 153–163, hier S. 154). Aber muss der Autor einer Archäologie ein Beobachter erster Ordnung sein und dazu archäologische Ausgrabungen machen? ›Einfluss‹ ist eine Kategorie, die höchstens da wieder auftaucht, wo soziale Netzwerke abgebildet oder Mails gescannt werden, wo Gruppen werberelevante Zielgruppen werden, aber nicht im engeren Sinne bei Googles Archivfunktion. Und die Suchmaschine unterstellt keine Kohärenzen und stiftet auch nur in entferntem Sinne solche zwischen Suchergebnissen, impliziert jedenfalls keine gegebenen Kohärenzen zwischen ihnen. Wenn jetzt eine semantische Suche bei Google integriert werden soll, könnte sich das etwas ändern, aber nicht grundsätzlich – Kohärenzen wären das Dazugekommene, nicht die Ursache des Auffindens/Zusammenstellens. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 15.

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5.2 Referentiale

Die Ergebnispräsentation einer Suche arbeitet wie die Archäologie: Es »stellt sich das Problem, ob die Einheit eines Diskurses nicht eher durch den Raum, in dem verschiedene Objekte sich profilieren und ständig sich transformieren, als durch die Permanenz oder die Besonderheit eines Objekts gebildet wird«.46 ›Wahnsinn‹ z. B. war nicht immer das gleiche Objekt, »es wäre das Spiel der Regeln, die während einer gegebenen Periode das Erscheinen von Objekten möglich machen«. Auf paradoxe Weise bestünde die Definition einer Gesamtheit von Aussagen in dem, was sie an Individuellem hat, darin, die Dispersion dieser Objekte zu beschreiben, alle Zwischenräume zu erfassen, die sie trennen, die Abstände zu messen, die zwischen ihnen bestehen – mit anderen Worten darin, ihr Verteilungsgesetz zu formulieren.47

Machen wir den Analogie-Übersetzungs-Test und prüfen, inwiefern sich die Medientechnik sinnfällig in die theoretischen Aussagen einsetzen lässt. Die Einsetzungen sind im folgenden Zitat jeweils kursiv gekennzeichnet: Eine Menge von Aussagen – die gesamte Auflistung von Suchergebnissen – nicht als die geschlossene und übervolle Totalität einer Bedeutung zu beschreiben, sondern als eine lückenhafte und zerstückelte Figur – die Liste kann aber auch als eine temporär gestiftete Einheit verstanden werden: das gehört alles zum inhom*ogenen Feld, das ein Wort aufruft –; eine Menge von Aussagen nicht in Bezug zur Innerlichkeit einer Absicht, eines Gedankens oder eines Subjekts – oder eines Begriffs – zu beschreiben, sondern gemäß der Streuung einer Äußerlichkeit – eine Äußerlichkeit, die hier im Algorithmus praktiziert wird –; eine Menge von Aussagen zu beschreiben – aufzulisten –, nicht um darin den Augenblick oder die Spur des Ursprungs wiederzufinden, sondern die spezifischen Formen einer Häufung, bedeutet gewiß nicht das Hervorbringen einer Interpretation, die Entdeckung einer Fundierung, die Freilegung von Gründungsakten. Es bedeutet auch nicht die Entscheidung über eine Rationalität oder das Durchlaufen einer Teleologie, sondern die Feststellung dessen, was ich gerne als eine Positivität bezeichnen würde.48

In einem fast zeitgleich erschienenen Text taucht an dieser Stelle außerdem noch der Begriff des Referentials auf: 46 47

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Ebd., S. 50. Ebd., S. 51. Bekannterweise heißt es dann: »All diese Aussagensysteme (Ereignisse einerseits und Dinge andererseits) schlage ich vor, Archiv zu nennen« (ebd., S. 186 f.). Ebd., S. 182. »[...] Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist...«

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Auf paradoxe Weise besteht die Definition einer Gesamtheit von Aussagen in ihrer Individualität nicht in der Individualisierung ihres Gegenstands, im Fixieren ihrer Identität, in der Beschreibung ihrer dauerhaften Merkmale; sie besteht ganz im Gegenteil darin, die Streuung dieser Objekte zu beschreiben, alle Zwischenräume zu erfassen, die sie trennen, die Abstände einzuschätzen, die zwischen ihnen bestehen – mit anderen Worten darin, ihr Verteilungsgesetz zu formulieren. Dieses System werde ich nicht als Objekt-›Bereich‹ bezeichnen (denn dieses Wort impliziert eher die Einheit, die Schließung, die enge Nachbarschaft als die Zerstreuung); ich werde ihm, etwas willkürlich, den Namen Referential geben ...49

Enger geht es kaum. Ein System von Referentialen ist ein System von Links, wenn man so will. Wenn man keinen verborgenen Sinn, nicht einen in der Tiefe zusammenhängenden Ursprung von den Archivfunden erwartet, dann kann man auch die verschiedensten Oberflächen in Anspruch nehmen, im Wissen um ihre Referentialität. Natürlich ist der Überraschungseffekt genau entgegengesetzt. Während Foucault das vermeintlich sichere Objekt der Wissenschaft auflöst, indem er es nicht nur als verstreutes denkt, sondern auch noch die Regeln der Verstreuung mit hineinrechnet,50 erscheint es widersinnig zu behaupten, die Elemente, die nach Eingabe eines Suchbegriffs bei Google zusammen auftauchen, folgten irgendeinem immanenten Zusammenhang (über die nackte Buchstabenkette hinaus oder eher: darunter). Entweder es handelt sich um synonyme Worte, also ›tatsächlich‹ zusammengehörige Links, oder aber um hom*onyme usw., dann gehören sie nicht zusammen – oder doch? Google erstellt Verknüpfungen: natürlich zwischen PageRank-Merkmalen und Webseiten/Indizes in Form der Links, aber auch zwischen den Abfrageergebnissen in Form der Liste. Beide sind Teile des Archivs. Denn, nochmals: Das Archiv ist nicht die Häufung von Objekten, auch nicht von Webseiten, und noch nicht einmal von deren Indizes. Das Archiv ist der Aussagebereich inklusive der Möglichkeitsbedingungen des archivierten Dings, Worts, Konzepts. 49

50

Michel Foucault, »Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie« [»Sur l’archéologie des sciences. Réponse au Cercle d’épistemologie«, in: Cahiers pour l’analyse, Heft 9: Généalogie des sciences, Sommer 1968, S. 9–40], in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1: 1954–1969, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, übers. von Hermann Kocyba, Frankfurt am Main 2001, S. 887–931, hier S. 907. Dies ließe sich wiederum bei Engführung quasibuchstäblich übersetzen: Das Archiv umfasst sowohl die diskursiven ›Objekte‹ als auch die Regeln, nach denen sie entstanden sind; eine »diskursive Formation« beinhaltet auch die Regeln, die sie zusammengebracht hat – das erinnert an den medienhistorischen Schritt, den das Verhältnis von Inhalt und Form getan hat (wenn man in Schritten denken will), nachdem im Buchdruckzeitalter beide auseinanderfielen. Im Computer fallen beide in gewisser Weise wieder zusammen; seit Babbage werden die Programme genauso speicherbar wie die Daten, auf der Ebene der Zahnräder/0/1-Zustände sind beide materiell identisch.

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Was bedeutet es, dass hier eine gewisse Übersetzbarkeit praktiziert werden kann? Es geht natürlich weder um seherische Fähigkeiten neuen Medien gegenüber noch um die Feststellung einer Tautologie (›so wie die Theorie funktioniert, so funktioniert die Technik‹). Wenn sich die Elemente eines Archivs, die Positivitäten, vergleichbar zu denen beschreiben lassen, die von einer Suchmaschine generiert werden, so wird zu fragen sein, was das über die Beschreibungsmodi aussagt. Foucault nimmt noch eine Einheit des Diskurses (zum jeweiligen Thema) an. Wer googelt und aus den Ergebnissen eine – wenn auch heterogene – diskursive Einheit macht, kann das nur, insofern er das nach Foucault tut; er ist vielleicht nicht wie Foucault ein glücklicher Positivist, sondern ein postironischer. Wenn das Internet eine hinreichend komplexe Basis, eine akzeptable Aussagematrix für Recherchen ist, dann gilt: Wer die Arbitrarität und die Metaphorizität von Zeichen zu deuten gelernt hat, muss nicht mehr die falschen Treffer/Worte aus der Suche aussortieren, um die echten Zusammengehörigkeiten herauszustellen, sondern kann neue Familien bestimmen, die genauso gut nominalistisch-buchstabendeterminiert wie semantisch motiviert sein können: Cluster und Familienähnlichkeiten müssen gerade nicht auf Verwandtschaft beruhen. Die Arbitrarität des Algorithmus wie die des Alphabets sagen uns, was das Archiv bei einer Suche nach ›Wahnsinn‹ etc. bereithält. Konvergenzen sind nicht etwa strukturell inhärent, sondern ergeben sich durch, horribile dictu, eine Reihenfolge, eine Rückkoppelung: Wer weiß, was Spur ist, Signifikat und Signifikant, der sieht in Google genau dies: eine von Buchstaben auf Worte auf Links gesteigerte Sinnproduktion qua Arbitrarität des PageRank und vielleicht der eigenen Kombinationslust. Grammatisch exakter: Was gefunden worden sein wird, wird ein Abbild des Diskurses gewesen sein. Agenten dieses Diskurses sind: Algorithmen, tags, user, andere Diskurse... Und das Archiv als Produkt von Objekten und Formationsregeln differenziert sich aus. Von Google an wird jede Definition einer Gesamtheit von Aussagen, die eine (unbeständige) Einheit eines Diskurses bildet, die Dispersion der zusammengestellten Objekte beschreiben, ihre willkürliche Anordnung, ihre Abstände, ihre arbiträren Verteilungsgesetze. Die Objekte des Diskurses werden in radikalisiertem Maße das Spiel von Regeln sein. Wie immer geht es um nominalistische, linguistische Regeln und ihre Zufälligkeit und Konventionalität, dann noch um die Regeln des Indexierens, wie bei jedem Printarchiv auch, und nun noch in erweitertem Maß um die erweiterten Indexe und um die Regeln des PageRank. Diese Erweiterung ist mehr als ein Appendix, weil sie eine radikalisierte Umdrehung des Ganzen bewirkt.

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6. Schluss: Auseinander-Lese Hier muss offen bleiben, inwieweit sich das eigene zeitgenössische Archiv beschreiben lässt – »da wir innerhalb seiner Regeln sprechen«, können wir unser Archiv nicht beschreiben, aber immerhin sind wir diesem nahe, wenn wir ›am Saum seiner eigenen Zeit‹ schreiben.51 Was Sloterdijk am Ende des »Weltinnenraum des Kapitals« beschreibt, schließt auch die Benutzung von Google mit ein. Das Buch als Teil der Sammlung zur Persönlichkeitsformung, die auf Erfahrung rekurriert, werde von den Neuen Medien ersetzt in einer »Entlastungswelle«. »Veräußerlichung bedeutet, daß eine leichtere Form von Subjektivität, sagen wir das postmoderne ›User-Selbst‹, die gravitätischere Form der Subjektivität, das neuzeitliche ›gebildete Selbst‹, abzulösen beginnt«.52 Das neue Verhältnis von Leser/User und Medium sei in der »Komfortzone« davon bestimmt, dass man sich vom Selbsttätigen erleichtern könne. »Wenn das historische Erfahrungssubjekt notwendigerweise ein Suchender, ja eine lebende Erfahrungs-sammelstelle war, so geben ihm jetzt die aktuellen Suchmaschinen und die neuen Speichertechniken ein Zeichen, daß es sich von seinen klassischen Belastungen erholen darf«.53 In einer merkwürdigen Bewegung, die sich für verschiedene medienhistorische Momente ähnlich hätte ausformulieren lassen, geht es Sloterdijk um ein Sammeln von Erfahrungen, das mit jedem Medienkonsum (Schrift, Print, Film, Radio usw.) hätte verabschiedet werden können – nun ist es nicht der Medienkonsum selbst, sondern sein Ort, der über die Verfasstheit des (gebildeten) Subjekts bestimmt. Denn der Raum dieses Subjekts ist auch dank Google neu. »Dank der globalen Netzwerke verwandeln sich zahllose Punkte auf der Erdoberfläche in Lese-Säle, vorausgesetzt, daß eine Lese ist, was Heidegger von ihr zeigen wollte: das Zusammentragen von Zeichen des Seins an einer Hier-Jetzt-WirWahrheitssammelstelle«.54 Keine Reise nach Italien mehr, um das Subjekt zu bilden: es kann immer und jederzeit und mobil auf alles Niedergelegte zugreifen, das als Erfahrung eines anderen ins Netz gestellt wurde. Hier markiert die Suchmaschine auch noch das Ende eines gewissen Humanismus. Un-Archiv, Un-Zeit, UnIch. Wenn es stimmt, dass Google ›den größten Rechner der Welt‹ baut oder bereits betreibt, wenn Google im »world wide computer«55 bestimmt, »what happens 51

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Foucault, Archäologie des Wissens, S. 189: »Die Analyse des Archivs umfaßt also ein privilegiertes Gebiet: gleichzeitig uns nahe, aber von unserer Aktualität abgehoben, ist es der Saum der Zeit, die unsere Gegenwart umgibt, über sie hinausläuft und auf sie in ihrer Andersartigkeit hinweist; es ist das, was uns außerhalb von uns begrenzt«. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main 2006, S. 343. Ebd., S. 345. Ebd., S. 394 f. Nicholas Carr, The Big Switch. Rewiring the World, From Edison to Google, New York, London 2008, S. 18.

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when books connect«,56 und darin »the world‘s only book« wird, »a single liquid fabric of interconnected words and ideas«,57 dann wird zu fragen sein, what happens when we connect. Ob eine convergence von Archiv, Eindruck, Ereignis und Monument passiert ist. Diese wäre temporär, ein neuer Typ von Ereignis. Das Ereignis und das Maschinelle (die kalkulierte, automatisierte Wiederholung) sind zwei verschiedene Dinge. Was sich ereignet, müsste eine nicht programmierbare Singularität behalten. Was Derrida demgegenüber für Schreibmaschine und Papier formuliert hat, trifft umso mehr für Googles Suchergebnisse zu: Man müßte nun in Zukunft (es wird jedoch nur unter dieser Bedingung eine Zukunft geben) sowohl das Ereignis als auch die Maschine als zwei kompatible, ja untrennbare Begriffe denken.58

Die neue Form eines Maschinen-Ereignisses (événement-machine) lässt sich unschwer in einer regelgeleiteten und dennoch unvorhergesehenen Google-Aktion wiederfinden.59 Ein Ereignis tritt nur ein/kommt nur herauf (advient), wenn sein Einbruch den Lauf des Möglichen unterbricht und, wie das Unmögliche selbst, jede Vorhersehbarkeit überrascht. Ein solches ereignishaftes Super-Monster wäre aber diesmal, zum erstenmal, auch von Maschinellem hervorgebracht. […] Sowohl die Maschine als auch das performative Ereignis zusammen zu denken, bleibt eine kommende Monstrosität, ein unmögliches Ereignis. Also das einzig mögliche Ereignis. Ein Ereignis, das diesmal nicht mehr ohne die Maschine einträte oder geschähe. Sondern durch sie.60 56

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Kevin Kelly, »Scan this book!«, in: New York Times Magazine, 14.5.2006, S. 42–49; zuletzt gesehen am 28.08.2010 unter http://www.nytimes.com/2006/05/14/magazine/14publishing.html?%20ex=1305259200&en=c 07443d368771bb8&ei=5090. Kelly, »Scan this book!«, o. S. Jacques Derrida, Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten (Original: Papier Machine, Paris 2001), übers. von Markus Seldaczek, Wien 2001, S. 36. Vgl. eine andere Fassung von Maschinisierung in Latours Wortschöpfung des faitiche aus fait (Fakt) und fétiche (Fetisch): les faits sont faits, die Fakten sind fabriziert, und ein faitiche unterläuft die Unterscheidungen in rationale und irrationale Objekte oder auch in Hergestelltes und Hersteller – statt »Bindungen« nach Hierarchien zu beurteilen, müsste die Frage lauten, ob es »gute oder schlechte Bindungen« seien; so wie die Sprache uns spreche oder wir die Sprache, ginge es nicht mehr darum zu entscheiden, auf welcher Seite die Aktion beginne, sondern auf das Sprechen zu achten. Bezogen auf die »Bindungen«, die eine Google-Suche anbietet, scheint das durch die Automatisierung erfüllt, denn ob die Zusammenstellung von Links »gut« ist, entscheidet der Algorithmus, der in der Opposition von Urheber/Produkt nicht aufgeht. Vgl. zuletzt: Bruno Latour, »Faktur/Fraktur. Vom Netzwerk zur Bindung«, in: Martin G. Weiß (Hg.), Bios und Zoe. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 2009, S. 359–385. Danke für den Hinweis an Armin Schäfer. Derrida, Maschinen Papier, S. 37–39.

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Die Theorie kann in Anspruch nehmen, prophetisch gewesen zu sein. Derridas Schreibmaschine hat eine neue Rekombination von iterierten gespeicherten Aussagen produziert; die Schrift beschreibt das Mögliche und das Unmögliche, und Google macht daraus eines der möglichen Super-Monster.

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Über die Autorinnen und Autoren

Ulrike Bergermann ist seit 2009 Professorin für Medienwissenschaft an der HBK Braunschweig. Vorher war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn und dem SFB »Medien und kulturelle Kommunikation« Köln. Von 2008 bis 2011 war sie im Vorstand der Gesellschaft für Medienwissenschaft, seit 2009 an Gründung und Aufbau der Zeitschrift für Medienwissenschaft beteiligt und seit 2010 Vizepräsidentin für Forschung der HBK. Veröffentlichungen: (Hg. mit Gabriele Schabacher und Isabell Otto) Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, München 2010; »Programmatische Un-Orte: Comparative Media Studies«, in: Joachim Paech, Dieter Mersch (Hg.), Programm(e) der Medien. Erstes medienwissenschaftliches DFG-Symposium, erscheint 2012; »Postkoloniale Medienwissenschaft. Mobilität und Alterität von Ab/Bildung«, in: Julia Reuter, Alexandra Karentzos (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, erscheint 2012.

Sergio Corrado ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Neapel »L’Orientale«. Forschungsschwerpunkte: Rilke und die Problematik des Dialogischen in der deutschen Lyrik der Moderne, theoretische Aspekte der Lyrik, romantische Lyrik, Heidentum und Dialektik der Modernität in Goethe und Heine, die Formen handwerklicher Praxis und die Codierung der Arbeitsethik in der zeitgenössischen deutschen Prosa (insbesondere bei Uwe Timm). Veröffentlichungen: Poesia in cerca di oggetto. L’invocazione dell’Altro nei »Gedichte an die Nacht« di Rilke, Milano 2000. »Dal dio-natura al Dio individuo: la fine del paganesimo in Heine«, in: Paolo Chiarini, Paul Hinderer (Hg.), Heinrich Heine – ein Wegbereiter der Moderne, Tübingen 2009, S. 253–282; »Ästhetik des Prekären: Uwe Timms Rom«, in: arcadia 46/2 (erscheint 2012).

Knut Ebeling ist Professor für Medientheorie/Semiotik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und Lecturer an der Stanford University Berlin und hat zahlreiche Publikationen zu zeitgenössischer Kunst, Theorie und Ästhetik verfasst. Veröffentlichungen: (Hg. mit Stefan Altekamp) Die Aktualität des Archäologischen – in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt am Main 2004; (mit Georges Didi-Huberman) Das Archiv brennt, Berlin 2007; (mit Kai Schiemenz) Stadien. Eine künstlerisch-wissenschaftliche Raumforschung, Berlin 2009; (Hg. mit Stephan Günzel) Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009; Wilde Archäologien 1. Theorien materieller Kultur von Kant bis Kittler,

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Über die Autorinnen und Autoren

Berlin 2011; Wilde Archäologien 2. Begriffe der Materialität der Zeit von Archiv bis Zerstörung, Berlin 2012.

Beate Fricke, ist Professorin für Kunstgeschichte des Mittelalters an der University of California, Berkeley; Forschungsschwerpunkte: Reliquienkult, Skulptur und Bildtheorie im Mittelalter, zu ›Kippfiguren‹ und ihrer visuellen Bedeutung im Hinblick auf Grenzen von Kultur, zu Vorstellungen von Leben und Lebendigkeit im Spätmittelalter. Veröffentlichungen: Ecce Fides. Die Statue von Conques, Götzendienst und Bildkultur im Westen, Paderborn 2007; »Schaumgeburten. Zur Topologie der creatio ex nihilo bei Albrecht Dürer und ihrer Vorgeschichte«, in: Hannah Baader, Gerhard Wolf (Hg.), Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich, Berlin 2010, S. 33–58; »Jesus Wept! On the History of Anthropophagy in Christianity. A new reading of a miniature in the Gospel book of Otto III«, in: Res. Journal of Anthropology and Aesthetics 59/60 (2011), S. 192–205.

Christian Jaser, war 2004–2007 Stipendiat am DFG-Graduiertenkolleg »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« und 2007–2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin. Seit 2011 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Projekt »Zweikampf« an der TU Dresden; Forschungs- und Gastaufenthalte in Paris, Rom und Marseille. Dissertation: Ecclesia maledicens. Rituelle und zeremonielle Exkommunikationsformen im Mittelalter (erscheint 2012).

Sabine Kalff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin und hat 2011 über die »Politische Medizin der Frühen Neuzeit« promoviert. Veröffentlichungen: »Die Schrift der Sterne – Das astropolitische Archiv der Bibliothek Morandi«, in: Anja Horstmann, Vanina Kopp (Hg.), Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven, Frankfurt am Main 2010; »The Body is a Battlefield. Conflict and Control in Seventeenth Century Physiology and Political Thought«, in: Manfred Horstmanshoff, Helen King, Claus Zittel, (Hg.), Blood, Sweat and Tears. The Changing Concepts of Physiology into Early Modern Europe (Intersections 21. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture), Leiden 2011.

Gernot Kamecke ist Romanist, Philosoph und Übersetzer und derzeit wissenschaftlicher Koordinator des Integrierten Graduiertenkollegs des DFG-Sonderforschungsbereichs »Transzendenz und Gemeinsinn« an der Technischen Universität

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Über die Autorinnen und Autoren

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Dresden. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in den Wechselverhältnissen zwischen der Philosophie und der Literatur spanischer und französischer Sprache vom 18. bis 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen: (Hg. mit Henning Teschke) Ereignis und Institution. Anknüpfungen an Alain Badiou, Tübingen 2008; (Hg. mit Bruno Klein und Jürgen Müller) Antike als Konzept. Lesarten in Kunst, Literatur und Politik, Berlin 2009; (Hg. mit Sabine Frommel) Les sciences humaines et leurs langages, Rom 2011.

Sigrid G. Köhler ist seit 2011 Dilthey Fellow am Germanistischen Institut der Universität Münster. Sie war zuvor 2002–2009 wissenschaftliche Assistentin am Germanistischen Institut der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Recht und Literatur, Materialitätsdiskurse, Diskurse des Nationalen und Postkolonialen, Literaturtheorie; Literatur um 1800, der Moderne und Gegenwartsliteratur. Veröffentlichungen: Körper mit Gesicht. Rhetorische Performanz und postkoloniale Repräsentation in der Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln 2006.

Csongor Lrincz hat 2004 im Graduiertenprogramm »Allgemeine Literaturwissenschaft« am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest promoviert, war wissenschaftlicher Mitarbeiter im NFS eikones Bildkritik an der Universität Basel (2005–2008), und ist seit 2009 Leiter des Fachgebiets Ungarische Literatur und Kultur an der HumboldtUniversität zu Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie, Ästhetik, Theorie und Geschichte der modernen Lyrik. Veröffentlichungen: (Hg. mit Ralf Simon und Nina Herres) Das lyrische Bild, München 2010; Az olvasás ismétlése. Materialitás és kultúrtechnikák az irodalmi szövegben [Wiederholungen des Lesens. Materialität und Kulturtechniken im literarischen Text], Budapest 2011.

Armin Schäfer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte der Medienkulturen an der FernUniversität in Hagen. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe »Das Leben schreiben. Medientechnologie und die Wissenschaften vom Leben (1800–1900)« an der Bauhaus-Universität Weimar, Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universität Konstanz und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin mit dem Forschungsprojekt »Narrative des Wahnsinns im großstädtischen Raum, 1900–1930«; Forschungsschwerpunkte: Lyrik, Literatur und Wissenschaftsgeschichte, Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts.

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Über die Autorinnen und Autoren

Veröffentlichungen: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln u. a. 2005; (Hg. mit Claudia Blümle) Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaft, Berlin, Zürich 2007.

Martin Jörg Schäfer ist Privatdozent für Neuere deutsche, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, Vertretungsprofessor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen. Er forscht zu Literatur und Ästhetik seit dem 17. Jahrhundert anhand von Traditionsumbrüchen und Krisendiskursen (u. a. Arbeit und Nichtarbeit, Übersetzbarkeit, Schmerz, ›Behinderung‹, Theatralität, Materialität, Gewalt/Darstellung). Veröffentlichungen: Szenischer Materialismus. Dionysische Theatralität zwischen Hölderlin und Hegel, Wien 2003; ›Schmerz‹ zum ›Mitsein‹. Zur Relektüre Celans und Heideggers durch Philippe Lacaoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, Würzburg 2003; Arbeit, Nichtarbeit, Ästhetik. Poetik einer Wechselbeziehung (erscheint 2012).

Henning Teschke hat Philosophie, Romanistik und Germanistik studiert, an der FU Berlin promoviert, an der Humboldt-Universität zu Berlin habilitiert. 2006– 2011 war er Romanistik-Dozent an der Universität Augsburg und ist seit 2011 Gastprofessor an der Universität Campinas (Brasilien). Veröffentlichungen: sub specie ludi: Französische Literatur des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1998; Proust und Benjamin – unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild, Würzburg 2000; Sprünge der Differenz – Literatur und Philosophie bei Deleuze; Berlin 2008; (Hg. mit Gernot Kamecke) Ereignis und Institution – Anknüpfungen an Alain Badiou, Tübingen 2008.

Daniel Tyradellis ist Philosoph und Kurator. Nach dem Studium der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte und der Promotion zu Phänomenologie und Mathematikgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin war er langjähriger Stipendiat und Postdoktorand im DFG-Graduiertenkolleg »Codierung von Gewalt im medialen Wandel«; Forschungsschwerpunkte: Gesetz und Liebe, Übertragung in den Wissenschaften, Ausstellungen als Ort politischer Ontologie; zahlreiche Publikationen und Lehraufträge; Kurator u. a. der Ausstellungen WUNDER (Deichtorhallen Hamburg 2011/12), ARBEIT. Sinn und Sorge (Deutsches Hygiene-Museum Dresden 2009/10), SCHMERZ (Hamburger Bahnhof/Berliner Medizinhistorisches Museum 2007), 10+5=Gott (Jüdisches Museum Berlin 2004).

Thomas Weitin ist Juniorprofessor für Neuere deutsche Literatur im europäischen Kontext an der Universität Konstanz, hat 2002 an der Humboldt-Universität zu

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Über die Autorinnen und Autoren

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Berlin promoviert und 2008 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster habilitiert. Seit 2008 leitet er das von der VolkswagenStiftung finanzierte »Schlüsselthemen«-Projekt »Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter«. Veröffentlichungen: Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, München 2009; (Hg.) Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, Bielefeld 2010); (Editor) Heinrich Jung-Stilling. Lesebuch, Bielefeld 2011.

Niels Werber bekleidet den Lehrstuhl Neuere deutsche Literaturwissenschaft I an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen. 2010 war er Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen der Integration« der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: Geopolitik der Literatur, Medien und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, Soziale Insekten. Veröffentlichungen: (Hg.) Niklas Luhmann: Schriften zu Literatur und Kunst, Frankfurt am Main 2008; Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2001; (Hg. unter Mitarbeit von Maren Lickhardt) Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen, Berlin 2011.

Burkhardt Wolf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, ebendort Habilitation 2011/2012, und war zuvor Doktorand und Postdoc in den DFG-Graduiertenkollegs »Codierung von Gewalt im medialen Wandel« (Berlin) sowie »Reiseliteratur und Kulturanthropologie« (Paderborn); Forschungsschwerpunkte: Poetologie der politischen Repräsentationen und Sozialtechnologien, Geschichte von Gefahr und Risiko, Gewalt und Religion, Kulturgeschichte des Meers und der Seefahrt. Veröffentlichungen: Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers, Berlin, Zürich 2004; (Hg. mit Karin Harrasser und Thomas Macho) Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007; (Hg. mit Elisabeth Wagner) VerWertungen von Vergangenheit, Berlin 2009.

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Abbildungsnachweise

Abb. S. 24

Die U-Bahnstation Salvator Rosa der Linie 1. Foto von Barbara Häußinger.

Abb. S. 26

Eine Krippe für das Wohnzimmer. Foto von Barbara Häußinger.

Abb. S. 29

Römische Ruinen und »moderne Architektur« im Zentrum Neapels. Foto von Barbara Häußinger.

Abb. S. 33

Ein Bild aus der Müllkrise im Juli 2011. Foto von Barbara Häußinger.

Abb. S. 93

Abbildung aus Gerhard Sachs’ Kampf um Rom (1935). Die Abbildung findet sich in: Gerhard Sachs, Kampf um Rom, Berlin 1935, S. 45.

Abb. S. 94

Abbildung aus dem Geopolitischen Geschichtsatlas (1930). Die Abbildung findet sich in: Franz Braun, A. Hillen-Ziegfeld, Geopolitischer Geschichtsatlas, Dresden 1930, S. 42.

Abb. S. 95

Auflistung landwirtschaftlicher Erträge (1934–38). Die Tabelle findet sich in: Czeslaw Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan: Dokumente, München u. a. 1994, S. 362.

Abb. S. 225 Ölgemälde der Hinrichtung Nickel Lists und einiger seiner Gesellen, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Abb. S. 228 Anfangsbild mit Schwurszene, aus: August Leibrock, Leben, Unthaten und Ende des berüchtigten Räubers Nickel-List genannt Herr von der Mosel und seiner Bande (1824). Abb. S. 319 Albrecht Dürer, Sündenfall, Kupferstich, 1504. Abb. S. 320 Lucas Cranach d. Ä., Paradiesbild, Öl auf Holz, 1530, Kunsthistorisches Museum, Wien. Abb. S. 321 Lucas Cranach d. Ä., Paradiesbild, Öl auf Lindenholz, 1536, Gemäldegalerie Dresden.

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Abbildungsnachweise

Abb. S. 325 Lucas Cranach d. Ä., Sündenfall, Öl auf Holz, 1531, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin. Abb. S. 327 Lucas Cranach d. Ä., linker Flügel des Weltgerichtsaltares, 1514– 1534, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin.

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Namenregister

Abenragel, Haly, 132 Adams, Jonathan, 68, 72 Agamben, Giorgio, 27, 104, 202, 257, 278 Agricola, Johann, 322 Aischines, 298, 302 f., 306, 308, 312 Alexander der Große, 296, 311 Alkibiades, 299, 300, 304 Ambrosius, 334, 340, 342 Anderson, Sascha, 162, 166, 178 Angenendt, Arnold, 48 Apellikon von Teos, 311 Appius Claudius Caecus, 349 Arendt, Hannah, 183, 276, 284, 288 Argoli, Andrea, 116, 125, 138 Aristomenes, 309 Aristoteles, 151, 281, 299, 310 f., 213, 335, 337 Arnold, Hermann, 233 Assmann, Aleida, 30 Assmann, Jan, 61, 142, 276, 330 f. Athenaeus, 299 Augustinus, 325, 334–337, 340–344 Avé-Lallement, Christian Benedict Friedrich, 213 Bachelard, Gaston, 269 Bachtin, Michail, 69 Badiou, Alain, 152 Bányai, János, 161, 173, 181 Barker, Sheila, 123 Barret, Sébastien, 44 Barthélemy, Dominique, 45 f. Baschet, Jérôme, 45, 47, 55 Basilius der Große, 340 Baßler, Moritz, 10, 17 f., 43, 48, 50, 53, 99 f., 102, 159 f., 187, 347 f. Beinert, Wolfgang, 46

Bell, Daniel, 188 Benjamin, Walter, 17, 38, 167, 173, 178, 180, 258, 348, 383 Bergermann, Ulrike, 192, 375 Bertolotti, Antonino, 120 Bertrand, Gottlieb, 227 Berz, Peter, 270 Binding, Günter, 44 Binswanger, Ludwig, 251 Blanchot, Maurice, 309 Bleuler, Eugen, 251 Blot, Jean-Yves, 68 Blumenberg, Hans, 82, 85, 315 Bodier, Thomas, 125 Boegehold, Alan L., 299 f., 302 Boesch Gajano, Sofia, 48 Böhme, Hartmut, 47–49 Boltanski, Luc, 184, 198 Bonaventura, 326 Bookers, John, 122 Booms, Hans, 149 Bormuth, Matthias, 250 Bourdieu, Pierre, 44 Boussard, Jacques, 46 Boutang, Yann Moulier, 376 Brahe, Tycho, 116, 120 Brandis, Carl Georg, 316, 335 Brennecke, Adolf, 315 Brin, Sergey, 379 Bröckling, Ulrich, 188, 202 Brosius, Maria, 307 Brosseder, Claudia, 116 f., 122 Buddenbrock, Wilhelm Dietrich von, 107 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de, 66 Bunz, Mercedes, 376–378 Buonaparte, Napoleon, 152, 157, 274

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Namenregister

Burke, Peter, 126, 130 Campanella, Tommaso, Urban VIII., 116 Campi, Emidio, 331 Camus, Armand-Gaston, 151–153, 155–158 Cardano, Girolamo, 119, 121 Certeau, Michel de, 52 f., 82 Chiapello, Ève, 184 Chlodwig I., König, 51 f. Chrysostomus, Johannes, 334 Cicero, 61, 274, 297 Cioran, Emil, 313 Clemens von Alexandria, 336 Cohen, Leonard, 256 Collyer, Homer Lusk und Langley, 261 Combe, Sonia, 147 Comestor, Petrus, 324 Coupland, Douglas, 186 Cranach, Hans, 317 Cranach, Lucas, 315–328, 341, 344 Cranach, Lucas d. J., 317 Cromwell, Oliver, 136 f. Curry, Patrick, 124 Curtius, Carl, 295 f., 298 f., 303, 306 f., 309, 311 Cusanus, Nikolaus, 340 d’Aniello, Tommaso, 126 Dahn, Félix, 99 Danker, Uwe, 213 f., 231 Dante Alighieri, 283 Darré, Walther, 100, 108 Darwin, Charles, 66 Daston, Lorraine, 270 Dath, Dietmar, 186 Daunou, Pierre, 157 Davies, John K., 299, 302 Debrays, Régis, 278 Debus, Allen G., 138 Deinarchos, 296

Deleuze, Gilles, 97, 184, 186–190, 193 f., 197, 202, 207, 257 Dell’Anna, Giuseppe, 131 Demosthenes, 296, 302–304, 306, 308, 312 f. Derrida, Jacques, 10 f., 23, 40, 74, 163 f., 167, 176, 180, 258, 295, 308, 311 f., 374, 377, 380–384, 390 Descartes, René, 264, 268–270 Dettmering, Peter, 261 Dobos, István, 161, 167, 174 Donzelli, Giuseppe, 137 Dooley, Brendan, 124 Dörries, Andrea, 254 Du Tillet, Johann, 145 Dupuy, Claudius, 145 Dürer, Albrecht, 318 f., 324, 344 Dydimus, 334 Ebeling, Knut, 164, 166, 199, 304 Eben Ezra, Abraham Rabbi, 337 Engstrom, Eric J., 243 f. Epikur, 335, 337–339 Erffa, Hans M. von, 328 Erluin / Erlwin, Pfalzgraf, 55 Ernst, Wolfgang, 10, 53, 143, 156, 164, 188, 191–193, 195, 308 Esch, Arnold, 154 Esterházy, Péter, 161 f., 167 f., 170 f., 173, 179 Eusebius von Emesa, 334 Favier, Jean, 158 Feigelfeld, Paul, 256 Felton, Sandra, 261 Ferdinand I., 117 Fink, Fritz von, 104 Firth, Antony, 75 Fischer, Holger, 166 Flavius, Gnaeus, 349–351 Flodoard von Reims, 48–50, 52–56, 58 f. Flusser, Vilém, 69, 205

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Namenregister

Fögen, Marie Theres, 346, 349–351 Formans, Simon, 122 Foucault, Michel, 10, 17, 44, 72, 83, 99 f., 142, 159, 165, 168, 184, 189, 202, 204, 235, 252 f., 257, 259, 309, 313, 332 f., 346 f., 372, 374, 377, 384 f., 387 f. Frank, Hans, 95 Freud, Sigmund, 10 f., 23, 81, 87, 142, 170, 257, 269–271, 274, 380 Freytag, Gustav, 96 f., 99, 101–106, 108–110 Friebe, Holm, 196 Friedländer, Max J., 318 Friedrich III., Kurfürst, 316 Friedrich, Herzog, 316 Friedrich, Peter, 226 Fritscher, Bernhard, 66 Fulda, Adam von, 318 Gaiffier, Baudouin de, 50 Galen, 131 Galilei, Galileo, 116 Galison, Peter, 270 Garcaeus, Johannes, 121 Gaurico, Luca, 121 Gattermann, Günter, 378 Geary, Patrick, 42, 46 Genette, Gérard, 84 Georgoudi, Stella, 307, 310 Gherardi, Luigi, 120 Gibbins, David, 72 Gide, André, 274 Giesen, Bernhard, 33 Giono, Joen, 274 Glockendon, Georg d. J., 326 Gogh, Vincent van, 250 Goldschmidt, Jean-Arthur, 81 Goody, Jack, 308 Gould, Richard A., 80 Grafton, Anthony, 117, 119 Grassmuck, Volker, 34

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Gregor von Nyssa, 334 Greyerz, Kaspar von, 47 f. Griesinger, Wilhelm, 238 Grimm, Hans, 91, 99 Grossmann, Maria, 316 Grotius, Hugo, 353 Groys, Boris, 71 Guattari, Félix, 97 Gugerli, David, 371 Günzel, Stephan, 304, 385 Gutenberg, Johannes, 318 Hamann, Johann Georg, 270 Hamilton-Paterson, James, 68, 84 Hamlin, Cyrus, 62 Hardenberg, Friedrich von, 295 Hardt, Matthias, 43 Hardt, Michael, 188, 193–196, 200 f. Häring, Wilhelm, 212, 215, 217, 219, 231 Harpalos, 296 Hartung, Gerald, 353 Havelock, Eric, 308 Haverkamp, Anselm, 383 Head, Randolph, 315 Heesen, Anke te, 118, 266 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 64–67, 258, 267, 275 Hegemon von Thasos, 299 Heidegger, Martin, 63 f., 72, 86, 87, 389 Heimann, Adelheid, 341 f. Heinemann, Isabel, 90 Heinrich, Klaus, 83, 279, 282 Henke, Rainer, 340 Herb, Karlfriedrich, 360 Herdendorf, Charles E., 70 Herder, Johann Gottfried, 369 Heriger, Erzbischof von Mainz, 53 Hesiod, 61 Heuss, Anja, 92 Heydrich, Reinhard, 91, 108 Hieronymus, 334 Hildebrandt, Ernst, 316, 335

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Namenregister

Himmler, Heinrich, 98 Hinkmar von Reims, 49, 53–59 Hippokrates, 131 Hitler, Adolf, 104 Hitzig, Eduard, 212, 215, 217, 219, 223, 231 Hobbes, Thomas, 345, 351–359, 363 f. Hofbauer, Michael, 318 Hoffmann, Christoph, 270 Hoffmann, Karl, 57 Hofmannsthal, Hugo von, 17 Hölderlin, Friedrich, 62–65, 86, 250, 331 Hosmann, Sigismund, 212–224, 226, 230–233 Houellebecq, Michel, 196 f., 199 Hülsen, Hans von, 227, 229 f., 232 f. Hume, David, 354 Huxley, Aldous, 202 Irenäus von Lyon, 319, 322, 335–337 Isenberg, Gerhard, 89 Jacobsen, Peter Christian, 49 Jahn, Johannes, 318 Jakob I., König von England, 122 James, Frank A. III., 331 Jaspers, Karl, 15, 235, 237, 247–251 Jirgl, Reinhard, 187, 196–198, 204, 206 Johann Friedrich, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, 315 Johann Friedrich, Kurfürst, 101, 316 Johnson, Uwe, 86–88 Kafka, Franz, 178, 291 Kamecke, Gernot, 110 Kant, Immanuel, 69, 220, 226, 267, 283, 289, 362–365, 368 f. Karl V., 117 Karl V., Kaiser, 215 Kater, Michael H., 93 Keller, Hagen, 42 Kende, Péter, 166, 168, 179

Kepler, Johannes, 115, 117, 122 f., 129 Kerrl, Hanns, 89 Kersting, Wolfgang, 346, 356, 360, 363 Kessels, Martin, 197 Kierkegaard, Søren, 274 Kirby, Torrance, 331 Kittler, Friedrich, 308, 377 Kittler, Wolf, 370 Kleinschrod, Aloys, 220 Kleist, Heinrich von, 345, 365 f., 368–370 Kolumbus, Christoph, 63, 290 Kopp, Kristin, 108 Koschorke, Albrecht, 111 Koschtial, Ulrike, 78 Koselleck, Reinhart, 146 f., 164 Köster, Heinrich, 326 Kothe, Wolfgang, 93 Kraepelin, Emil, 15, 235, 238–247, 251 Krämer, Sybille, 373 Krauthausen, Karin, 197 Krusch, Bruno, 54 Ktesiphon, 303 Kuchenbäcker, Karl, 94–97, 99 f., 102 Kuhlen, Rainer, 378 Kulcsár-Szabó, Zoltán, 180 f. Kursons, Robert, 85 Küther, Carsten, 214, 233 Kyrou, Ariel, 376 Lacan, Jacques, 256, 259 f., 264, 268–270 Lacis, Asja, 38 Landow, George, 18, 372, 377 Lang, Bernhard, 47 Lange-Eichbaum, Wilhelm, 248 Latour, Bruno, 200, 266, 271, 390 Le Goff, Jacques, 142 Leendertz, Ariane, 89 Leesch, Wolfgang, 144, 315 Leibniz, Gottfried Wilhelm, 191, 280 f., 315 Leibrock, August, 214, 227–229 Levison, Wilhelm, 54

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Namenregister

Lévy, Pierre, 190, 376 Lillys, William, 122 List, Nickel, 15, 212–214, 218 f., 221 f., 225, 227–234 Lobo, Sascha, 196 Lombardus, Petrus, 337 Lotman, Jurij, 82 Löwenherz, Richard, 145 Lucy, Andreas, 230 Ludwig XIV., 154 Ludwig XVI., 138, 151 Luhmann, Niklas, 78, 184, 351 Lusse, Jackie, 54 Luther, Martin, 17, 315 f., 322, 328–344, 346, 365–367 Lyell, Charles, 66 f., 76 Lykourgos, 295 Macho, Thomas, 383 Madajczyk, Czeslaw, 104, 108–110 Magini, Giovanni Antonio, 125, 137 Malseed, Mark, 379 Man, Paul de, 173 Mangot, Petrus, 41 Mann, Thomas, 274 Maradona, Diego Armando, 274 Marie Antoinette, 138, 151 Martel, Christoph, 63 Marx, Karl, 282, 288 Masaniello, Tommaso, 13, 126, 132–137 Maximilian I., 117 Maximilian II., 117 May, Gerhard, 336 McKitterick, Rosamond, 41–43 Melanchthon, Philipp, 316, 322 Menyhért, Anna, 161, 167, 170, 175, 181 Meyer, Jonas, 218, 222–226, 231, 234 Meyer, Konrad, 89–91, 111 Michelet, Jules, 66, 155 Middell, Matthias, 157 Millesi, Hanno, 197 Mommertz, Monika, 47, 221

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Morandi, Orazio, 115 f., 119–125,138 Morel, Geneviève, 269 Müller-Jahncke, Wolf-Dieter, 132 Müller, Christian, 217 f., 229, 232 Murphy, Cullen, 35 Nádas, Péter, 166 Nancy, Jean-Luc, 192 Nanthar, Herzog, 55 Nanz, Klaus-Peter, 350 Napiers, Richard, 122 Negri, Toni, 188, 193–196, 200 f. Nelson, Janet L., 49 Nietzsche, Friedrich, 10, 142, 259, 272, 276 Nikolaus von Lyra, 335, 337 Noll, Thomas, 324 Nonn, Ulrich, 54 North, John, 122, 137 Oestmann, Peter, 218 Origenes, 334, 336, 338 f. Orwell, George, 202 Page, Larry, 379 Pant, Christoph, 231 Parmenides, 279 Pascal, Blaise, 264, 269 f. Pastenaci, Renate, 261 Patzold, Steffen, 51 Peltzer, Ulrich, 183 f., 186–188, 192, 198, 206 f. Perikles, 273 Peucer, Caspar, 121 Pfister, Christian, 118 Philipp II. von Makedonien, 302 Philipp II., 145 Philokrates, 302 Philoponus, Johannes, 334 Philos von Alexandria, 333, 339, 341 Pinson, Yona, 328 Pithou, Pierre, 145

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Namenregister

Placido Titi, 115, 124–130, 132, 134–138 Platon, 276, 279, 283, 291, 301 Posner, Ernst, 296–301, 306, 309, 312 f., 349 Powell, Barry B., 308 Prandstetter, Joachim, 255, 260 Prokop, 334 Pufendorf, Samuel, 353, 358 Räber, Sibylle, 261 Rainer, János M., 165 f., 168 f. Rambach, Friedrich Eberhard, 229, 232 Rathje, William, 35 Ratzinger, Joseph, 47 Rawls, John, 345 Rehberg, Karl-Siegbert, 57 Reichenbach, Hans, 266 Reischl, Gerald, 379 Remigius, 51–55, 57 f. Reppesgaard, Lars, 379 Rheinberger, Hans-Jörg, 252, 259, 267– 269, 271 Röggla, Kathrin, 187, 196 f., 199, 203– 206 Röhle, Theo, 372 Rolland, Romain, 81 Roseberg, Charles E., 236 Rosenberg, Jacob, 318 Roth, Karl-Heinz, 92 Rousseau, Jean-Jacques, 358–363, 368 f. Rüsch, Claudia, 261 Sachs, Gerhard, 92 f., 95, 97, 102, 107, 109 f. Santoni, Pierre, 154 Sarasin, Philipp, 384 Saviano, Roberto, 30 f. Schaffer, Simon, 189 Schäffner, Wolfgang, 374 Schaller, Jacob, 215 Scherpe, Klaus, 141 Schiller, Friedrich, 212, 227

Schlee, Susan, 85 Schleiermacher, Friedrich, 282 Schmidt, Jochen, 63 Schmidt, Robert, 89 Schmitt, Carl, 12, 61, 105, 277, 291 Schwanke, Christian, 215, 229 Schwartze, Andreas, 218 f., 222, 225 Schwerin, Kurt Christoph von, 107 Seidenspinner, Wolfgang, 233 Seitter, Walter, 346 Semmler, Josef, 43 Sibly, Ebenezer, 138 Sibly, Manoah, 137 f. Siebenhüner, Kim, 47 f. Siegert, Bernhard, 380 Sien, Anna von, 229, 233 Simone, Roberto De, 27 Skirecki, Hans, 161, 174 Sloterdijk, Peter, 232, 279, 389 Sokrates, 276, 291, 304 Sommer, Robert, 240 Sot, Michel, 48–49, 51, 54 Spalatin, Georg, 316 Spary, Emma C., 118, 264, 266 Spinoza, Baruch de, 193 Spurr, David, 108 Stadios, Giovanni, 116 Starn, Randolph, 315 Stratmann, Martina, 48 f., 51, 55 Strindberg, August, 250 Taylor, Frederick Winslow, 188 f., 192 Temkin, Oswei, 236, 246, 251 Theophrast, 311 Thomas von Aquin, 335 Tönnies, Bernhard, 316 Tracy, Destutt de, 152 Türcke, Christoph, 277 f., 282, 284 Tyradellis, Daniel, 14, 141, 383 Unverzagt, Christian, 34

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Namenregister

Venatier, Hans, 102 Villari, Rosario, 126, 136 f. Viriville, Vallet de, 156 Virno, Paolo, 193 f., 197 Visconti, Raffaele, 116 Vise, A., David, 379 Vismann, Cornelia, 19, 164, 166, 175, 178, 295, 297, 302, 310 f., 315, 375 Vitoria, Francisco de, 290 f. Vollmann, Jochen, 254 Warnke, Martin, 375 Wayne, Martin, 325 Weber, Matthias, 239, 243 Weber, Max, 45, 51 Wefers, Sabine, 316, 335 Weinhold, Siegfried, 227, 230

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Weitin, Thomas, 141 Wenzel, Horst, 145 Werber, Niels, 353 Werner, Abraham Gottlob, 65 f. Wilkomm, Bernhard, 316, 335 Wilmanns, Karl, 247 Winkler, Hartmut, 375 Wirth, Gerhard, 44 Wolf, Burkhardt, 14, 141, 374, 383 Wolf, Christa, 99 Wundt, Wilhelm, 238 Xenophanes, 282 Zelter, Joachim, 187, 196–198, 202–206 Zimmermann, Harald, 49 f., 55

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Sachregister

Ancien Régime, 144, 152–154, 156 Arcanum, 183, 185 f., 189, 198, 201, 207, 378 Archäologie / archäologisch, 10–12, 16, 23 f., 28, 34–36, 39, 61–88, 159, 181, 205 f., 255, 297 f., 308, 310, 371–391 Arché, 16 f., 141, 160, 167, 277, 289, 381 Archeîa, 295 f., 307 Archives nationales, 144, 146, 148–150, 155, 157 Archivum ecclesiae Remensis, 48–50, 59 Aufklärung, 18, 212, 221, 280, 354, 358 Aufschreibesysteme, 143, 175, 241, 289, 296, 308 Aussageformation, 17 f., 347 Bürgerliche Ordnung, 345, 351–353, 356, 361 Chaos, 61, 88, 262, 317 Chronotopos, 67, 69 f., 79, 81–83 Citation Index, 379 Creatio ex nihilo, 275, 280, 320, 334, 336 Darwinismus, 196, 290 Deep structures, 69 f. Dekonstruktion, 274, 308, 372 Demenz, 245 f. Demos, 306 f. DFG, 89 f. Dienstleistungsgesellschaft, 188, 193, 205 Diskursanalyse, 10 f., 235, 259, 384 Dispositiv, 142, 160, 163–165, 168, 313 Disziplinargesellschaft, 11, 14, 184, 188, 202 f. Écriture automatique, 84

Entropie, 11 Erlösung, 46, 285, 287 Fallgeschichte, 14 f., 80, 213 f., 219, 231, 233, 237, 242, 247, 250 Französische Revolution, 13, 138, 150, 159 Gedächtnis, kulturelles, 10, 78, 82, 142, 160, 376 Geheimnis, 9, 136, 145, 174, 181, 206 f., 305, 307, 333, 354, 379 Genealogie, 10, 35, 259, 266, 277, 286, 297 Gesellschaftsvertrag, 18, 345–348, 351– 370 Gewalt, spirituelle, 41, 45–48, 51, 53 Gewalt, strukturelle, 9, 11 f., 80, 87, 141, 347, 368, 370 Google Books, 378 Google Toolbar, 378 Google, 18, 192, 371–380, 384 f., 387–391 Gutenberggalaxis, 382 Heilsgeschichte, 146 hom*o juridicus, 355, 357, 370 ICD, 253 f., 261 Kapitalismus, 185, 193, 198, 288, 376, 384 Kartographie, 74, 94 Klassifikation, 14, 34, 68, 85, 148, 157 f., 240, 244 f., 253 f., 257 f. Konservierung / konservatorisch, 9, 23, 28, 34, 70 f., 147, 289 Kontrollgesellschaft, 11, 13 f., 183–207, 372 Kriminalität / Kriminalisierung, 30, 38, 77, 212 f.

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Sachregister

Kulturarbeit, 12, 79–81 Kulturgeschichte, 10, 67, 70, 74, 81, 143, 149, 345, 375 Kulturtechnik, 67, 88, 301 f., 309, 313, 373 Lieu de mémoire, 70, 82, 147 Macht, 11, 141, 149, 174, 186, 189, 232, 259, 273, 304, 307 f., 347, 354, 371 f., 374 f., 384 Meer, 12, 35, 61–88, 90 f., 103, 105, 107, 203, 229, 289, 291 Messianismus, 259, 265, 271 Messie, 255–257, 260–266, 270 Metroon, 16, 295–313 MHI, 262 Mnemotechnik, 82, 142 Neurose, 254, 260, 270 New Archaeology, 69, 71 f., 79 Öffentlichkeit, 9, 15, 123, 148, 194, 211, 306 f., 349, 351, 380 PageRank, 18, 371, 374, 378 f., 387 f. Paranoia, 245 f. Peer-to-peer-Netze, 371, 378 Potestas, 9, 46, 347, 384 Psychoanalyse, 81, 256 f., 259, 269–271 Psychose, 251, 254, 260 Rechtsgefühl, 18, 368–370 Referentiale, 386–388 Schiff, 12, 16, 23, 35 f., 61–88, 103, 159, 203, 289 Schizophrenie, 15, 204, 245, 250–252 Schuld, 16 f., 79 f., 179, 275, 295 f., 299 f., 303 f., 349 Selektion, 9, 13, 71, 99 f., 103, 143, 249, 252, 265, 280, 371, 376

Souverän, 351, 355–357, 359, 362 Souveränität, 109, 277, 287, 355, 370 Speicher, 9–11, 14, 18, 28, 30, 32–34, 37, 39, 47, 74, 78, 117 f., 139, 141, 143, 160, 164, 183, 185, 188 f., 191–193, 195 f., 198 f., 201–207, 235, 253, 256, 258, 297 f., 302 f., 310, 312, 347 f., 356, 371–391 Staatsgewalt, 9, 298, 348, 364 Staatssicherheit, 161–182, 230 Statistik / statistisch, 13–15, 31, 68, 72, 86, 92–94, 100, 121, 164, 189, 237–239, 243–245, 254, 374 f., 379 Sündenfall, 278, 281, 283, 285, 288 f., 317–319, 323–326, 328, 344 Text, Heiliger, 331 Text, kultureller, 331 Theologie / theologisch, 16, 47, 224–226, 257, 274 f., 277 f., 280–282, 284 f., 289, 291, 320, 322, 325, 331, 336 Triage, 13, 92, 110, 153–158 Urkunde, 9, 12, 43, 49, 55, 74, 92, 106, 144, 146, 152, 285, 296 f., 313, 315 f., 375 Vergangenheit, 9, 11 f., 16, 23, 27, 30, 39, 65, 68, 74, 79 f., 93, 105, 147, 149, 160, 175, 178, 186, 214, 258, 268, 273, 275, 304 f., 312, 351, 357 f., 365, 372, 382, 385 Verhör, 35, 120, 218–220, 229 Virtus, 48, 50, 52, 54, 58 Wahnsinn, 240, 246, 253, 271, 386, 388 Wikipedia, 373 Wunderblock, 380 f. Yahoo, 371 YouTube, 375, 378

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Name: Sen. Ignacio Ratke

Birthday: 1999-05-27

Address: Apt. 171 8116 Bailey Via, Roberthaven, GA 58289

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Hobby: Lockpicking, LARPing, Lego building, Lapidary, Macrame, Book restoration, Bodybuilding

Introduction: My name is Sen. Ignacio Ratke, I am a adventurous, zealous, outstanding, agreeable, precious, excited, gifted person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.